Eine Rezension von Eberhard Fromm


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Des Lesers Alptraum

Joachim Köhler:
Nietzsches letzter Traum
Karl Blessing Verlag, München 2000, 319 S.


Will man seine Meinung zu einem eben gelesenen Buch sagen, sollte man darauf achten, daß sich sowohl Begeisterung als auch Ablehnung erst ein wenig gesetzt haben; denn sonst kann leicht eine euphorische Lobhudelei oder ein böser Verriß herauskommen.

Ich habe mich bemüht, nach dieser Faustregel zu verfahren. Aber es fällt mir trotzdem schwer, ein ruhiges Wort zu dem zu formulieren, was Joachim Köhler (Jg. 1952) hier vorgelegt hat. Köhler hat über Friedrich Nietzsche promoviert und auch bereits einige Sachbücher über ihn verfaßt. Damit steht er in einer langen, immer noch nicht abreißenden Tradition deutscher Geistesgeschichte, die gerade zum hundertsten Todestag des Denkers Hoch-Zeit feiert und die in ihrem Nietzsche und seiner Ausdeutung noch Stoff für mindestens weitere hundert Jahre besitzt.

Nun hat sich der Sachbuchautor und Journalist Köhler aber an einen Roman gewagt; und noch dazu an einen, in dessen Mittelpunkt Nietzsche steht, genauer, der Nietzsche während der ersten Tage seines geistigen Zusammenbruchs. Läßt man Vor- und Nachspiel weg, die den Todestag Nietzsches zum Inhalt haben, so bewegen sich die zwölf Kapitel im Zeitraum zwischen dem Zusammenbruch Nietzsches in Turin bis zu den ersten Tagen in der Baseler Irrenanstalt Friedmatt. Es ist also Januar 1889.

In einer Nachbemerkung wird der Leser darauf aufmerksam gemacht, daß die meisten der handelnden Personen historisch seien, daß die Texte oft wörtliche Zitate darstellen, daß dagegen die Handlung zum großen Teil erfunden sei.

Wen läßt der Autor neben Nietzsche handeln? Da ist der Direktor der Baseler Irrenanstalt Prof. Dr. Ludwig Wille (1834-1912), der eine zentrale Rolle einnimmt. Da ist das Gelehrtenehepaar Ida Overbeck (1848-1933) und Franz Overbeck (1837-1905), die mit Nietzsche befreundet waren. Franz Overbeck holte Nietzsche von Turin nach Basel. Da ist der Maler Arnold Böcklin (1827-1901), dessen Bild „Die Toteninsel“ nach dem Willen des Autors wohl einen mystischen Mittelpunkt des Geschehens bezeichnen soll. Da ist die Frauenrechtlerin Helene Druskowitz (1856-1918). Da ist der Leipziger Nervenarzt Dr. Paul Julius Möbius (1853-1907), der als erster 1902 eine umfängliche Krankengeschichte Nietzsches verfaßte. Und da ist Ludwig von Scheffler, ein früherer Schüler Nietzsches. Nebenrollen spielen der Zahnarzt Dr. Leopold Bettmann (1857-1937), der Nietzsche auf der Fahrt von Turin nach Basel begleitete, der Physiologe Prof. Dr. Johann Friedrich Miescher (1844-1895), den der Autor zum Assistenzarzt in der Irrenanstalt degradiert, und der Turiner Hauswirt Nietzsches Davide Fino. Und natürlich taucht die Schwester Nietzsches, Elisabeth Förster-Nietzsche, im Vor- und Nachspiel auf, als „schwarze Witwe“ - versteht sich.

Wie läßt der Autor nun diese tatsächlich historischen Personen handeln, die alle auf die eine oder andere Art mit Friedrich Nietzsche etwas zu tun gehabt haben? Hier hat er seine Schwierigkeiten. Denn eigentlich benötigt er sie ja nur, um sein Wissen über Nietzsche loszuwerden. In dem Bemühen, wenigstens etwas Handlung in seinen Roman zu bekommen, hat der Autor diese Personen recht frei verwandelt. Nun steht das einem Romanautor zwar zu, und daß er sie zwangsweise alle zweimal zu einem bestimmten Zeitpunkt an einen bestimmten Ort zusammenbringt - einmal im Atelier von Böcklin in Basel und dann am Sterbetag in Weimar in der Villa Silberblick -, könnte man noch als dichterische Freiheit verkraften. Wenn sie sich aber unter seinen Händen alle zu irgendwie defekten, spleenigen Menschen verändern, die ständig mit dem Trinken beschäftigt sind, es miteinander treiben und dabei Nietzsche-Texte zitieren, wird die Szene unglaubwürdig, oft lächerlich, nicht selten peinlich. Alle Personen dieses Stückes sind und bleiben dabei eigentlich nichts weiter als Sprachröhren für Texte von und über Nietzsche.

Und was ist mit Nietzsche? Ihm werden alle Legenden der vielen Erzählungen und Erfindungen angehängt, vom ständigen Alkoholgenuß bis zur Drogenabhängigkeit, neu dazu kommen sein Hang zur Homosexualität und sein Freitod. Nietzsches „letzter Traum“ ist so ein wirres, wüstes, krankes Durcheinander von Denken und Tun des Friedrich Nietzsche in einer schwülen und ebenso kranken Umwelt.

Man fragt sich, was eigentlich die Absicht des Autors war, daß er die nüchterne Darstellung des Sachbuchs verlassen hat. War ihm der exakte Fakt zu langweilig, wollte er einmal absichtlich die Realität auf den Kopf stellen - oder sich vielleicht unter dem Deckmantel der „dichterischen Freiheit“ gegen die Wirklichkeit austoben? Da eigentlich nichts stimmt an diesem Roman, habe ich mich mit dem Gedanken getröstet, daß es wohl die Absicht des Autors war, eine großangelegte Karikatur zu zeichnen, die sowohl Nietzsche selbst als auch seine Zeitgenossen und damit zugleich seine Gedanken umfaßt. Denn kann es etwas anderes als eine Persiflage sein, wenn beispielsweise der halbnackte Irrenarzt Wille und die nackte Frauenrechtlerin Druskowitz auf dem Sofa gegeneinander Nietzsche zitieren? Nur: Dafür eignen sich Nietzsches Texte schlecht. Und so verwandelt sich denn bei der Lektüre Nietzsches letzter Traum in den Alptraum des Lesers ...


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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