Rezension von Christel Berger


Frauen bedenken das Jahrhundert

Evamaria Engel (Hrsg.):
„Was ein Jahrtausend sei? Laß michs bedenken“
erinnerung erfahrung hoffnung.
frauen im 20. jahrhundert.
edition bodoni, Berlin 1999, 207 S.


Der Titel hat etwas Bombastisches, und möglicherweise liegt das bedenkenswerte Problem des Buches auch in der Spanne zwischen dem großen Anspruch und der „Kleinheit“ des jeweils Erzählten. Statt „Jahrtausend“ wäre „Jahrhundert“ exakter gewesen, aber in Albrecht Goes' Gedicht „Die alte Stadt“ heißt es nun einmal Jahrtausend. Und Historiker denken vielleicht in solchen Dimensionen.

Eine Historikerin, nämlich Evamaria Engel, hatte auch die Idee: Im April 1998, als wir „Gewöhnlichen“ das Wort „Millennium“ noch nie gehört hatten, verschickte sie einen Rundbrief an Kolleginnen und Freundinnen aus dem Bekannten- und Verwandtenkreis mit der Bitte um einen kurzen Text (nicht mehr als zwei Seiten), in dem ganz persönliche „erinnerungen, erfahrungen, hoffnungen“, geknüpft an das Bedenken der Jahrtausendschwelle, beschrieben werden sollten. 140 Frauen wurden angeschrieben, 60 kamen letztlich diesem Wunsch nach. Die Autorinnen sind alle keine Schriftstellerinnen, viele haben studiert, arbeiteten und arbeiten als Wissenschaftlerinnen, Lehrerinnen, Ärztinnen, es sind aber auch Krankenschwestern oder Kindergärtnerinnen und Gymnasiastinnen vertreten. Altersmäßig überwiegen die Frauen über 50, und allesamt sind sie aus dem Osten, auch wenn einige jetzt in München oder Schleswig leben. Aus den Texten wurde ein Buch, von Evamaria Engel selbst finanziert und bei ihr zu erwerben.

Ein interessantes Experiment, das aus dem Rahmen jetzt üblicher Befragungen fällt, weil es hier keine vorgegebenen Fragen gibt. Die Entscheidung für einen bestimmten Aspekt oder einen Moment der Erinnerung bzw. Lebensbetrachtung ist also schon eine ganz persönliche und bestimmt im Grunde den jeweiligen Text. Immens Unterschiedliches und reichlich Jahrhundert-Stoff hat sich die Herausgeberin auch erhofft, und unterschiedlich und reich an Stoff fallen die Texte auch aus. Ein Kompendium von Frauenalltag: Viele lassen die Erinnerung an geliebte und bewunderte Personen und Vorfahren - meistens die Großmutter, die es soviel schwerer hatte - aufleben, andere nehmen Kriegs- und Nachkriegszeit zum Thema und begründen damit Friedenshoffnung und humanistische Überzeugung. Wieder andere erzählen von Kindern oder Enkeln, aber auch berufliche Erfolge sind Gegenstand der Texte, wobei kaum eine Autorin es sich versagt, die Erfahrung von heute zu dem Beschriebenen in Beziehung zu setzen. Während die Älteren - meist durch die Wende aus dem Berufsleben gedrängt - die jetzige Entwicklung mit Wehmut und Skepsis betrachten, sind viele Jüngere optimistischer, auch wenn sie das nun geltende Gebot des Ellenbogens bemerken und bedauern. Eine fühlt sich durch die Wende in ihrer Selbstverwirklichung befördert, eine andere gelähmt. Eine vergleicht ihre Vorstellungen vom Jahr 2000 aus Kindheitszeiten mit ihrer heutigen Wirklichkeit und konstatiert teilweise Bestätigung und vor allem Gewinn, während andere die verlorengegangene Sicherheit der beruflichen Perspektive beklagen. Also tatsächlich Vielfalt und Unterschiedliches, und dennoch kann ich mich des Eindrucks einer bestimmten Gleichförmigkeit nicht erwehren. Liegt es am Konzept, das mit der Bitte um ganz Persönliches auch das sehr Allgemeine, „Über-Persönliche“ - das Jahrtausend, die Hoffnung - verband? (In einem Text lese ich: „Etwas Heiteres, Optimistisches“ sei als „Fingerzeig“ auch mit angegeben worden. Dies etwa im Sinne des Kästnerschen bzw. Pädagogisch-Ideologischem „Wo bleibt das Positive?“) Liegt es an den Schreiberinnen, die, allesamt keine Profis, sich allzusehr den Forderungen von Schulaufsätzen „Mein schönstes Ferienerlebnis“ - nun: „Mein wichtigstes Lebens-Erlebnis“- anpaßten, wo es immer auch eine Moral, ein Fazit und die ewige Gliederung mit dem runden Bogen brauchte, um eine Eins zu bekommen? Und eine gute Zensur wollen die Autorinnen wohl alle, denn sie sind alle starke, kraftvolle und wahrscheinlich ehrgeizige Frauen, die es zu etwas gebracht hatten oder weiter darum kämpfen. Vielleicht liegt die Gleichförmigkeit auch an der gemeinsamen Erfahrung DDR, die doch ein „Ländle“ war mit engen Konventionen, Riten und Normen? Andererseits sind trotz des Fingerzeigs „Optimismus“ viele Beiträge eher wehmütig, und es entsteht ein Tenor der Unzufriedenheit mit der Gegenwart ohne das Wissen, wie Veränderung bewirkt werden könnte. Vielleicht ist es auch die geforderte Kürze jedes Textes, die ein Tieferloten nicht zuließ.

Ein Beitrag fällt heraus: das Bekenntnis einer arbeitslosen Autorin, die einen Text zugesagt hatte und beim Schreiben merkt, daß ihr die „wirklichen Worte“ fehlen: „Sind wirkliche Worte richtig oder richtige Worte wirklich?“ Sie steht möglicherweise für viele Frauen, die nicht schrieben. Diesem Beitrag fehlt das in den anderen Texten bemühte Ausgewogen-sein, das Zufriedenheit mit sich und Kritik an der Wirklichkeit in ein imaginäres Lot bringt. Diese Autorin verweigert eine Bravheit oder Gefälligkeit, die mancher Beitrag möglicherweise ungewollt enthält. Aber genau hier halte ich das Experiment wiederum für hochinteressant, zeigt es doch auch, wie emanzipiert und andererseits normiert Frauenvorstellungen über dieses und aus diesem Jahrhundert sind.

Evamaria Engel ist für ihre Initiative zu danken. Wer das Buch liest, hat unendlich viel Stoff zum Nachdenken und Drüberreden. Und was will ein Buch mehr?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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