Literaturstätten


Und habt ihr denn etwa keine Träume,
wilde und zarte, im Schlaf zwischen zwei Tagen?
Und wißt ihr vielleicht, warum zuweilen ein altes Märchen,
ein kleines Lied, ja nur der Takt eines Liedes,
gar mühelos in die Herzen eindringt,
an denen wir unsere Fäuste blutig klopfen?
Ja, mühelos rührt der Pfiff eines Vogels
an den Grund des Herzens
und dadurch auch an die Wurzeln der Handlungen.

Anna Seghers: Motto der Schönsten Sagen vom Räuber Woynok (1938)


„Meine Mutter - Anna Seghers“

Eindrücke und Entdeckungen auf der Lichtenberger Anna-Seghers-Ausstellung

Links vom Eingang grüßt uns das Motto der Schönsten Sagen vom Räuber Woynok und stimmt uns ein, rechts hat der Lichtenberger Fotozirkel zusammengetragen, was uns in Berlin an Anna Seghers erinnert: das Straßenschild Anna-Seghers-Straße in Adlershof (hier befindet sich im Haus Nr. 81 in ihrer ehemaligen Wohnung die Anna-Seghers-Gedenkstätte, am Haus erinnert eine Gedenktafel an die Schriftstellerin), die Anna-Seghers-Oberschule in der Radickestraße 41 (gleichfalls in Adlershof), die Anna-Seghers-Bibliothek, die Hauptbibliothek von Hohenschönhausen sowie das Ehrengrab auf dem Evangelischen Friedhof der Dorotheenstädtischen Gemeinde in der Chausseestraße im Stadtbezirk Mitte.

Und dann sind wir schon inmitten der Ausstellung „Meine Mutter - Anna Seghers“ mit dem Untertitel „Eine Schriftstellerin durchschreitet das XX. Jahrhundert“ anläßlich des 100.Geburtstages der Dichterin am 19. November 2000. Zusammengestellt wurde diese Ausstellung des Bezirksamtes Lichtenberg und des Lichtenberger Kulturvereins e. V. von der Tochter Ruth Radvanyi, der Literaturwissenschaftlerin Ramona Saavedra Santis und der Grafikerin Gabriele Falk.

Die 1928 geborene Tochter Ruth gestaltet in dieser sehr liebevollen Ausstellung aus ganz persönlicher Sicht das Leben ihrer Mutter, die als Netty Reiling in Mainz geboren wurde. Mit zum Teil unveröffentlichtem Bildmaterial und persönlichen Dingen aus dem Nachlaß werden die einzelnen Lebensabschnitte illustriert. Da die gesamte Ausstellung wie ein Rundgang chronologisch aufgebaut ist, durchschreitet der Ausstellungsbesucher praktisch gleichsam mit der Schriftstellerin das 20. Jahrhundert. Wir sehen eine unbeschwerte Netty in dem gutbürgerlichen jüdischen Haushalt in Mainz (der Vater hatte eine Kunsthandlung) und eine fleißige Studentin, die in Heidelberg Kunstgeschichte studiert und 1924 promoviert. Das Thema heißt Jude und Judentum im Werke Rembrandts. (1981 wird das kleine Werk in der DDR in der farbigen Sonderreihe des Leipziger Reclam Verlages erscheinen.) Wir blicken auf die erste gedruckte Erzählung bzw. Veröffentlichung, erschienen in der Weihnachtsbeilage 1924 des „Frankfurter Allgemeinen und Handelsblattes“: Die Toten auf der Insel Djal. Eine Sage aus dem Holländischen. Nacherzählt von Antje Seghers. Ihre Liebe zu den niederländischen Meistern, zu Rembrandt und zu dem noch relativ unbekannten Hercules Seghers lassen sie das Pseudonym Seghers wählen und als Vorname die holländische Form Antje. Später wird daraus die weltbekannte Anna Seghers.

Neu für die Seghers-Forschung sind die Entdeckungen des Sohnes Peter (= Pierre Radvanyi), der im Jahre 1999 (selbst 73 Jahre alt) Manuskripte und Dokumente seiner Mutter fand, so ein Erstmanuskript der Erzählung Aufstand der Fischer von St. Barbara sowie den Vertrag mit dem Kiepenheuer Verlag aus dem Jahre 1930, Notizen in Tagebuchform, in denen sich Netty die Frage stellt, ob sie schreiben soll (datiert 1924/25) sowie eine bisher unbekannte Erzählung: Jan muß sterben. Diese 1925 entstandene Erzählung wird noch in diesem Jahr im Aufbau-Verlag Berlin erscheinen.

Der weitere Rundgang führt uns zu den Stationen „Berlin 1925-1933“, „Exil in Frankreich 1933-1939-1941“, „Transit 1939-1941“ und „Exil in Mexiko“. Und dazwischen: Bücher, Bücher, Bücher! Bücher in den Vitrinen, Schätze eines Seghers-Fans und Schutzumschläge ihrer Veröffentlichungen (Aufstand der Fischer von St. Barbara, Der Kopflohn, Der Weg durch den Februar, Die Rettung, Transit, Der Ausflug der toten Mädchen, Die Toten bleiben jung, Die Entscheidung und Das Vertrauen).

Schwerpunkt der Exilliteratur ist ihr berühmtestes Werk Das siebte Kreuz. Ihm ist eine spezielle Vitrine gewidmet: Ausgaben in vielen Sprachen und die kostbare Erstausgabe in deutscher Sprache, veröffentlicht im Emigrantenverlag El Libro Libre in Mexiko.

Die nächsten Schautafeln und Vitrinen widmen sich ihrem Wirken und Schaffen im Nachkriegsdeutschland und in der späteren DDR. Wir sehen an ausgewählten Manuskripten, wie sie an einzelnen Sätzen, Ausdrücken feilte und sich mit Ehemann Lazlo Radvanyi und Lektoren beriet. Die Tochter Ruth zeigt uns Bekanntes und bisher Unbekanntes aus dem Leben ihrer Mutter. So ist z. B. eine Seite aus der Akte des FBI vom Mai 1943 zu sehen, wo die sozialistische Erzählerin und Gegnerin des Nationalsozialismus observiert wird. Aber auch die Staatssicherheit der DDR interessiert sich für Anna Seghers, vor allem, wenn sie Meinungen vertritt, die von der „offiziellen“ Meinung abweichen.

Insgesamt eine interessante und anregende Ausstellung.

Wie aus der Anna-Seghers-Gedenkstätte in Berlin-Adlershof (s. a. BLZ 3/99) zu erfahren ist, sind - anläßlich des 100sten Geburtstages der Schriftstellerin - insbesondere in diesem Herbst viele literarische Veranstaltungen geplant.

Wolfgang Buth

Titelholzschnitt von Leopoldo Méndez für die erste deutschsprachige Buchausgabe von Anna Seghers' Roman „Das siebte Kreuz“ im Verlag El Libro Libre, Mexiko 1942

(Rechte: Akademie der Künste Berlin, Anna-Seghers-Archiv)


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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