Eine Rezension von Walter Unze


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Auf einem Wächteramt

Theodor Eschenburg: Letzten Endes meine ich doch
Erinnerungen 1933-1999.
Siedler Verlag, Berlin 2000, 286 S.

Man merkt es dem Erinnerungsband an, daß er fragmentarischen Charakter trägt, daß ihm die letzte Hand fehlt. Als Theodor Eschenburg im Juli 1999 starb, hatte er seine Arbeit an diesem Buch noch nicht beendet. Der Verlag hat trotzdem das vorhandene Material für den Druck zusammengefaßt. Und er hat gut daran getan. Denn so liegt, wenn auch in unterschiedlicher Qualität, neben dem ersten Band der Erinnerungen (Also hören Sie mal zu. Geschichte und Geschichten 1904 bis 1939), der 1995 erschienen war, auch das Erinnerungsbuch für die Zeit seit den dreißiger Jahren bis zur Gegenwart vor.

Von den sieben Abschnitten des Buches behandeln jeweils zwei das Leben unter dem NS-Regime, die Anfangsjahre nach 1945 sowie die persönliche Entwicklung Eschenburgs als Politikwissenschaftler. Ein Abschnitt befaßt sich mit der Entstehung der Bundesrepublik und den Erlebnissen mit den ersten beiden Kanzlern Adenauer und Erhard.

Über die Jahre zwischen 1933 und 1945 erzählt Eschenburg unter seinem selbstgewählten Motto „Nicht auffallen und schon gar nicht provozieren“. Er berichtet sachlich über seine Arbeit als Geschäftsführer eines Kartells in der Kurzwarenbranche („Von der Politik zum Perlmuttknopf“), über seine Zeit als Mitglied der SS, über die allgemeine Anpassung an das System und faßt diese Zeit in dem Satz zusammen: „Wir alle waren Gegner des Regimes, mußten aber um unseres Berufes und des Überlebens willen unser Auskommen mit den Machthabern und ihren Funktionären suchen.“

In den ersten Jahren nach Kriegsende wirkte Eschenburg in Süddeutschland in verschiedenen politischen Funktionen, wobei im Mittelpunkt der Erinnerungen die Herausbildung des Südweststaates, des heutigen Baden-Württemberg, steht. Zunehmend rückt dann jedoch die wissenschaftliche und journalistische Arbeit ins Zentrum der Erinnerungen: Eschenburgs Lehrtätigkeit in Tübingen, seine Arbeiten für die Wochenzeitung „Die Zeit“, seine Beratertätigkeit als Politikwissenschaftler. Oft fiel ihm dabei - so resümiert er - eine Art Wächteramt zu, wenn er von den Politikern um Rat gefragt wurde oder in seinen Veröffentlichungen auf Entwicklungsprobleme der Gesellschaft aufmerksam machte.

Im Mittelpunkt des Erinnerungsbuches stehen die vielfältigen Informationen über die verschiedensten Menschen, denen Eschenburg in diesen Jahren begegnet ist. Das reicht von der charakterisierenden Anekdote bis zur gewichtigen Einschätzung, vom kleinen Detailerlebnis bis zur historischen Wertung. Und es sind nicht nur die bekannten Persönlichkeiten wie die Bundeskanzler von Adenauer bis Schmidt, sondern auch viele heute vergessene oder weniger in der Öffentlichkeit befindliche Menschen aus Politik und Wissenschaft, über die man hier Interessantes erfährt. Gerade weil die Erinnerungen an so viele interessante Persönlichkeiten den besonderen Wert des Buches ausmachen, vermißt man ein Personenregister sehr.

Eschenburg sieht die Bundesrepublik als einen föderalen, mit kommunaler Selbstverwaltung ausgestatteten Verbände-Staat, in dem es immer komplizierter und schwieriger wird, notwendigeEntscheidungen herbeizuführen. Er spricht von einer Entstaatlichung des Staates. Alle Politik sei heute mehr oder weniger gegen den Zeitgeist gerichtet. Zwar sieht er die Demokratie nicht wirklich gefährdet, aber doch massiv belastet. Und es klingt ein wenig resignierend und ganz im Sinne des jahrelang beschworenen Reformstaus in der Bundesrepublik Deutschland, wenn er seine Erinnerungen mit der Feststellung beschließt: „Es ist schon eine große Leistung, wenn es gelingt, den gegenwärtigen Zustand so gut wie möglich zu bewahren ...“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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