Eine Rezension von Horst Wagner


Verbannter, Chefdolmetscher, Politbüro-Mitglied

Werner Eberlein: Geboren am 9. November
Erinnerungen.
Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2000, 536 S.

Unter den inzwischen recht zahlreichen Memoiren von DDR-Funktionären ragen die Erinnerungen von Werner Eberlein - vier Jahre lang Mitglied des SED-Politbüros, bekannt geworden aber eher als Chefdolmetscher, als „deutsche Stimme Chruschtschows“ - aus mehreren Gründen heraus. Nicht nur, weil sie ebensoviel vergnüglich zu lesende Anekdoten enthalten wie kluge Überlegungen. Nicht nur, weil sie mit Herzblut geschrieben sind, aber doch so ganz ohne falsches Pathos. Nicht nur, weil in ihnen kritische Selbst- und Systembefragung verbunden sind mit der Zurückweisung von Wendehalsigkeit und allen Bestrebungen zur Delegitimierung der DDR. Es ist vor allem der außergewöhnliche Lebenslauf dieses Mannes, der seine Erinnerungen zu einer spannenden, hochinteressanten Lektüre macht.

Geboren wurde er am 1. Jahrestag der deutschen Novemberrevolution als Sohn von Hugo Eberlein, dem Mitbegründer der KPD und der Kommunistischen Internationale. Die Tochter von Lenins Freundin Inessa Armand wurde seine Stiefmutter. Als 14jähriger kam er mit Hilfe von Lenins Witwe Nadeshda Krupskaja nach Moskau. Dort wurde sein Vater 1937 vom NKWD verhaftet und fünf Jahre später auf Betreiben Stalins hingerichtet. Als Sohn eines „Volksfeindes“ wurde Eberlein nach der Verhaftung des Vaters von der Schule verwiesen, zu schwerer körperlicher Arbeit gezwungen und 1940 nach Sibirien verbannt. Ein Brief Wilhelm Piecks an Stalin machte es möglich, daß er 1948 nach Berlin zurückkehren konnte, wo er als Journalist beim „Neuen Deutschland“, im ZK der SED, vor allem aber viele Jahre als Russischdolmetscher für die Partei- und Staatsführung arbeitete. Als er mit 60 in Rente gehen wollte (schließlich war er ein anerkanntes Opfer des Faschismus), machte ihn Honecker zum Ersten Bezirkssekretär in Magdeburg. Er wurde Mitglied des Politbüros und in der Wendezeit noch Vorsitzender der Zentralen Parteikontrollkommission, wobei es zu seinen Aufgaben gehörte, Honecker aus der SED auszuschließen. 1990 wurde er nach einer Operation querschnittsgelähmt. „Vielleicht“, so schreibt er dazu, „hat mir nicht nur der Wille, sondern auch die Lebens- und Überlebenserfahrung aus Sibirien geholfen, als erstes auf den Rollstuhl zu verzichten und mich zu einer Gehhilfe zu steigern.“ 1996 wurde gegen ihn ein Gerichtsverfahren wegen seiner Mitgliedschaft im Politbüro eingeleitet, aber auf Grund eines ärztlichen Gutachtens wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt.

Mit Unterstützung seines Bruders, des Sportjournalisten und heutigen Leiters des SPOTLESS-Verlages Klaus Huhn, hat Werner Eberlein noch im Krankenhaus begonnen, sein Leben aufzuzeichnen. Das daraus schließlich entstandene Buch beginnt natürlich mit Erinnerungen an die Eltern, den Vater Hugo Eberlein, Mutter Anna, Stiefvater Huhn und die Stiefmutter, Hugo Eberleins zweite Frau Ina. Abenteuerlich werden die Flucht vor den Nazis nach Moskau geschildert und die ersten Erlebnisse in der russischen Hauptstadt. Aufschlußreich die Kapitel über die von Stalin eingeleiteten Verfolgungen, die Atmosphäre im Emigrantenhotel „Lux“, die Rätsel um den Tod des Vaters. Unverblümt wird die Härte des Lebens in der Verbannung geschildert, mit viel Sympathie aber auch die russischen Freunde und Lagergenossen.

Köstlich die Geschichten, die Eberlein aus seiner Dolmetscher-Zeit über Chruschtschow zu erzählen weiß, die „schillerndste Persönlichkeit, der ich in meinem Leben begegnet bin“, und auf dessen Mut und Schläue, aber auch Fehler und Versäumnisse er ausführlich zu sprechen kommt. Nachdenkenswert Eberleins Bewertung des XX. KPdSU-Parteitages und der danach vertanen Chance zu einer Reform des sozialistischen Systems. Interessant die differenzierten Charakteristiken von Grotewohl und Ulbricht, Breshnew und Honecker, deren Vertrauen er allesamt besaß und von denen er (mit Ausnahme von Breshnew) gelegentlich auch um Meinung und Rat gefragt wurde. Erstmals erhält man durch Eberlein auch nähere Einblicke in die Arbeit eines Ersten Bezirkssekretärs, wobei mir scheint, daß er mit seinem gänzlichen Mangel an Machtallüren in dieser Funktion so eine Art Ausnahmeerscheinung gewesen ist.

Natürlich ist man neugierig darauf, worin ein Mann mit solcher Lebenserfahrung die Ursachen für das Scheitern des „sozialistischen Weltsystems“ und auch der DDR sieht. Ausführlich geht Eberlein auf subjektive Ursachen ein: die Unfähigkeit Breshnews, auf Herausforderungen der Zeit zu reagieren; die Erstarrung und schließliche Sprachlosigkeit Honeckers und des ganzen SED-Politbüros; die Kommandomethoden Mittags; die Konzeptionslosigkeit von Gorbatschows „Perestroika“ und sein schließlicher „Verkauf“ der DDR an den Westen. Dabei macht sich Eberlein auch über tieferliegende, objektive Ursachen Gedanken: den Mangel an Demokratie in Partei und Staat, den Mißbrauch der Macht, die Übereilung und Einseitigkeit bei der Verstaatlichung der Produktionsmittel, die nicht zu einer wirklichen Vergesellschaftung führte. Er nennt aber auch den „ressourcenverschleißenden Rüstungswettlauf“ als „weitere und nicht letzte Ursache des Unterganges des Sozialismus“. Auf die Frage, warum er trotz eigener böser Erfahrungen das System so lange und in herausgehobener Position mitgetragen hat, weiß er auch nur die sicher nicht alle befriedigende, aber ehrlich gemeinte Antwort: aus Parteidisziplin.

Etwas aus dem Rahmen persönlicher Erinnerungen fallend, aber für den Leser nützlich als komprimiertes Nachschlagewerk über Fakten und Zitate zur heutigen Weltsituation sind die letzten sechs Kapitel des Buches. In ihnen stellt Eberlein, anknüpfend an Bücher von Galbraith und Karl Friedrich von Weizsäcker, von Meadow, Heilbronner und Hobsbawm, an Löbsacks Die letzten Jahre der Menschheit, Sieferles Epochenwechsel und andere Werke Überlegungen zu Gegenwart und Zukunft unseres Planeten an. Er kommt zum Schluß, daß der „Marktfundamentalismus“ die Probleme nicht lösen kann, daß die Alternative nur ein „Demokratischer Sozialismus“ sein kann, der aber erst einmal „eine überzeugende und motivierende Konzeption“ brauche und den er, Werner Eberlein, zwar bestimmt nicht mehr erleben, aber bis zu seinem Lebensende leben werde.

Schön im übrigen, daß es sich bei Eberleins Erinnerungen nicht nur um ein mit Gewinn zu lesendes, sondern auch gut ausgestattetes, sauber gedrucktes und reich illustriertes Buch handelt. Die zahlreichen Abbildungen reichen von Kinderfotos des Autors und einem von Lenin handschriftlich in deutscher Sprache seinem „lieben Genossen Albert“ (was der Kominternname für Hugo Eberlein war) gewidmeten Porträt über ein Bild, auf dem der lange Eberlein dem kleinen Chruschtschow als Maßstab für die angestrebte Höhe des Maises dient, bis zu einem Familienfoto des Achtzigjährigen im Kreise seiner Enkel.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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