Eine Rezension von Friedrich Schimmel


cover

Für gebildete Leser

Dieter Borchmeyer: Goethe
Der Zeitbürger.
Carl Hanser, München 1999, 400 S.

Längst gibt es mehr Bücher über Goethe als von Goethe. Das ist das Schicksal der Klassiker. Sie sind intellektuell ausbeutbar. Und das scheinbar grenzenlos, womöglich noch für Jahrhunderte. Die Schar der Leser solcher Bücher, Sekundärliteratur genannt, mag von Buch zu Buch schrumpfen, aber was sollen sie denn tun, die Professoren für Germanistik? Sie müssen schreiben, beweisen, daß sie am Leben sind, während ihr Autor und Gegenstand längst tot ist. Nicht wirklich tot, da leben noch, da wimmeln noch die Themen. Goethe, Goethe, Goethe. Diesmal als Zeitbürger. Bürger der Zeit, auch möglich. Dieter Borchmeyer versucht einiges. Er sieht ein paar blinde Scheiben im Mosaik der Goethe-Forschung, so zum Beispiel den Mythos vom unpolitischen Goethe. Seine tagespolitische Arbeit am Hof in Weimar war freilich keine große, womöglich europäische Politik. Goethes „Zeitbürgerschaft“, die der Autor hier verfolgt, ist das Eingebundensein des Dichters in seine Zeit. Es verwundert aber doch ein bißchen, daß Porchmeyer dies zuallererst aus dem Werk und nicht aus dem Leben Goethes zu erklären versucht. Und es erstaunt, daß, wenn von der Erotik in Goethes Werk gesprochen wird, Frau Christiane überhaupt nicht, Frau von Stein nur beiläufig, andere Frauen gar nicht erwähnt werden. Literatur als Erlebnis, das ist etwas, das Borchmeyer nicht kennt. Und so schaukelt die Darstellung, durchaus profunde Kenntnisse vorweisend, auf den Wellen germanistischer Erwägung und Deutung. Werther wird als ein Dilettant gesehen, dessen Herz nur durch Lektüre erglüht. Goethe als ein „durchaus unzeitgemäßer Zeitbürger“ betrachtet. Der Autor plädiert, was die Goethe-Literatur angeht, für „Produktives Vergessen“ (?) und empfiehlt dem Leser seines Buches „einen Goethe von innen“. In erster Linie sei dieses Buch, in dem auch vom „Gegenlicht“ die Rede ist, für den „gebildeten Leser“ gedacht. Das spürt man auch sofort, denn jedem Kapitel ist ein zumeist ausführliches Zitat von Thomas Mann vorangestellt. Allesamt stammen diese Zitate, wie könnte es auch anders sein, aus dem Roman Lotte in Weimar. Dieter Borchmeyer weiß ganz genau, daß es Thomas Mann war, der seine Romane mit Werken Goethes verglichen hat. Das Kapitel „Die Französische Revolution im Blickwandel Goethes“ ist überschrieben: „Betrachtungen keines Unpolitischen“. Gedanken- und Wortspiele, die im Text leider selten sind. Ob der Bund Goethe-Schiller eine „Allianz“ genannt werden kann, bleibt doch fraglich. Und Fragen wie „Ist die Klassik prüde?“ sollte man nun nicht mehr stellen. Das ist längst bekannt. Ein Verdienst Borchmeyers ist der Versuch, Goethes musikalische Kompetenz neu zu durchleuchten. Den Werther nennt er einen „erlesenen Helden“ im doppelten Wortsinn, und das Publikum des 18. Jahrhunderts las ihn, „wie Werther selber las“. Eine einsträngige Rezeption gibt es aber nicht, zu keiner Zeit. und daß eine Figur wie Goethes Werther gar aus seiner Zeit heraustreten, in einer anderen sogar als Figur wieder auftauchen kann, scheint Dieter Borchmeyer unbekannt zu sein. Ich erinnere an Plenzdorfs Wibeau-Figur in den „Neuen Leiden des jungen W.“. Jeder Leser ist ein Leser seiner Zeit, ein Autor, und vor allem Goethe, ist daran nicht gefesselt.

Weit wird der Bogen der Interpretation hier gespannt. Das Schlußkapitel versucht sogar einen Vergleich zwischen Goethes „Faust“ und Wagners „Ring des Nibelungen“. Stoff zum Nachdenken für zukünftige Interpreten. Der „gebildete Leser“, der in dieses Buch seine Nase hineinstecken soll, mag Wonnen der intellektuellen Erquicklichkeit erfahren. Er wird aber auch über Satzungetüme stolpern, die ihn ratlos machen. Eines geht so: „Wer es auf den Spuren von Marx oder Freud als Ausdruck bürgerlicher Misere oder selbstverkrüppelnder Triebunterdrückung decouvriert, kann jedenfalls nicht darauf rekurrieren, daß die ,Wanderjahre´ auf Grund ihrer desintegrativen Form vom immanenten Widerruf gegen ihre eigenen Weisheiten leben.“

Es gibt eine akademische Betriebsamkeit, die sich lähmt. Es kann da auch der gebildete Leser nicht mehr mithalten, denn dessen freie Valenzen (wie der Chemiker sagen würde) fühlen sich mitunter von Dieter Borchmeyers Stil-Eskapaden genarrt. „Sublim hat Goethe“ einen „Sinnumschlag vorbereitet“, oder es wird „die Portraitierung moderner Subjektivität in ihren empfindsam-dilettantischen Ausprägungen und Katastrophen durch Goethes Werk vom ,Götz´ bis zu den ,Wahlverwandtschaften´ als Beispiel kritischer Zeitbürgerschaft Goethes verfolgt“.

Trotz dieser Einwände, die den geneigten Leser eher abschrecken als ermuntern, bietet Borchmeyers Buch Anregungen und akzeptable Analysen genug. Momente, Bilder und Vergleiche, auch gewagte, die die Lektüre Goethes neu beleben können. Denn es ist schon zutreffend, was hier in dieser Arbeit näherer Betrachtung unterzogen wird. Goethes Bild des Menschen in seiner Zeit ist mehr als ein Spiegelbild seiner selbst. Mit Dieter Borchmeyers Worten: „Sein großes Thema ist die Individualitätskrise angesichts der Herausbildung des modern-abstrakten Verwaltungsstaates.“ Und das trifft nicht nur für den „Götz von Berlichingen“ zu. Das ist eins der Hauptthemen Goethes überhaupt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite