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Bernd Heimberger

Phantom passé -
Durchgangszimmer
Prenzlauer Berg*

Der Prenzlauer Berg ist kein Phantom. Nicht der nördlich des Alexanderplatzes ansteigende Berg, der die Höhe eines Hügels hat, wie dies im Brandenburgischen üblich ist, wenn von Bergen gesprochen wird. Kein Phantom ist der real existierende, dichtbesiedelte, viertkleinste Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg. Das Phantom ist der „Prenzlberg“. Das Phantom ist eine Erfindung des west-deutschen Feuilletons. Seit gut anderthalb Jahrzehnten geistert das Phantom durch die Medien. Da die meisten Schreiber zumeist Abschreiber sind, die meisten Redner zumeist dem Vorredner nachplappern, wird die Gefahr eher größer denn geringer, daß sich in den Annalen der Historie, der Kunst, der Literatur das propagierte und popularisierte Phantom etabliert. Den bisher versuchten redlichen und sachlichen Bemühungen zum Trotz, den Weihrauchnebel vom Prenzlauer Berg abzuziehen, um Klarsicht zu ermöglichen, damit auch Übersicht gewonnen werden kann. Zur Wirklichkeitsfindung haben Peter Böthig und Klaus Michael mit dem gemeinsam organisierten Band MachtSpiele beigetragen sowie Peter Böthig mit seiner Monographie Grammatik einer Landschaft. Die Annäherung der Herausgeber-Autoren an die tatsächliche Wirklichkeit der Literaturlandschaft Prenzlauer Berg - sowie ihres gesellschaftlichen Umfelds - hat bei weitem nicht die Achtsamkeit bekommen, die dem aufgeblasenen Phantom galt und gilt. Das hat einen triftigen Grund. Mächtige Stimmen des westdeutschen Feuilletons sind die Macher und Mitläufer des Phantoms. Das Phantom „Prenzlberg“ ist eine Dichtung, die den Dichtern des Prenzlauer Bergs ein Denkmal setzen sollte. Also ein Produkt des Personenkults, der, üblicherweise, auch die auf die Sonnenseite holt, die sich gern im Kult suhlen. Anders ausgedrückt: ein Liebesakt von Schreibern der unteren und höheren Ebene. Ein Akt der Gleichgeschlechtlichkeit, dessen sich niemand schämen mußte, solange nicht durchgesickert war, daß es die Liaison mit stasiinfizierten Partnern war. Der Fehler der Feuilletonisten war, auf zu viele falschgemachte Personen zu setzen. Beachtung hatte vor allem das gefunden, was gedruckt und gebunden westwärts geschmuggelt werden konnte. So ließ sich das Phantom „Prenzlberg“ gut aufpäppeln. Eine Schimäre, die Schreiber zweier Seiten im stillen Einvernehmen durch die deutsch-deutsche Literaturlandschaft zerrten und das Zirkuspferd priesen und auspreisten. Das, selbstkritisch, einen Beitrag zum Betrug zu nennen, hätte alle Beteiligten Renommee gekostet. Ums Renommee zu retten, leibt und lebt das Phantom munter weiter. Inzwischen ist es zu einer Touristenattraktion avanciert, die kein Berlin-Reiseführer ausspart. So wächst und wächst und wächst die Legende. Vorbeihastende verhinderte Literaten westlicher Provinzen haben den Ostberliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg literarisiert und sind dabei glatt auf'm „Prenzlberg“ gelandet. Wenn das keine gelungene Denunziation ist. Nicht nur eines Namens!

Daß es neben dem Er-(Ge)-Dichteten des „Prenzlbergs“ auch Dichtung gab, die aus dem Prenzlauer Berg kam, wußten alle, die sich nicht nur um die Diskussionsliteratur der DDR kümmerten. Zu den Zugereisten im Prenzlauer Berg, für die Literatur etwas Wesentliches war, zählte so manches kräftige literarische Naturell - von Erich Arendt bis Elke Erb und Adolf Endler. Der Prenzlauer Berg war, wenn man an die sechziger bis achtziger Jahre denkt- und 99 Prozent der Einwohner gewohnheitsgemäß ignoriert, nicht nur der Bezirk mit der höchsten Zuwachsrate an Literaten. Der Prenzlauer Berg, das waren auch die einwohnenden, hinzukommenden Maler, Graphiker, Keramiker, Musiker, Schauspieler, Fotografen und Filmer. Womit nicht gesagt ist, daß die Masse der Bewohner des Bezirks von den Musenkindern profitierte. Aber auch! Wann und wie? In Büchern von Irina Liebmann - Berliner Mietshaus - und in Daniela Dahns Prenzlauer-Berg-Tour steht's geschrieben. Wenn die bunte Truppe der Lokalpatrioten heute meint, die anderen Ostberliner Bezirke waren tot, dann, weil die Stadtbezirksgrenze die von ihnen gezogene Mauer war. Dahinter waren, vom Pankower Lyrikclub bis zum Haus der Jungen Talente, dem Museum für Geschichte, der „Möwe“ in Mitte, von den Friedrichshainer Wohnungen des Lutz Rathenow und der des Wilfried Bonsack, in der Tucholskystraße, kreative Kommunikations-Konzentrations-Orte da, die denen des Prenzlauer Bergs verwandt waren. Wird die ständig wechselnde, sich verändernde Kulturszene der zweiten Hälfte der DDR-Zeit in der Hauptstadt der DDR genauer betrachtet und beurteilt, muß die gesamte Stadthälfte gesehen werden. Der in mehrfacher Hinsicht einseitige Blick auf die sogenannte Szene des Prenzlauer Bergs - eine Umschreibung mit der kaum jemand etwas anfangen kann, der „dabei war“ - reicht fürs Betrachten und Beurteilen nicht aus. Nachdem die Domäne Dichtung zwar nicht gestürmt wurde, nachdem sie sich im nachhinein als „Domänie“ diskreditierte, ist es an der Zeit, differenzierter darzustellen, was und wie der Prenzlauer Berg war, bevor er zum „Prenzlberg“ reduziert wurde. Keiner Publikation zum Prenzlauer Berg ist das bisher besser gelungen als dem Band mit dem eindeutigen wie mehrfach deutbaren, dem konkreten wie symbolischen Titel Durchgangszimmer Prenzlauer Berg.

Das ist nicht das Buch zur Legende. Das ist das Buch, das kein Wasser auf die Mühlräder der Legende gibt. Das ist das Buch, das der Legende das Wasser abgräbt. Das Buch blickt in die Bezirke der Kunst im Kunst-Bezirk und darüber hinaus. Durchgangszimmer Prenzlauer Berg ist eine Durchquerung eines kunstreichen Berliner Stadtbezirks. Das Buch ist eine wortaufwendige Wanderung von Person zu Person, die ein, zwei, drei und mehr Jahrzehnte im und mit dem Prenzlauer Berg lebten. Allzu aufdringlich wird die Sammlung der 23 Selbstschilderungen „Eine Berliner Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften“ genannt. Man achte auf die Ortsbestimmung! Wo Prenzlauer-Berg-Geschichte ist, ist auch immer Berlin-Geschichte, DDR-Geschichte, deutsch-deutsche Geschichte. Personen-Geschichte ist auch immer Gesellschafts-Geschichte und Zeit-Geschichte. Die Gespräche mit den Auskunftswilligen und -freudigen führten 1997 und 1998 Barbara Felsmann und Annett Gröschner. Was die beiden Herausgeberinnen zustande brachten, ist ein üppiges Lebens-Buch. Üppig in den 23 Monologen. Am magersten im Dialog zwischen Elke Erb und Brigitte Struzyk. Ergiebiger im Dialog der Herausgeberinnen, der den Band abschließt.

Das Buch ist ein Befreiungsschlag. Es ist frei von der Selbstsucht interpretierender Feuilletonisten und Literaturprotegés. Wer sich der mit zusammengespreßten Lippen für die Presse verfaßten Artikel über die Dichter-Domäne erinnert, wirft den aufgehalsten Ballast -spätestens - in der Buchmitte ab. Das Buch ist auch frei von der Selbstdarstellungssucht, also dem Imponiergehabe der selbstinthronisierten und getürkten Prominenten des „Prenzlbergs“. Wem denn heute noch imponieren, da sich auch das Fußvolk der „Szene“-Kneipen verlaufen hat? Selbst die Claqueure des „Prenzlbergs“ sind chancenlos. Übereinstimmend wird, fast synchron, formuliert, was der Schriftsteller-Regisseur Peter Brasch in einem Satz zusammenfaßte: „Mit dem Begriff Prenzlauer-Berg-Szene kann ich nicht viel anfangen.“ Wenn, dann war die „Szene“ eine immer wieder sich schnell wandelnde Spielgemeinschaft. In der spielte die Besetzung abbruchreifer Buden ebenso eine bedeutende Rolle wie der Partnertausch, die Kneipen-Café-Wohnungs-Gespräche, Haus-Lesungen und Hof-Ausstellungen, das unaufhörliche Trinken von Tee und Wein, das ewige Nudelessen in allen Varianten und das trotzige Tragen von Jeans und Parka. Das Wesentlichste war, sich Zeit zu nehmen und Zeit zu geben, wie das jeder jungen Generation entspricht, die nicht die maßgeschneiderten Kleider der Eltern auftragen will. Gemäß dem Motto, das eine Parole im Prenzlauer Berg war: „Wir lassen uns die DDR nicht einimpfen!“ Die wenigsten, die im Prenzlauer Berg auftauchten, waren geborene Berliner, die allerwenigsten Prenzlauer Berger. Die meisten stammten aus den Provinzen der DDR, Bezirke genannt, die der DDR-Provinz entkommen wollten. Für viele wurde der Prenzlauer Berg tatsächlich zum Durchgangszimmer in den Westen. Ihre Treue zum Stadtbezirk war ihre Untreue. War Untreue nicht das einzige, immer funktionierende Regulativ der Gemeinsamkeit und Gemeinschaft im Prenzlauer Berg? War Treulosigkeit nicht das Prinzip des künstlerischen Prenzlauer Bergs? War es nicht jenes regulierende Prinzip, das jene verständlichen wie unverständlichen Treuebündnisse zwischen Person und Person, Kunst und Kunst, Personen und Institutionen ermöglichte? Also die Haltungen und Handlungen des treulosesten aller untreuen Treuen: Sascha Anderson!

Für einige der Auskunftgeber bleibt er der Protagonist des „Prenzlbergs“, der Promoter der erdachten Szene, der Protegierte, der protegierte. Wenn das so ist - so wahr uns Gauck helfe!-, dann ist Anderson der Kopf des Phantoms „Prenzlberg“. Wie in der gewesenen Wirklichkeit, ist der ambitionierte Promotor häufiger im Gerede als entscheidende Integratoren wie Elke Erb und Ekkehard Maaß. Beide hätten gut mit einem eigenständigen Beitrag in die Publikation gepaßt. Offensichtlich wurde nicht ohne Absicht auf viele Hauptstimmen der vermeintlichen „Szene“ verzichtet. Das heißt auf Namen, die sich in den Achtzigern den Durchbruch in die Medienöffentlichkeit ermöglichten oder denen der Durchbruch ermöglicht wurde. Auf jene, denen spielerische Darstellung wichtiger war als wahrhaftige Selbstäußerung. Der Vorzug des Buches ist, daß nicht die Tänzer auf der Spitze zur Sprache kommen, sondern das Leben auf den Brettern der Basis, ohne die auch kein Spitzentanz sein kann. Wer und was wirklich Basis und wirklich Spitze war, ist ohnehin noch nicht entschieden. Gesicherte Tatsache ist hingegen, daß DDRler doch ganz schöne Biographien hatten, deren Mangel Volker Braun einst beklagte. Garantiert waren viele DDR-Biographien nicht heftig bewegte und bewegende. Die in Durchgangszimmer Prenzlauer Berg erinnerten Lebensläufe sind voller enormer Auf- und Abschwünge. Sie sind pralle Lebensgeschichten. Vergleichbar in manchem, sind sie unvergleichbare individuelle Geschichten des Lebens, die Teil einer lokalen Region, der Situation und Stimmungen eines Landes sind. Jeder der Beteiligten hat seinen Prenzlauer Berg erlebt und gelebt. Jeder hat seine Interpretation, seine Definition für das, was für ihn Prenzlauer Berg ist. Der Prenzlauer Berg ist für jeden literarisch, künstlerisch, politisch Ambitionierten das, was er im Prenzlauer Berg war und ist. Jeder Selbstporträtist porträtiert auch den Prenzlauer Berg. In dem Buch wird niemand zur Repräsentationsfigur. Repräsentativ für den Prenzlauer Berg sind die Ausgewählten dennoch. Somit auch Teil der deklarierten „Künstlersozialgeschichte“, in der jeder für sich steht. Was, immer wieder, auch jeder mehr oder weniger druckreife Satz belegt.

Nicht eine nichtige Nachbetrachtung Beteiligter und Betroffener, die sich zur peinlichen, weil zu späten Beerdigung der Legende „Prenzlberg“ eingefunden haben, ist das Buch auch nicht das, was man Prenzlauer Berg in Progreß nennen könnte. Durchgangszimmer Prenzlauer Berg bietet eine eindringliche wie eindrucksvolle Rückschau ohne Zorn. Denn: „Es gab überhaupt viel zu finden in dieser Zeit“, wie der Graphiker Grischa Meyer sagt. Eine Menge von dem ist zusammengekommen, „wie das früher hier so ungefähr war“, wie der Verleger des Buches, Frank Böttcher, in seinem lockeren Erinnerungs-Vorwort abschließend formuliert. Aufzubewahren ist, was ausgesprochen wurde, für alle Zeit. Menschen sprechen von sich, die bereit sind, im Sprechen zu entdecken. Zuerst sich selbst. Aber nicht nur sich. Zu einigen möchte man am liebsten sofort laufen, um mit ihnen weiterzureden. Um weiterzukommen auf der begonnenen Entdeckungsreise, die zu den Sprechenden, zu einem Stadtbezirk und schließlich zum eigenen Ich führt. Das Buch ist ein schönes Lebens-Buch, das vom schwierig-schönen Lebens-Werk in - wie immer - schwieriger Zeit erzählt. Da die Gesprächsführerinnen Barbara Felsmann und Annett Gröschner nicht das Seziermesser der Wissenschaft gewetzt und angesetzt haben, ist das Buch voll des Respekts vor den Menschen und ihrem Leben. Nichts ist klinisch kalt und kahl. Nichts ist parfümiert. Mit dem Sinn fürs Spüren gemacht, muß man spüren. Das macht das Buch so wichtig und wertvoll. Durchgangszimmer Prenzlauer Berg wäscht allen, die stets so aufgeregt über den „Prenzlberg“ schwafelten, den krausen Kopf. Phantom passé!

*Barbara Felsmann/Annett Gröschner (Hrsg.):
Durchgangszimmer Prenzlauer Berg
Eine Berliner Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften.
Lukas Verlag, Berlin 1999, 572 S.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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