Eine Rezension von Gisela Reller


Schwerer ist ein Leben kaum vorstellbar ...

Juliet Butler: Masha & Dasha
Autobiographie eines siamesischen Zwillingspaares.
Aus dem Englischen von Christine Strüh.
Scherz Verlag, München 2000, 253 S.


Für dieses Buch muß man stark sein: Masha und Dasha sind eineiige Zwillingsschwestern, die am 3. Januar 1950 in Moskau geboren wurden - als dunkelhaarige siamesische Zwillinge, an der Taille zusammengewachsen. Jedes der Mädchen hat eine eigene Wirbelsäule und ein eigenes Nervensystem, sie haben zwei Herzen, zwei Verdauungssysteme, je zwei Nieren und eine separate Leber. Aber sie besitzen nur eine Blase, teilen sich ihre Fortpflanzungsorgane und den Blutkreislauf; sie laufen (mit Krücken) auf zwei Beinen (ein drittes, deformiertes Bein wurde amputiert).

Erschütternd, wie unmenschlich die ruhmreiche Sowjetunion mit ihren Behinderten umging. Die Töchter wurden der Mutter - einer einfachen fünfunddreißigjährigen Bauersfrau - gleich nach der Geburt weggenommen, kurze Zeit später sagte man ihr, daß die „Monster“ (russ. Urodzi) an Lungenentzündung gestorben seien. Und den unglücklichen Kindern sagte man, als sie anfingen, nach der Mutter zu fragen, sie sei tot. Unter diesen Umständen hatte Prof. Anochin, der damals führende sowjetische Physiologe, „ideale Versuchsobjekte“. Sechs Jahre lang waren die kleinen Mädchen ausschließlich Forschungsgegenstand seines Wissenschaftlerkollektivs. So wurde ein Zwilling zum Beispiel in Eis gepackt, um festzustellen, wie rasch die Temperatur des anderen abfiel. Oder es wurden dem einen Zwilling schmerzhafte Verbrennungen zugefügt, um die Reaktion des anderen zu messen. Periodisch wurde einem der beiden Mädchen die Nahrung entzogen, während das andere normal gefüttert wurde. Man drehte Dokumentarfilme mit ihnen, schrieb Dissertationen über sie. „Niemand nahm uns auf den Arm und tröstete uns, wenn wir weinten.“ Anochin wollte u.a. herausfinden, ob sich die Zwillinge identisch verhalten oder sich zu unterschiedlichen Persönlichkeiten entwickeln würden. Damals war Anochins Forschungsansatz durchaus nicht ungefährlich, denn auf dem Gebiet der Gentechnologie zu arbeiten war von Stalin persönlich verboten worden. Als Masha und Dasha geboren wurden, durfte man in der Sowjetunion nicht einmal andeuten, daß sich siamesische Zwillinge trotz identischer Umgebung unterschiedlich entwickeln könnten.

Als Masha und Dasha sechs Jahre alt waren, wurden sie ins Moskauer Zentralinstitut für wissenschaftliche Prothetik verlegt. Da konnten die beiden weder laufen, noch sich aufrichten, kaum sprechen, nicht alleine essen, waren nicht sauber. Sie hatten sechs Jahre im Bett verbracht, liegend in einem Winkel von neunzig Grad zueinander. Acht Jahre blieben sie im Moskauer Zentralinstitut, das Personal war nett, behandelte sie wie normale Kinder, zum erstenmal erfuhren sie menschliche Zuwendung. Auf eigenen Wunsch wurden sie dann ins Internat der kleinen ukrainischen Stadt Nowotscherkassk verlegt, wo sie mit anderen behinderten Kindern ihres Alters zum erstmals richtigen Unterricht erhielten.

Als Masha und Dasha Kriwoschljapowa achtzehn Jahre alt wurden, erhielten sie einen Paß. Einen! Viele bürokratische Hürden waren zu überwinden, bis sie einen zweiten Paß bekamen. Wenn Behinderte achtzehn bzw. zwanzig Jahre alt wurden, kamen sie in Rußland automatisch ins Altersheim, denn wo es keine Behinderten gab, konnte es auch keine Behindertenheime geben. Inzwischen leben Masha und Dasha - nunmehr fünfzig Jahre alt - in ihrem dritten Altersheim. Im ersten wimmelte es von Wanzen und Kakerlaken, im zweiten (hier lebten die beiden Frauen achtzehn Jahre lang.) hatten sie ein neun Quadratmeter großes Zimmer, ihre Toilette war so klein, daß sie sich nur seitlich hineinquetschen konnten, im dritten haben sie - dank Gorbatschows Glasnost und internationaler Solidarität - ein geräumiges Doppelzimmer mit großer Toilette und Dusche - einen Rollstuhl, einen Farbfernseher ...

Beide Frauen haben sich im Laufe ihres Lebens ganz unterschiedlich entwickelt. Dasha gilt als freundlich, nachgiebig, sanftmütig, nachdenklich, Masha als unnachgiebig, hart, auch egozentrisch, sie ist die Bestimmerin, die für das Wohl beider sorgt, aber in erster Linie ihren eigenen Kopf durchsetzt. „Wären wir beide so weich wie Dasha“, sagt Masha, „könnten wir die ganze Zeit nur heulen.“ Dieser Unterschied in ihrer Persönlichkeit wird auch in ihrer Erzählweise deutlich: Sie sprechen im Buch abwechselnd über sich, mit sehr unterschiedlichen Stimmen und Gefühlen.

So tief wie ihr Schicksal hat mich erschüttert, wie die russische Öffentlichkeit auf die beiden Behinderten reagierte: Mit unglaublich aufdringlicher Neugier, nicht wiederzugebender Abfälligkeit, unbarmherzig, mitleidslos. Sponsoren ermöglichten für Masha und Dasha Anfang der neunziger Jahre einen Urlaubsaufenthalt in Deutschland. Sie hatten in einem normalen Hotel gewohnt, waren in normale Restaurants gegangen und niemand habe sie angestarrt, nicht einmal die Kinder (was mir zu glauben schwerfällt). Wieder in Rußland, verfiel Dasha in tiefe Depressionen bei dem Gedanken, wie anders ihr Leben verlaufen wäre, wären sie in einem für Behinderte aufgeschlossenen Land geboren worden. Dasha griff zur Flasche, seit einigen Jahren ist sie Alkoholikerin. Da beide Schwestern nur einen Blutkreislauf haben, ist es inzwischen auch Masha, obwohl sie keinen Tropfen trinkt.

Masha und Dasha (die richtige Schreibweise aus dem Russischen wäre Mascha und Dascha) hatte einen langen Weg, bis es in Deutsch erschien. Aufgeschrieben hat die Lebensgeschichte dieser beiden ungewöhnlich tapferen Frauen die englische Journalistin Juliet Butler. Sie studierte Russisch an der Exeter University und arbeitet seit 1982 im Moskauer Büro des Newsweek Magazine. Die aktive Masha hatte sich an sie gewandt, damit sie ihnen Gehör in der Öffentlichkeit verschaffe, denn dank Glasnost und Perestroika endlich befreit von einem unwürdigen Leben in den Verwahranstalten Sowjetrußlands, hoffen beide, mit diesem Buch zu erreichen, daß die Menschen „echtes Verständnis bekommen werden für die, mit denen es das Schicksal weniger gut gemeint hat“.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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