Wiedergelesen von Eberhard Fromm


Thomas Mann: Herr und Hund
1919

Die deutschsprachigen Literaturnobelpreisträger (6)

Mit Thomas Mann erhält der letzte deutschsprachige Autor vor dem Zweiten Weltkrieg einen Literaturnobelpreis. Seit der Auszeichnung des Schweizer Dichters Carl Spitteler waren zehn Jahre vergangen, die Ehrung von Gerhart Hauptmann lag gar schon siebzehn Jahre zurück. Und auch Thomas Mann war keineswegs unumstritten. Als er 1924 erstmals in die engere Wahl gezogen wurde, konnten sich die schwedischen Komiteemitglieder nicht einigen, welchen Wert sie den „Buddenbrooks“ beimessen sollten. Diskussionen im Komitee um den Preisträger des Jahres 1928 - mit drei zu zwei Stimmen fiel die Wahl auf die norwegische Schriftstellerin Sigrid Undset (1882-1949) gegen Maxim Gorki (1868-1936), der seit 1918 bereits mehrfach auf der Kandidatenliste gestanden hatte - belegte, daß es offensichtlich recht unterschiedliche inhaltliche, vor allem auch ästhetische Gesichtspunkte gab.

Das fiel auch ins Auge, als 1929 Thomas Mann mit dem Nobelpreis hauptsächlich für seinen 1901 erschienenen Roman Die Buddenbrooks ausgezeichnet wurde, in der Begründung jedoch sein jüngster Roman Der Zauberberg aus dem Jahre 1924 mit keinem Wort erwähnt wurde. Aus dieser Haltung zu Thomas Mann sowie der Ablehnung solcher Dichter wie zum Beispiel Hugo von Hofmannsthal oder Paul Valéry schlußfolgert Kjell Espmark in seiner Untersuchung Der Nobelpreis für Literatur (1988), „daß die Bewertungen in keiner Weise mit den vitalen Bestrebungen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts übereinstimmen. Die Akademie bietet in den Jahren um 1930 das Bild eines Kreises hochbegabter und gebildeter Personen, die kein Instrumentarium für das besitzen, was wir von unserem hinterher klügeren Standpunkt aus als die entscheidenden Leistungen in der Literatur der Epoche erkennen.“

Tatsächlich bleibt es sonst auch unverständlich, wie man bei der Würdigung von Thomas Mann im Jahre 1929 an seinem „Zauberberg“ vorbeigehen konnte, diesem großen Roman, den Thomas Mann selbst als „Versuch einer Bestandsaufname der europäischen Problematik nach der Jahrhundertwende“ verstanden wissen wollte. Nicht nur in der späteren literaturwissenschaftlichen Wertung, sondern auch in der zeitgenössischen Meinung bildete dieses Werk im Schaffen Manns einen Höhepunkt. So schrieb Gerhart Hauptmann bereits 1925 - in der „Vossischen Zeitung“ vom 5. Juni -, daß solche hohen Eigenschaften des Romanciers wie der scharfe, gewissenhafte, sowohl trennende wie einigende Blick, die gleiche Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit beim Mitteilen des Gesehenen „erst mit dem ,Zauberberg´ zur Reife gelangt“ seien. „Von den ,Buddenbrooks´bis zum ,Zauberberg´, welch ein Weg! Wie schlicht, eigensinnig und unbeirrt ist der Aufstieg verwirklicht!“

Thomas Mann war also bereits ein anerkannter und weltweit bekannter Schriftsteller, als ihm der Nobelpreis verliehen wurde. Der am 6. Juni 1875 in Lübeck geborene Thomas hatte sich nach dem Tod des Vaters in München in verschiedenen Tätigkeiten versucht: als Volontär einer Feuerversicherung, als Student, als Redakteur beim „Simplicissimus“. Schon früh war sein Interesse am Schreiben erwacht; schließlich war auch der ältere Bruder Heinrich (1871-1950) ein Schriftsteller. Mit der Geschichte der Familie Buddenbrook gelang dann der Durchbruch. In dem im Juni 2000 wiedereröffneten Buddenbrookhaus in Lübeck kann man diese Etappe im Leben von Thomas Mann sehr anschaulich nachvollziehen. 1905 heiratete er Katja Pringsheim. Von seinen drei Töchtern und drei Söhnen wurden vor allem Klaus Mann als Schriftsteller und Golo Mann als Historiker bekannt.

Thomas Mann hat sich selbst einmal so charakterisiert: „Ich bin ein Mensch des Gleichgewichts. Ich lehne mich instinktiv nach links, wenn der Kahn rechts zu kentern droht - und umgekehrt.“ Diese Haltung wurde vor allem um den Ersten Weltkrieg und in den nachfolgenden Jahren der Weimarer Republik deutlich. Er gehörte zu jenen deutschen Intellektuellen, die den Ersten Weltkrieg begrüßten, die Kriegführung der Deutschen gegen alle Kritik verteidigten und die westlichen Demokratien als Vorbild für Deutschland ablehnten. Seine Arbeiten zwischen 1914 und 1918 wie Gedanken im Kriege, Friedrich und die große Koalition, vor allem aber die Betrachtungen eines Unpolitischen belegen diese damalige Position.

Es zählt jedoch zu den großen Stärken von Thomas Mann, daß er in der geistigen Auseinandersetzung der Weimarer Republik zu neuen Positionen gelangte, auch und gerade in kritischer Sichtung seiner bisherigen konservativ-antidemokratischen Haltung. „Dienst am Leben aber, zu dem wir Deutschen immer wahrhaft bereit waren, ist heute Dienst an der Demokratie, ohne die Europa des Todes ist“, schrieb er 1925 in dem Artikel „Deutschland und die Demokratie“. Er warnte nachdrücklich vor den Gefahren der faschistischen Gefahr und ließ sich auch nicht durch Denunziationen seiner Gegner oder Vorwürfe ehemaliger Freunde beirren, die ihm Verrat an bisherigen Idealen vorwarfen. So hieß es zum Beispiel in einem von Richard Strauss, Hans Pfitzner u. a. unterzeichneten „Protest der Richard-Wagner-Stadt München“ vom April 1933, daß man sich gegen den Snobismus der Wagnerreden von Thomas Mann verwahre, eines Mannes, „der das Unglück erlitten hat, seine frühere nationale Gesinnung bei der Errichtung der Republik einzubüßen und mit einer kosmopolitisch-demokratischen Auffassung zu vertauschen ...“

Thomas Mann ging 1933 ins Schweizer Exil, 1936 wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt, seit 1938 lebte er in den USA. In seinem öffentlichen Auftreten und in seinen Werken wandte er sich scharf gegen die Nazidiktatur. In dem 1947 erschienenen Roman Doktor Faustus heißt es bekenntnishaft: „Es ist aus mit Deutschland, wird aus mit ihm sein, ein unnennbarer Zusammenbruch, ökonomisch, politisch, moralisch und geistig, kurz, allumfassend, zeichnet sich ab ... Nein, ich will's nicht gewünscht haben - und hab es doch wünschen müssen - und weiß auch, daß ich's gewünscht habe, es heute wünsche und es begrüßen werde: aus Haß auf die frevlerische Vernunftverachtung, die sündhafte Renitenz gegen die Wahrheit, den ordinär schwelgerischen Kult eines Hintertreppenmythos, die sträfliche Verwechslung des Heruntergekommenen mit dem, was es einmal war, den schmierenhaften Mißbrauch und elenden Ausverkauf des Alt- und Echten, des Treulich-Traulichen, des Ur-deutschen, woraus Laffen und Lügner uns einen sinnberaubenden Giftfusel bereitet. Der Riesenrausch, den wir immer Rauschlüsternen uns daran tranken, und in dem wir durch Jahre trügerischen Hoch-Lebens ein Übermaß des Schmählichen verübten - er muß bezahlt sein.“

Thomas Mann hat im Exil neben dem Doktor Faustus solche großen Romane wie Lotte in Weimar und Joseph und seine Brüder geschrieben. 1947 unternahm er seine erste Europareise nach dem Zweiten Weltkrieg. Und 1952 übersiedelte er aus Kalifornien in die Schweiz, wo er am 12. August 1955 in Zürich starb.

In diesen Nachkriegsjahren setzte sich Thomas Mann für die geistige Bewältigung der jüngsten deutschen Vergangenheit ein, warb für den Wiedergewinn des humanistischen Gedankenguts und schrieb mit Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull eine treffsichere ironische Gesellschaftsbetrachtung. Überhaupt ist die Ironie für ihn mehr als ein Stilmittel und durchzieht alle seine Werke. Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer hat in seiner 1950 erschienenen Untersuchung zu Werk und Entwicklung von Thomas Mann diese Ironie im Schaffen des Schriftstellers immer wieder betont und zugleich hervorgehoben, daß sein durchgängiges Lebensmotiv das Verhältnis von Bürger und Künstler gewesen sei, wobei diese Beziehung stets untrennbar mit dem Schicksal Deutschlands verbunden worden ist.

Das zeigt sich gerade auch in den letzten Lebensjahren von Thomas Mann. Herausragend in dieser Zeit seine kritische Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche (Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrungen, 1947) oder auch die großen öffentlichen Auftritte in Frankfurt am Main und Weimar zum Goethejubiläum 1949. Hier vollendete sich eine geistige Entwicklung, die sich bereits in der Weimarer Republik andeutete und die in der Zeit der Emigration entscheidende Impulse erhielt: Thomas Mann bewegte sich in kritischer Auseinandersetzung von seinen geistigen Quellen Arthur Schopenhauer, Richard Wagner und Friedrich Nietzsche weg zu Johann Wolfgang von Goethe hin.

Bei seinen letzten öffentlichen Auftritten in Stuttgart und Weimar zum Schillerjubiläum 1955 warnte er, daß „eine von Verdummung trunkene, verwahrloste Menschheit unterm Ausschreien technischer und sportlicher Sensationsrekorde ihrem schon gar nicht mehr ungewollten Untergange entgegen“ gehe. Und er verband diese Warnung mit der entschiedenen Forderung nach Humanität, denn, so die Mahnung, „ohne daß die Menschheit als Ganzes sich auf sich selbst, auf ihre Ehre, das Geheimnis ihrer Würde besinnt, ist sie nicht moralisch nur, nein, physisch verloren“.

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Jeder, der sich ein wenig mit Thomas Mann beschäftigt hat, weiß, daß er nicht nur der große Romancier, sondern auch ein Meister der kleinen Form ist. Einige seiner Novellen und Erzählungen wie Der Tod in Venedig oder Mario und der Zauberer stehen in ihrem Bekanntheitsgrad seinen Romanen kaum nach. Dieser Teil seines Schaffens zerfällt in zwei deut-liche Zeitetappen: Die Mehrzahl der Novellen gehört der frühen Schaffensperiode bis 1914 an. In den Jahren zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Tod von Mann erschienen nur noch sechs Erzählungen bzw. Novellen: Unordnung und frühes Leid (1926), Mario und der Zauberer (1930), Indische Legende (1940), Das Gesetz (1944) und Die Betrogene (1953)

Das erste dieser kurzen Prosawerke aber stammt aus dem Jahre 1919. Es ist Herr und Hund.

Zum erstenmal habe ich diese von Thomas Mann als Novelle gekennzeichnete Geschichte vor vierzig Jahren gelesen; es war eine Einzelausgabe als Band 32 in Bertelsmanns Kleiner Lesering-Bibliothek. Die persönliche Art, in der der Schriftsteller hier von seinem privaten Leben mit seinem Hund erzählt, hatte mich berührt. Und hätte mich damals jemand nach meinem Eindruck gefragt, ich glaube, ich hätte geantwortet: „Thomas Mann benutzt den Hund als Vorwand, um von sich zu erzählen.“

Doch dieser Eindruck, das sehe ich heute, war falsch. Zu meiner Entschuldigung muß ich anführen, daß ich vor vierzig Jahren noch keine eigenen Erfahrungen mit Hunden hatte. Manns Hund Bauschan war für mich eine literarische Schöpfung. Ganz anders heute: Bauschan ist die Personifikation des Hundes, den man selbst hat oder zumindest genau kennt.

Und doch ist es keine Hundegeschichte wie etwa Krambambuli von Marie von Ebner-Eschenbach. Nur knapp und andeutungsweise wird Bauschans früheres Leben skizziert. Und wie es mit ihm weitergeht, läßt der Autor offen. Es geht also nicht um ein Hundeschicksal, um eine Geschichte, in der ein Hund die Hauptperson darstellt. Hier steht eine Beziehung im Mittelpunkt, die sehr genau mit dem Titel erfaßt ist: um die Beziehung von Herr und Hund.

Es sind nach einem kurzen Einstieg vier Abschnitte, in denen Mann sein Verhältnis zu seinem Hund - und das Verhältnis des Hundes zu ihm - schildert. „Wie wir Bauschan gewannen“ erzählt von der ersten Begegnung mit dem Hund, der nur ein „Skelettchen“ war, „ein Brustgitter nebst Wirbelsäule, mit ruppigem Fell überzogen und vierfach gestelzt“. Der sofortigen Sympathie bei Familie Mann stand eine längere Zeit anhaltende Distanz bei Bauschan einschließlich der fast obligatorischen Flucht des Hundes gegenüber.

„Einige Nachrichten über Bauschans Lebensweise und Charakter“ enthält eine Fülle von Beobachtungen, die in ihrer Genauigkeit ebenso überraschen wie in ihrer Verallgemeinerungswürdigkeit. Jeder Hundefreund findet hier seine eigenen Erfahrungen bestätigt: was Verhaltensweisen zwischen Herr und Hund betrifft, was die Lernfähigkeit - von Hund und Herr! - angeht, was die Gefühle ausmacht, die man bei seinem Tier und bei sich selbst beobachtet. Wenn Thomas Mann zum Beispiel die tiefe Enttäuschung des Hundes beschreibt, der erkennen muß, daß es keinen Spaziergang gibt - da stimmt jede Nuance im äußeren Verhalten des Hundes und gestattet zugleich den Blick in den emotionalen Zustand beider: des enttäuschten Hundes und des diese Enttäuschung nach- und mitempfindenden Herrn.

„Das Revier“ ist eine der schönsten und intensivsten Naturbeschreibungen, die ich von Thomas Mann kenne. Eigentlich geht es ja nur darum, dem Leser deutlich zu machen, auf welchem Terrain der Spaziergang von Herr und Hund stattfindet. Doch daraus wird die Schilderung eines „Zaubergartens“. Dabei handelt es sich keineswegs um unberührte Natur, sondern um eine eigentlich typische Stadtrandlandschaft einschließlich der Spuren vergangener Bautätigkeit und Bauplanung. Und doch hat man das Gefühl, Herr und Hund wandern da durch eine nur ihnen gehörende, wie für sie geschaffene Landschaft. Der Autor stellt denn auch fest: „Sie gefällt mir gut in der Beschreibung, aber als Natur gefällt sie mir noch besser. Sie ist immerhin genauer und vielfältiger in dieser Sphäre, wie ja auch Bauschan selbst in Wirklichkeit wärmer, lebendiger und lustiger ist als sein magisches Spiegelbild. Ich bin der Landschaft anhänglich und dankbar, darum habe ich sie beschrieben. Sie ist mein Park und meine Einsamkeit; meine Gedanken und Träume sind mit ihren Bildern vermischt und verwachsen wie das Laub ihrer Schlingpflanzen mit dem ihrer Bäume.“

Den geradezu dramatischen Höhepunkt in der sonst so ruhig erzählten Geschichte bildet das abschließende Kapitel „Die Jagd“. Hier wird Bauschan in voller Aktion gezeigt. Natürlich hat er bis auf die eine oder andere Maus keinen Erfolg. Aber das Spüren und Auftreiben, das Rennen und Verfolgen - darin besteht der „hochherzige Selbstzweck“: „Alles Edle, Echte und Beste in Bauschan wird nach außen getrieben und gelangt zu prächtiger Entfaltung in diesen Stunden; darum verlangt er so sehr nach ihnen und leidet, wenn sie unnütz verstreichen.“ Mann beschreibt detailliert die Jagd auf Hasen und auf verschiedene Wasservögel mit all ihren Höhepunkten, Erlebnissen und den stets wiederkehrenden Mißerfolgen, die seinem Hund aber so gar nichts ausmachen. Eingeschoben ist hier vom Autor eine geradezu tragische Geschichte von einer nicht erkennbaren Krankheit Bauschans. Mann ließ das Tier in der Klinik und mußte erleben, wie es psychisch und physisch „vor die Hunde“ ging. An sich selbst beobachtete er eine gewisse innere Unabhängigkeit, seit der Hund fehlte, zugleich aber litt seine Gesundheit, da die ausgedehnten Spaziergänge fehlten. Und so mußte er sich eingestehen: „Während mein Zustand demjenigen Bauschans in seinem Käfig nachgerade auffallend ähnlich wurde, stellte ich die sittliche Betrachtung an, daß die Fessel des Mitgefühls meinem eigenen Wohlsein zuträglicher war als die egoistische Freiheit, nach der mich gelüstet hatte.“ Nirgendwo kommt die Zweisamkeit von Herr und Hund deutlicher zum Ausdruck als in dieser Konfliktsituation des erkrankten Bauschan.

Die Wege, Thomas Mann für sich neu zu entdecken, können verschieden sein: Man kann die großen Romane von den Buddenbrooks bis zum Doktor Faustus wiederlesen, man kann sich den reichhaltigen Briefsammlungen zuwenden oder sich mit den zahlreichen Essays, Artikeln und berühmten Reden befassen. Man kann aber auch mit viel Genuß die kleine Erzählung wählen ...


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
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