Eine Rezension von Bernd Heimberger


Die Einsamkeit des Eigenständigen

Max Frisch: „Im übrigen bin ich immer allein“
Briefwechsel mit der Mutter 1933.
Herausgegeben von Walter Obschläger.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2000, 321 S.

Jeder bleibt, was er mit der Geburt wird: ein Mutter-Sohn. Was aus der Mutter-Bindung wird, wenn sie eine Mutter-Beziehung wird, das macht die Lebensgeschichten aus, die Mutter-Sohn-Geschichten sind. Die erschöpfen sich nicht in der Handvoll ständig kolportierter Mutter-Söhnchen-Varianten. Wenn „Mägi“ an Frau Frisch adressiert, Frau Frisch an „Mein liebes Mäxelein“ schreibt und das an „mein herzliebstes mutterli“, dann ist manches über die gefühlsintensive Beziehung gesagt. Lina Frisch, die Mutter, und Max Frisch, der Sohn, waren einander vertrauende Vertraute. Verletzten sie sich, so um sich der Liebe füreinander zu versichern. Das bedarf keiner weiteren Deutung. Das macht so der Mutter-Sohn Briefwechsel aus dem Jahre 1933 offensichtlich, der jetzt veröffentlicht wurde.

Das europäische Schicksalsjahr ist für die Schweizer Familie Frisch das Jahr der Trauer um den verstorbenen Mann und Vater. Ist das Jahr, in dem die Witwe das Elternhaus der Kinder kündigen muß. Ist das Jahr, in dem sich der Jüngste, Max, auf den Weg in die Welt macht. Max Frischs kleine Weltreise beginnt in Prag. Als Korrespondent der „NZZ“ („Neue Zürcher Zeitung“) berichtete er von der Eishockeyweltmeisterschaft. Nicht ohne Erfolg. Einmal Blut geleckt, eroberte sich der Reiseberichterstatter binnen eines dreiviertel Jahres das Europa des Balkans. Mutti ist immer dabei: In Max' Gedanken. Mutti ist mächtig stolz auf ihren selbständigen Jungen, denn nun ist sie die berühmte Mutter eines berühmten Sohnes. Soviel in den Postillen von der stets prekären finanziellen Situation die Rede ist, in einigen Briefen wird beeindruckend die empfindungsreiche private Bindung der beiden öffentlich. Die starke Mutter bestärkt den Sohn wie der Sohn die Mutter. Max Frisch probiert seine gerade erreichte Volljährigkeit. Der unerfahrene, aber ehrgeizige Jung-Journalist Max Frisch gibt den Max Frisch zu erkennen, der er lebenslang sein wird: der Eigenständige, Eigenverantwortliche in der Einsamkeit. „... wenn du dich durchgeschlagen hast aus eigenen Mitteln, freut dich das ja jedenfalls zeitlebens ...“, schreibt Mutti aus Zürich nach Prag, wo der Lebenspraktiker Max diese Lektion schon gelernt hat. Und nicht nur aus eigenem Erleben. Die Bewunderung des Sohnes gilt der Mutter als junge Witwe, am ersten Todestag des Vaters bekennt er: „... ich werde es dir nie vergessen, diese stunde und diese tage des standhaltens, des überwindens, des weiterlebens ...“ Der Gedenkbrief ist der persönlichste, schönste Brief des 21jährigen Max Frisch in der Sammlung der Korrespondenzen. Die bleiben, alles in allem, privat und sind nur bedingt - am ehesten im Sprachlichen - Zeitdarstellung. Eine selbständige Edition rechtfertigen die Briefe nicht. Ihre Erweiterung erfahren sie sowohl durch die Reportagen über die Eishockeywelt-meisterschaft wie durch die wesentlicheren Reisefeuilletons. Sie lassen die Leser Städte und Stätten von Prag bis Istanbul mit den Augen von Max Frisch sahen. Der hat den Schwung des Jugendlich-Begeisterten, der aber bereit ist, überall das Einzigartige zu entdecken und tatsächlich entdeckt. Der Verfasser versucht, für das zu begeistern, was ihn begeistert. Manchmal reizt der Überschwang zum überlegenen Lächeln der Nachgeborenen. Immer ist die Freude mit Frisch zu teilen, die er mitteilt. Mit jedem Text des Reisenden wird eines klarer: wie fad heute die meisten Reisefeuilletons sind, die meist keine Feuilletons mehr sind. Der frühe Frisch hat was Frisches, Unbekümmertes, Unkommerzielles, Unterhaltendes, Anschauliches. Die Ausgabe ist ein Fingerzeig, der auf die Anfänge des Autors Max Frisch weist. Wer will dem Hinweis nicht folgen? Ignoranten voran, die schon lange glauben, den ganzen Frisch zu kennen!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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