Eine Rezension von Hanna Gräfe


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Enthusiastische Linguisten


Erik Orsenna: Inselsommer
Roman.
Aus dem Französischen von Uli Aumüller.
Carl Hanser, München 2000, 156 S.


Ich hatte die Geschichte einer harmlosen Sommerliebe erwartet, aber was Erik Orsenna, Philosoph, Professor für Wirtschaftswissenschaft, Verlagsleiter und kultureller Berater Mitterrands, hier vorlegt, konnte wohl nur in einem romanischen Land entstehen, einem Umberto Eco hätte ich den Einfall auch zugetraut. Dieser kleine, geistvolle, witzige, etwas frivole Roman, der von nichts anderem handelt als der Übersetzung des Nabokovschen Romans Ada aus dem Englischen ins Französische, bietet Situationen von solcher Komik, daß man sie kaum vergessen wird. Allein der Ton des Buches - eine Mischung aus Leichtigkeit, Ironie, Begeisterung, kultureller Bildung, Direktheit der sexuellen Sprache und Skurrilität - verschlägt dem deutschen Leser etwas die Sprache. Vielleicht hat auch die bretonische Mentalität Pate gestanden. Das Buch spielt auf einer winzigen Insel im Ärmelkanal, die im Sommer von den Parisern, die hier mit Kind und Kegel einfallen, okkupiert wird. Erik Orsenna, 1947 geboren, erzählt eine Geschichte aus dem Anfang der 70er Jahre, die er als junger Mann selbst erlebt hat.

Die rosa Felsen der kleinen Insel im Archipel, auf der, vom Golfstrom begünstigt, Palmen, Mimosen und blaue Hortensien wachsen, haben die gesamte Kindheit des Erzählers begleitet. „Wir werden von Sommer zu Sommer gehüpft sein wie von einem Stein zum anderen in einer Furt. Der Rest unserer Leben kann ohne Bedauern vergessen werden“, erinnert er sich. Zusammen mit „Cousins, Tanten, Urahnen, Verwandten zweiten Grades, weltlichen oder kirchlichen Brüdern und Schwestern, Witwen aus einer Seitenlinie, lebenslangen Freundinnen, wachsamen Urgroßmüttern, mutmaßlichen Erbonkeln, Angeheirateten (überaus enttäuschten Schwiegersöhnen, allzu parfümierten Schwiegertöchtern)“ bezogen begünstigte Pariser Familien Sommer für Sommer hier ihre Ferienquartiere. Die qualvolle Enge auf der Insel zwang zu stummen Liebesspielen und schuf ein reich differenziertes Französisch, eine vielfältige Metaphorik, in der sich die Liebenden tags darauf unterhielten. Grund genug für den Übersetzer Gilles, sich hier bleibend niederzulassen und mit seinem Nachbarn Jean-Paul, der sich mit künstlichen Universalsprachen befaßt, lange Dialoge zu führen. „Die menschliche Sprache war mehr als ihr Lieblingsthema, sie war der Held der einzigen Abenteuer, die sie wirklich interessierten.“

Der Erzähler holt nun etwas aus und berichtet, wie Vladimir Nabokov - zielstrebig auf den Nobelpreis zusteuernd - die Übersetzungen seiner Werke ins Englische und Französische betrieb. „Überall auf der Welt quälten sich Unglückliche mit Fahles Feuer, Lolita, Sebastian Knight oder Die Nadel der Admiralität ... sie holten das Letzte aus sich heraus, um Transparenz, Flügelgeflatter, vergängliche Melodien wiederzugeben. [...] Doch ach! Regelmäßig pfiff Vladimirs Peitsche durch die Luft, eine schreckliche Chambriere mit Riemen aus dem Leder des Miurastiers.“ 1969 sah auch der Pariser Verlag Fayard den Nobelpreis auf Nabokov zukommen und beauftragte Gilles, Nabokovs Roman Ada or Ardor - die Geschichte einer Familie und eines Inzests - aus dem Englischen ins Französische zu übertragen. Doch Gilles hatte im Laufe seines Lebens schlechte Gewohnheiten angenommen. „Er arbeitete, wenn die Lust ihn überkam: selten.“ Gilles strich also den Vorschuß seines Verlegers ein, blickte in das Meisterwerk Nabokovs und ließ sich von der Schwere der Aufgabe, aber auch von den Briefen Nabokovs an seine Übersetzer, die der Verlag beigelegt hatte, entmutigen. Drei Jahre und fünf Monate später hatte er mit der Arbeit noch nicht einmal begonnen. „Auch die Schweden wußten, daß es nicht eilte. 1970 hatten sie Solschenizyn gewählt, 1971 Neruda, 1972 Böll. Der russisch-amerikanische Schweizer würde später an die Reihe kommen.“- Da Gilles die Mahnbriefe aus Paris ungeöffnet ließ, glaubte der Verlag an eine Schlamperei der Post und beschwerte sich zornig.

Nun beginnt die eigentliche Geschichte. Eine Mitbewohnerin auf der Insel, eine exzellente Gärtnerin und gebürtige Saint-Exupéry, deren Mann seit Jahren den Südpol erforscht, bietet Gilles ihre Hilfe an. Sie nötigt alle englisch-kundigen Sommergäste und Inselbewohner, an der Übersetzung mitzuwirken; als Tauschobjekt bietet sie Stecklinge aus ihrem Garten. Die einzelnen Abschnitte des Romans werden verteilt. Alle Insulaner bewaffnen sich mit Wörterbüchern und Enzyklopädien, das Interesse an Segelregatten und Nacktbadern erstirbt. Der katholische Pfarrer ist beunruhigt über das veränderte Verhalten seiner Gemeindeglieder. „Wie man schon geahnt haben wird, hatte sich die ganze Insel daran gemacht, Ada zu übersetzen. [...] Ohne zu zögern und mit schöner Begeisterung hatten sich die Eingeborenen uns [den Pariser Sommergästen, D.K.] angeschlossen. Vergessen war die leise Verachtung, die sie für uns hegten. [...] Sicherlich beseelte sie die Zuneigung zu Gilles. Vor allem aber der Haß auf Paris.“

Ironisch, aber auch mit philologischer Sachkenntnis beschreibt der Autor die Mühen Gilles' und seiner Helfer, den zarten, gaukelnden, musikalischen Ton Nabokovs zu treffen. Besonders in den Wintermonaten war Gilles am Verzweifeln. „Die Nabokovsche Musik verlor sich in schwerfälligen Wörtern. Je mehr er arbeitete, desto weiter entfernte er sich von dem Ziel ... und versank in einer bleiernen, gewissermaßen Heideggerschen Prosa.“ So folgte ein zweiter Sommer, und wieder griff das Übersetzungsfieber um sich. Die stümperhaften Arbeiten der Amateure hatte Gilles in geschmeidige Prosa zu verwandeln. Regelmäßig trafen Nabokovsche Nörgeleien über „ungeheuerliche Fehler“ und „ungenügende Englischkenntnisse“ ein. Der Inselpfarrer verdammte in einer Predigt die Mitarbeit an dem „zotigen Werk“. Die jungen Männer waren von der ständigen Beschäftigung mit Ada stark erotisiert. Aber alle bemühten sich ernsthaft, ihr Bestes zu geben. „... im betörenden, fast süßen Duft des Geißblatts, rund um den Steintisch, auf dem die zerrupften Schalen der Einsiedlerkrebse liegengeblieben waren, diskutierten wir bis in die Puppen über die französische Sprache, ihre Kadenzen, ihre Anklänge, ihre ständige Zurückhaltung, ihre unverbesserliche Liebe für die Abstraktion, diese so schwer aus der Fasson zu bringende Grammatik.“ Schließlich wurde auch ein Tourist aus Buenos Aires von Madame geb. Saint- Exupéry eingespannt. Mit Hilfe seines Funkgeräts hatte er frankophone Partner aus Übersee als Übersetzungshelfer zu gewinnen. Als Gilles mit knapper Not die Übergabe des Manuskripts zum verabredeten Termin schafft, müssen noch einmal alle Pariser Sommerfrischler eingreifen, um das von Nässe beinahe ruinierte Manuskript zu retten.

In einem Epilog erinnert sich der Autor zusammen mit Jugendfreunden an jene Sommer des gemeinsamen enthusiastischen Übersetzens. Dabei hat er eine Vision. Er sieht den kleinen Archipel ein oder zwei Jahrhunderte später als Refugium für eine fast vergessene, uralte Sprache, das Französische. Bei längeren oder kürzeren Studienaufenthalten werden die Besucher „die Wiederentdeckung der Eifersucht“ (vierzehn Tage), „die Freuden der Traurigkeit“ (eine Woche), „den Wortschatz des Meeres“ (ein Trimester) oder „die Benennung eines Gartens“ (zwei Monate) studieren. „Die Besucher werden entzückt, reich an neuen Spitzfindigkeiten zurückkehren und sich dem Grau in Grau der Weltsprache stellen.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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