Eine Rezension von Horst Wagner


Eine aussterbende Spezies?

Kerstin & Gunnar Decker:
Gefühlsausbrüche oder Ewig pubertiert der Ostdeutsche
Reportagen, Polemiken, Porträts.
Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2000, 319 S.


Die Ostdeutschen stürben aus. Deshalb sei es Zeit, diese „eigentümliche Unterart der Gattung Homo sapiens“ noch einmal von nahem zu betrachten. So begründen die Journalistin Kerstin und der Philosoph Gunnar Decker das Anliegen ihres Sammelbandes. In ihm haben sie 55 Beiträge zusammengestellt, die sie ursprünglich zumeist für Zeitungen und Zeitschriften - von der „FAZ“ und dem „Neuen Deutschland“ über die „taz“ und das „Magazin“ bis zur Frauenzeitschrift „Weibblick“ und der Stadtillustrierten „Zitty“ - geschrieben hatten. Bevor sie, die „Ossis“, aussterben, haben sie alle ihre mehr oder weniger starken Gefühlsausbrüche, denn zu Arbeiter- und Bauernzeiten war ihnen - nicht Marx, sondern Maaz hat es uns gelehrt - ein allgemeiner Gefühlsstau verordnet. Gefühlvoll und vehement wehren sie deshalb, wie die Autoren im Vorwort nachweisen, neue Dogmen ab, wie die eines Christian Pfeiffer vom kollektiven Töpfchengehen als Ursache jugendlichen Rechtsradikalismus oder die ostdeutsche Faulheit entlarvende Streitschrift von Thomas Roethe Arbeiten wie bei Honecker, leben wie bei Kohl. Die Folge dessen, so die Deckers weiter: „Erst heute entsteht das Staatsvolk, das sich die SED so sehr wünschte und nie bekam.“

Nach solcher Einleitung ist man doch etwas überrascht, daß die beiden ersten im Bändchen Porträtierten waschechte und dazu noch höchst prominente Wessis sind. Heiner Geißler nämlich, der Querdenker der CDU, und Uta Ranke-Heinemann, die - fast hätte man es schon vergessen - bei der letzten Bundespräsidentenwahl für die PDS gegen ihren Neffen Johannes Rau kandidierte. Auch im folgenden findet man erstaunlicherweise immer wieder mal Persönlichkeiten mit der Gnade westlicher Biographien unter die „Ossis“ gemischt, wie die Mahnmal-Initiatorin Lea Rosh oder den neuen, aus Wien importierten BE-Intendanten Claus Peymann. Die Mehrzahl der Vorgestellten sind aber echte Ostdeutsche, womit neben Personen auch Straßen, Plätze und Kneipen gemeint sind.

Da lesen wir über Hans Modrow, den Ministerpräsidenten der Wendezeit, als „Asket vom Frankfurter Tor“ und erleben Wolfgang Thierse, den heutigen Bundestagspräsidenten, als volksnahen Wahlkämpfer. Wir erfahren, warum der Karikaturist Manfred Bofinger gern wieder Kind sein möchte und warum die Schriftstellerin Daniela Dahn nicht Verfassungsrichterin werden durfte. Wir begegnen dem Maueröffner Schabowski - noch bevor er in die Justizvollzugsanstalt einziehen mußte - als Layouter einer hessischen Heimatzeitung und den Mambospieler Michael Gwisdek als Regisseur und Hauptdarsteller. Die Malerin Nuria Quevedo reflektiert über Farben und Träume, der Einigungsvertrags-Unterhändler Günther Krause über Grundstücke und Affären. Die Entmietungspraktiken in Berlin-Mitte werden enthüllt und die Besonderheiten der Kneipen vom Schiffbauerdamm beschrieben. Erschütternd die Geschichte des Sinti- und Roma-Vorsitzenden Otto Rosenberg, der als neunjähriger Auschwitz erlebte. Dramatisch die Schilderung der Zirkusfrau Ursula Böttcher, wie ihre weltberühmte Eisbärennummer „abgewickelt“ wurde. Fast schon Karikatur das Porträt Karl-Eduard von Schnitzlers vom „Schwarzen Kanal“.

Sonst aber sind die Beiträge meist wohlwollend-heiterer Natur, weder nostalgisch noch verdammend, manche von leichter Ironie überzogen. Es sind Momentaufnahmen, gleichsam mit feiner Feder gezeichnete Skizzen, sehr persönlich und überhaupt nicht stereotyp. Mit originellen sprachlichen Bildern, wie dem aus Eisenhüttenstadt: „Hier sind einst die Häuser zum Fahnenappell angetreten und bei den Worten Achtung! Augen gerade aus! vor Schreck erstarrt.“ Oder mit überraschenden Schlußfolgerungen: „Daß ein Staat um seiner Bürger willen da sein müsse, ist wohl das tiefstwurzelnde Vorurteil von Menschen, die einmal in der DDR lebten.“ Unter den Porträtierten überwiegen verständlicherweise die Prominenten, solche, von denen man glaubte, schon alles gelesen zu haben. Aber man erfährt auch über sie manch neues Detail, manchen Charakterzug, den man so nicht vermutet hätte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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