Eine Rezension von Heinrich Buchholzer


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Ansichten eines Anwalts

Alan M. Dershowitz: Chuzpe
Autobiographie.
Aus dem Amerikanischen von Thomas Bertram.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2000, 522 S.

Erfundene Geschichten über Anwälte, vor allem über glänzende Strafverteidiger und raffinierte Wirtschaftsjuristen, sind in der US-amerikanischen Unterhaltungsliteratur gut vertreten. Nennen wir nur die Autoren David Baldacci, John Grisham, Richard North Patterson, John T. Lescroart. Nimmt man die Kino- und Fernsehfilme hinzu, ist dieser Berufsstand überrepräsentiert, ähnlich wie in vergleichbaren deutschen Medien schon seit Jahrzehnten die Ärzteschaft. Hier nun haben wir keine erfundenen Figuren, sondern einen leibhaftigen Staranwalt, Strafverteidiger und Rechtslehrer an einer der renommiertesten juristischen Fakultäten der USA, der Harvard Law School.

Dershowitz ist ein berühmter, in seinem Fach brillanter und erfolgreicher Mann, umstritten wegen seiner Einmischung in die öffentlichen Angelegenheiten der USA wie auch anderer Staaten. Er ist ein Nonkonformist, dessen Grundhaltung im Eintreten für die Menschenrechte international sowie für die Bürgerrechte in seinem Land kulminiert. Und für sein Judentum, das er vor sich her trägt wie ein Thora. Er sagt von sich: Ich bin stolzer und anmaßender Jude und stolzer und anmaßender Amerikaner. Genau in dieser Reihenfolge. Er verurteilt den Antisemitismus, kämpft gegen ihn, nennt ihn eine seelische Krankheit, die man durch Untersuchung derjenigen diagnostizieren müsse, die mit ihr infiziert sind.

Von all dem handelt dieses Buch. Wer es gelesen hat, wird verstehen, warum Dershowitz sich zu seinem Judentum so bekennt, daß man sich fragen kann, ob er ein Eiferer sei. Allerdings kein religiöser, sondern eigentlich ein weltlicher, der sich zu religiöser Tradition bekennt. Man wird verstehen, daß er ein Eiferer sein will und sein muß, durchaus auch im Sinne des Buchtitels.

Chuzpe ist ein jiddisches Wort mit einer doppelten Bedeutung, fast wie zum Aussuchen. Für denjenigen, der sie hat, bedeutet Chuzpe Kühnheit und Entschiedenheit, die Bereitschaft, sein gutes Recht zu fordern und dafür Autorität herauszustellen. Für einen Betroffenen, der einem Menschen mit Chuzpe begegnet und ihm unterlegen ist, vielleicht sein Opfer wird, handelt es sich um Unverschämtheit, Arroganz. So erklärt es der Autor. Vielleicht darf man als vereinfachte Übersetzung hinzufügen: Wer frech ist und damit Erfolg hat, besitzt Chuzpe. Das gilt im guten wie im bösen. Dershowitz wird kaum abstreiten wollen, daß er ganz schön frech ist, wie der Berliner sagt, und damit für seine gute Sache Erfolg hat. Er streitet ohne Ansehen der Person, und ein gut Teil davon, in dem Buch sogar ein großer Teil, betrifft die gleichberechtigte Stellung der Juden in der amerikanischen Gesellschaft. Wir brauchen nicht still zu sein ist sein ermunterndes und selbstbewußtes Credo.

Dieses Buch ist keine Autobiographie im engeren Sinne. Es hat autobiographische Züge, ist eigentlich ein Buch mit den Ansichten eines Anwalts. Sie sind dargelegt in zehn Kapiteln, darunter so brisante Themen wie Auschwitz, Israel, Besuch in der Sowjetunion, über Juden in einem christlichen Amerika und über die jüdische Frage im 21. Jahrhundert, dies als Nachwort zur deutschen Ausgabe.

Gewiß, Familiengeschichte und Vita des Alan Dershowitz, Amerikaner in vierter Generation, werden halbwegs dargelegt. Aber bei jeder Gelegenheit macht der Autor einen Sidestep, kommt vom Urgroßvater Zecharia, 1888 aus Galizien eingewandert, auf die Lage der jüdischen Immigranten zu sprechen, die dem Holocaust entrinnen konnten. Und von der Rechtsfakultät Harvard - „die am wenigsten jüdische Institution, die ich mir vorstellen konnte“ - macht er einen Exkurs wider jene Mitbürger, die ihr Judentum hinter einer anglophilen Fassade zu verbergen suchen.

Das Buch bietet ein faszinierendes Panorama aus internationaler Geschichtsbetrachtung, amerikanischer Gegenwartskunde und Suche nach jüdischer Identität. Der Anwalt ist als Verteidiger in vielen spektakulären Rechtsfällen berühmt geworden, von denen leider nur sehr wenig die Rede ist, als Strafverteidiger des Jonathan Pollard, der als Amerikaner in den USA für Israel spionierte, des Sowjetbürgers Anatol Scharanski, des Footballstars O. J. Simpson und des Profiboxers Mike Tyson, des Deutschen Claus von Bülow und vieler anderer, Prominenter wie Namenloser, denen er auch ohne Honorar half. Hier hat der Anwalt sich Zurückhaltung auferlegt, was sonst nicht seine Art ist, vielleicht wollte er seine Chuzpe auf solche Art nicht beweisen oder den Rahmen des Buches nicht sprengen.

Die Ansichten des Alan Dershowitz werden auch in Deutschland manchen Widerspruch herausfordern. Er tritt, wie man so sagt, bewußt in Fettnäpfchen. Sei es, daß er Martin Luther in vielerlei Hinsicht als geistigen Vorläufer Adolf Hitlers einordnet, sei es, daß er gegen den Altbundespräsidenten Richard von Weizsäcker polemisiert (anläßlich dessen Ehrenpromotion in Harvard 1987). Dieser habe seinem Vater, Hitlers Staatssekretär Ernst Freiherr von Weizsäcker, geholfen, bei den Nürnberger Prozessen eine Verteidigung aufzubauen, die auf einem Meineid basierte, und leugne weiterhin, daß sein Vater vom Holocaust wußte. Der Autor ist sich hier wie im gesamten Buch der Beweise für seine Behauptungen sicher. Er ist stets maßvoll im Ton, aber kompromißlos in der Sache, die er - nun ja: mit Chuzpe vertritt.

Der Leser wird, wie bei jedem Buch dieser Art, selbst zu entscheiden haben, ob er diese oder jene Ansicht des Anwalts teilt oder sie als überzogen ansehen möchte, wenn auch aus der Sicht der Opfer des Holocaust begreiflich, dieses von Deutschland und von Deutschen verübten Völkermords. Das eine wie das andere steht dem Leser ebenso frei, wie es dem Autor gestattet sein muß, sich beispielsweise als verspäteten Anhänger des Morgenthau-Plans zu bekennen, der darauf abzielte, Deutschland nach 1945 in einen unbedeutenden Agrarstaat zu verwandeln. Der Wiederaufbau Nachkriegsdeutschlands zu einer der wohlhabendsten Nationen der Welt, betont Dershowitz, sei eine moralische Schande, und er schlußfolgert:

„In einer Hinsicht markiert der Erfolg Nachkriegsdeutschlands die verspätete Verwirklichung der beiden Kriegsziele, die Hitler verfolgte, als er den Zweiten Weltkrieg entfesselte: die Zerstörung des europäischen Judentums, die er vor seinem Tod erreichte; und den deutschen Wiederaufstieg zur mächtigsten Nation Europas, der inzwischen mit Hilfe der Vereinigten Staaten und der anderen siegreichen Überlebenden des Zweiten Weltkriegs erreicht worden ist.“

Er fügt hinzu, die Antwort der Welt auf die Nazi-Gräuel sei derart unangemessen gewesen, daß eine Wiederholung - vielleicht in anderer Gestalt - nicht gänzlich ausgeschlossen werden könne.

Eine zentrale Botschaft dieses Buches lautet, die jüdischen Amerikaner sollten die Furcht vergangener Generationen ablegen, vor den Augen ihrer „Gastgeber“ zu versagen. Vielmehr müsse Chuzpe das Schlagwort der nächsten Generation sein, nämlich ein entschiedenes Beharren auf dem gleichen Status unter Gleichen. Dershowitz wollte nach seinen Worten ein Buch schreiben, das seine Reise als Jude dokumentiert. Er bietet neben einer Selbstverständigung unter jüdischen Amerikanern eine bewegende Reise zu den Überlebenden des Holocaust. Es lohnt, diesen geschliffenen Diskussionsstoff zu lesen und dabei die eigene Kenntnis, die eigene Sicht zu überprüfen, zu ergänzen oder - vielleicht nach anfänglichem Stutzen - auf originelle Weise bestätigt zu finden. Dershowitz gräbt tief und mit scharfem Spaten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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