Literaturstätten


Müssen wir uns Sisyphos
wirklich als einen glücklichen Menschen
vorstellen?

Das Kulturcafé „Camus“ in Leipzig

Geboren wurde er in Algerien und werden wollte er eigentlich Germanist. Deshalb auch kam er 1993 nach Deutschland, genauer gesagt nach Leipzig, denn die Universität dieser Stadt hatte von germanistischer Seite her viele Jahre lang in engem Kontakt mit der Universität Algier gestanden. Doch, wie so oft im Leben, kam es auch für Abdel Ghazali ganz anders: Familiäre Probleme ließen ihn nach Algieren zurückkehren, um dann aber wieder nach Deutschland zu gehen. Diesmal jedoch sollte nicht mehr die noch immer vorhandene Liebe zur Literatur einem (späteren) Broterwerb dienen, sondern die Gastronomie, und zwar in Verbindung mit Literatur, Musik und bildender Kunst. In Leipzigs Gottschedstraße, der sogenannten Kneipenmeile, fand seine Idee ein räumliches Domizil.

Da die Gäste bereits an dem an eine Person gebundenen Namen des Café-Restaurants erkennen bzw. erahnen sollten, worauf sie sich „einlassen“, nämlich auf (Welt-)Kultur plus Frankreich plus Algerien bzw. Algerien plus (Welt-)Kultur plus Frankreich, kamen für den Besitzer nur einige wenige in Frage. Denn, dies war das dazu notwendige zweite Kriterium, es sollte sich um eine auch in Deutschland bekannte Persönlichkeit handeln. Auf männlicher Seite standen zwei zur Disposition: der in Algerien geborene und dort seine biographischen Fixpunkte erfahrende Nobelpreisträger Albert Camus (1913-1960) sowie der sich für die Beendigung des Algerienkrieges engagierende, seine Verleihung des Nobelpreises ablehnende Jean-Paul Sartre (1905-1980), der durch das Dekret des Heiligen Offiziums sein Gesamtwerk 1948 auf dem Index wiederfindet. Ob aus Zufall oder ob um der Gerechtigkeit willen, aber auf weiblicher Seite waren es ebenfalls zwei Namen, die für Abdel Ghazali in Frage kamen: zum einen der von Simone de Beauvoir (1908-1986), der für individuelle Freiheit und Verantwortung eintretenden langjährigen Lebensgefährtin Sartres, und zum anderen der von Isabelle Eberhardt (1877-1904), einer hierzulande im Vergleich zu den anderen drei Autoren eher unbekannten Erzählerin, die in glühenden Farben Stimmungsbilder aus der (algerischen) Sahara zeichnete, bis heute fälschlicherweise (?) als leibliche Tochter Arthur Rimbauds bezeichnet wird und die mal als französische Patriotin, mal als Spionin und immer als gesellschaftliche Außenseiterin und tiefempfindende Gläubige des Islam galt.

Daß am Ende Albert Camus den „Zuschlag“ erhielt, mag daran liegen, daß er für den Namensuchenden die Aspekte Algerien, Weltkultur, Bekanntheit und damit das Freisetzen von Ideen und Assoziationen am besten zu vereinen vermag. Und trotzdem: Neue Gäste gingen ins Camus, die alteingesessenen aber trafen sich „bei Abdel“. Sei es, um an einer (musikalischen) Ausstellungseröffnung teilzunehmen, sei es, um der Vorstellung eines neuen Buches zu lauschen, sei es, um am leider viel zu wenig bekannten, aber hoch interessanten philosphischen Stammtisch den Gedanken von Dr. Carlos Maroquin und Prof. Ditzsch - z. B. zum „Tod der Psychotherapie“ - zu folgen und sie in angenehmer, weil kleiner, aber nicht kleinlicher Runde zu hinterfragen, oder sei es „nur“, um draußen oder drinnen zu sitzen, zu trinken, zu essen, miteinander zu sprechen, um alte Bekannte und Freunde zu treffen und neue kennenzulernen. Denn, dank des sich um seine Gäste mit großer, nie aufdringlicher Fürsorglichkeit und Herzlichkeit kümmernden Inhabers passierte im Camus, was hierzulande leider eher selten der Fall ist: Gäste kamen miteinander ins Gespräch, und zwar ins ernsthafte, tiefergehende, auf seltsame Weise immer von Herzlichkeit getragene. Vielleicht weil man ahnte bzw. wußte, „unter sich“ zu sein und auf Gleichgesinnte zu treffen, so, wie andere Gleichgesinnte es andernorts tun. Einladend und diesbezüglich befördernd wirkte freilich immer der Besitzer des Camus selbst, denn mit seiner Ausstrahlung und der Art, wie er seinen Gästen begegnete, schuf er eine angenehme Grundatmosphäre. Wenn aus dem Kulturcafé so auch ein Künstlercafé wurde, dann liegt dies ganz sicher auch daran, denn Künstler - ganz gleich welcher Sparte - brauchen, wie man in Wien, dem Mekka der Künstlercafés, erfahren kann, dieses Gefühl des Sichwohlfühlenkönnens, des Sichaufgehobenwissens und des gleichzeitigen Ungestörtseins. Das „alte“, weil derzeit geschlossene Camus bot beides, ohne jedweden elitären Hauch, und zwar für alle seine Gäste.

Aber die Gefühle der Gäste sind das eine, die des Besitzers das andere, leider. Denn, so Abdel Ghazali im Juni diesen Jahres - sichtlich erschöpft vom langen Kämpfen -, ausländerfeindliche Angriffe, ein sich nicht harmonisierendes Verhältnis zu der in Leipzig ansässigen Kulturvertretung Frankreichs und der hiesigen Deutsch-Französischen Gesellschaft sowie die ihn ebenfalls schmerzende Überzeugung, daß die Gastronomie in Leipzigs Gottschedstraße „nichts mit Kultur, sondern nur mit Geld zu tun“ habe, ließen ihn seine persönlichen Zelte im Sommer in Sachsen abbrechen und sich in die Stadt bewegen, die ihm als die Möglichkeit schlechthin erscheint: nach Berlin.

In Kreuzberg, einem „Viertel mit besonderer Mischung“, sollte in der Skalitzer Straße sein „alter“ Traum von einem Kulturcafé-Restaurant ein neues Zuhause bekommen. Schöpfen wollte er dabei aus den in Leipzig gewonnenen - guten wie weniger guten - Erfahrungen, die mit neuen bzw. in der Stadt an der Pleiße nicht (mehr) verwirklichten Ideen angereichert werden soll(t)en. So wollte er einen philosophischen Stammtisch nun regelmäßig stattfinden lassen, damit dieser sich als feste Größe etabliert. Nachgedacht wurde auch über das Ausrichten einer internationalen Berliner Kulturwoche, z. B. mit und über „Frauen, die kämpfen“. Auf gastronomischer Seite plante Abdel Ghazali für seine „kulturelle Oase“, die - dem Rat von Freunden folgend - einfach nur Abdel heißen sollte, den Ausbau eines alten, größeren Weinkellers sowie eine internationale, mit besonderen Gaumenfreuden aus Nordafrika angereicherte Küche. Nicht zuletzt in gerade dieser kulinarischen Mischung zeigt sich sein Verbundensein mit den zwei Kulturen, in und mit denen er erzogen wurde: der arabischen und der frankophonen, die für ihn immer gleichbedeutend ist mit der westlichen.

Bedauerlicherweise sind diese Pläne nun erst einmal auf Eis gelegt, denn das Leipziger Camus läßt ihn mit den daran geknüpften Idealen, aber eben auch Sorgen weniger schnell los, als es der sensible Mann hoffte. Da tröstet im Moment selbst ein Satz seines Vaters wenig, der da lautet: „Das Leben ist eine offene Universität - man lernt jeden Tag, aber bekommt nie einen Abschluß.“ In Zeiten, da seine Gäste bei ihm ein offenes Ohr für ihre Sorgen und Nöte suchten (und fanden), von ihm gern zitiert, wurde dieser Satz als eine positive Lebensmaxime mitgegeben. Angesichts der gedanklichen und realisierten Versuche, „sein“ Kulturcafé zu etablieren, stellt sich indes die Frage, ob der „Kampf gegen Gipfel“ tatsächlich, wie Albert Camus schrieb, „ein Menschenherz auszufüllen“ vermag, zumal wenn es dort weiter heißt: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Nun ist es mit dem Glücklichsein so eine Frage. Eine andere, in diesem Zusammenhang ebenfalls zu stellende ist die nach den Kräften. In den gern zitierten beiden Sätzen von Camus wird darauf (wohlweislich?) nicht orientiert. Und doch wäre es gut, wenn - wie er einmal in einem Artikel genannt wurde - „der kleine Mann von der Gottschedstraße“ wieder genügend Kräfte fände, um sein ehrgeiziges Projekt erneut zu verwirklichen - Berlin wäre dadurch um ein Stück reicher.

S. T. Plauen


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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