Eine Rezension von Volker Strebel


Das Leben im Wald verstehen

Václav Maidl (Hrsg.): Aus dem Böhmerwald
Verlag Karl Stutz, Passau 1999, 445 S.


In einem kundigen Nachwort definiert der tschechische Literaturwissenschaftler Václav Maidl seine Zusammensetzung dieser Anthologie, die 13 deutschsprachige Erzähler versammelt: Von den 40er Jahren des 19. Jahrhundert bis 1945, also ungefähr ein Jahrhundert, umfaßt die Tradition deutschgeschriebener Literatur des Böhmerwaldes.

Die bekanntesten Namen dieser Sammlung sind Adalbert Stifter und Johannes Urzidil. Auf Josef Rank, der als erster den Böhmerwald literarisch thematisierte, hat Václav Maidl bereits an anderer Stelle aufmerksam gemacht. Daß mit Hans Watzlik oder auch Leo Hans Mally umstrittene Namen berücksichtigt wurden, beweist die Beherztheit des Herausgebers. Die aufgenommenen Texte geben durchaus Einblick in ein kraftvolles Erzählen und regen die Frage an, wie es später zu nationalistischen Entgleisungen kommen konnte.

Václav Maidl verweist aber auch auf Autoren, deren Werk er, wie am Beispiel Hans Hulterers, einer neuen Aufmerksamkeit zuführen möchte.

Neben dem traditionellen Genre der Dorfgeschichte des 19. Jahrhunderts mit seinen Schmuggler- und Räubergeschichten beinhaltet diese Anthologie Texte, welche neben Land und Leuten besonderes Augenmerk auf das überlieferte Brauchtum richtet: Dabei wird keiner ungetrübten Idylle das Wort geredet, sondern von „tausend und abermals tausend Widrigkeiten“ geredet. Georg Leopold Weisels „Betrachtungen eines Landbewohners“ führen „die empfindlichsten der Reihe nach an“: „Die Seelenpolizei“, „Bettelei“, „Kunstmalerei“ oder auch „Kuriositäten von der Grenze“. Besonders für die Beziehungen künftiger Ehepartner wird ein differenzierter Verfahrenskatalog dokumentiert, der ein individualisiertes Verhalten, wie es der städtische Mensch gewöhnt ist, nicht zuläßt.

Auffällig ist ein erzählerischer Bezug auf längst vergangene Zeiten, welche einst das Land in Atem gehalten haben. Neben Josef Meßners Erzählung „Der Primator“, in welcher die Eroberung eines Städtchens geschildert wird, was die Grausamkeit der Religionskriege erahnen läßt, berichtet Anton Schotts Geschichte „Um Recht und Freiheit“ von den halsstarrigen Choden, die vergeblich auf ihre kaiserlich verbrieften Rechte beharren. Dem Freiherrn Max Lamminger von Albenreuth wollen sie keine Untertanen sein. Kozina, ihr Anführer, schweißt die Bande zusammen: „Es ist unser aller heilige Sach, unsere Freiheit und unser alles, und Tschechen und Deutsche müssen wir zusammenstehen und zusammenhalten wider unsere Bedrücker und unsere Feinde. Legen wir jetzt jede Feindschaft und jede Zwistigkeit zurück.“

In und um Domazlice (Taus) spricht man heute noch den chodischen Dialekt - eine Besonderheit in der tschechischen Sprache, welche im Gegensatz zum Deutschen nicht durch deutliche dialektale Unterschiede gekennzeichnet ist. Überhaupt die Sprache! Sie weist im Böhmen jener Zeit die Rollen zu. In Johannes Urzidils Erzählung „Der Trauermantel“ erinnert sich der Knabe Bertl an die Belehrungen seines verstorbenen Vaters: „Die böhmische Krone, die hat der heilige Wenzel getragen. Nach dem Wenzel waren noch viele Könige und Kaiser, die die böhmische Krone trugen und über die Böhmen herrschten, über die im Landesinnern, die tschechisch sprechen, und über die an den Grenzen, die deutsch sprechen und in unserer Gegend Freibauern waren bis auf den heutigen Tag.“

Johannes Urzidil gelang mit dieser Erzählung eine beeindruckende Kindheitserzählung über Adalbert Stifter.

Über die Kunstfertigkeit des einen oder anderen Textes ließe sich trefflich streiten, eines aber läßt sich deutlich festhalten: Die versammelten Erzählungen bieten neben einem nostalgischen Einblick in eine vergangene Zeit deutsch-tschechischen Zusammenlebens den Vorzug spannender wie unterhaltsamer Lektüre.

Ob die Tradition deutschsprachiger Erzähler aus dem Böhmerwald tatsächlich im Jahr 1945 endet? Das Ende des Zweiten Weltkriegs und die gewaltsame Vertreibung der Deutschen aus Böhmen beenden in der Tat einen organisch gewachsenen, historischen Abschnitt. Zum anderen beginnt eine neue Geschichte, wenn hermetische Grenzen ihre Bedeutung verlieren. In einer anderen Zeit werden andere Erzählungen aus dem Böhmerwald geschrieben werden - deutsche und tschechische!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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