Eine Rezension von Dorothea Körner

Nostalgie eines „Widerständlers“

Jens Wonneberger: Wiesinger
Der Mann mit Hacke und Spaten.
Roman.
Kowalke Verlag, Berlin 1999, 249 S.


Thomas Brussig hat es geschafft, eine ironische Sicht auf seine DDR-Vergangenheit zu entwickeln. Das hätte ich mir bei Jens Wonneberger auch gewünscht, selbst wenn es ihn mehr Anstrengung gekostet hätte, weil im Mittelpunkt seines Romans ein Aussteiger aus dem DDR-System steht, ein Medizinstudent, der nach dem Physikum aus politischen Gründen geext wurde, danach als Totengräber arbeitete und in seiner sächsischen Heimatstadt als Inbegriff der Opposition galt.

Jens Wonneberger (geb. 1960) erzählt vom Untergang eines „Widerständlers“ seiner Generation. Er verfolgt dessen Biographie aus dem Blickwinkel des gleichaltrigen, aber in der DDR „normaler“ lebenden und daher erfolgreicheren Schulfreundes. Berichtet wird in der etwas altväterlichen Manier des „Chronisten“, womit die Struktur des Dr. Faustus imitiert wird: der biedere Serenus Zeitblom als Biograph seines genialen und gefährdeten Jugendfreundes Adrian Leverkühn. Ich muß sagen, daß mich diese Parallele geärgert hat, daß sie mir in diesem Buch etwas künstlich und maniriert erschien, denn der Erzähler und sein Freund sind bei Abfassung des Textes noch in den Dreißigern. Ich könnte mir einen Schelmenroman über den „Widerständler“ Boris Wiesinger vorstellen – und einige seiner Einfälle sind grotesk genug, um dieses Genre zu bedienen. Ich wünschte mir zumindest eine frischere, respektlos-nüchterne Sicht des Freundes auf den langjährigen oppositionellen Komplizen und nicht diese Anklänge von Tiefsinn und vielleicht sogar Tragik, die eben nicht überzeugend gestaltet sind.

Der Held des vorliegenden Romans, Boris Wiesinger, der sein Außenseitertum in der DDR als Totengräber kultiviert, sich als oppositioneller Schriftsteller – obwohl untalentiert – zu profilieren sucht, ein „anarchistisches“ Äußeres pflegt, ironisch-paradoxe Sprüche klopft und mit Schelmenstreichen, die er dem Staatsapparat spielt, und kindlich-naiven oppositionellen Aktionen seine Unangepaßtheit unter Beweis stellt, mag für manche Aussteiger seiner Generation charakteristisch sein, als Vertreter eines substantiellen Widerstands – wie das in diesem Roman trotz gewisser kritischer Distanziertheit behauptet wird – ist er mir von vornherein zu läppisch, zu selbstverliebt, zu unproduktiv. Auch daß ein intelligenter oppositioneller Dreißigjähriger nach der Wende überhaupt keine Chance für sich gesehen hat, sondern weiter die Rolle des „Untergehers“ spielte, hat mich nicht recht überzeugt. Zwar gibt es interessante kritische Überlegungen des Erzählers zur Persönlichkeit des Freundes und zur Wirksamkeit ihres gemeinsamen Widerstandes: „Hatten wir einander nicht nur benutzt? Sahen wir in dem jeweils anderen nicht nur die gelebte Möglichkeit dessen, was uns selbst nicht möglich schien. Ich in Wiesinger dessen Kompromißlosigkeit, die zu leben mir selbst der Mut fehlte. Er in mir die Verkörperung all dessen, was ihm durch den erzwungenen Abbruch seines Studiums verwehrt blieb und was er als bürgerliche Zwänge und Konventionen vorgab zu verachten?“ Oder: „Das Scheitern klang in Wiesingers Worten wie ein Verdienst, ein Zeichen für Ehrlichkeit. Hinter jedem Erfolg witterte er Anpassung, hinter jedem Ergebnis einen faulen Kompromiß.“ Oder: „Es war schmerzlich zu erfahren, daß das bißchen Mut, das wir gehabt hatten, zu wenig gewesen war, aber noch schmerzlicher war die Erkenntnis, daß jene, die gegangen waren und deren Gehen wir damals als Verrat empfunden hatten, ja selbst die, deren Schweigen und deren Gleichgültigkeit wir verhöhnt und uns darüber aufgeregt hatten mit ihrer stummen Verweigerung mehr zum Zusammenbrechen des Systems beigetragen hatten als wir mit unserem bißchen Mut.“ Als Grundton des Romans bleibt jedoch die Erinnerung an eine aufregende gemeinsame Zeit, in der Wiesinger etwas Besonderes war und von dieser Aura lebte. „Er [der Erzähler, D. K.] war sich nicht sicher, ob er [Wiesinger, D. K.] je so etwas wie eine Vision gehabt hatte, aber er hatte einen Widerpart, etwas, das seinem Leben Sinn gab. Die Leute an der Uni, die seine Exmatrikulation betrieben hatten, der Mann auf der Meldestelle, der Spitzel ..., er hatte sich an ihnen reiben können, hatte sich mit ihnen zu messen.“ All dies fiel nach der Wende weg, und Wiesinger stürzte ins Leere.

Mich hat der Roman nicht recht überzeugt, ich habe mich bei der Lektüre gelangweilt, obwohl das Buch solide gearbeitet ist und die Idee vom selbstverliebten „Widerständler“, der nach dem Ende der DDR keinen Lebenssinn mehr findet, mich im nachhinein fasziniert. Im Roman werden verschiedene Stationen der Oppositionsgeschichte in der DDR aus der Perspektive einer Kleinstadt abgearbeitet: das Begräbnis Robert Havemanns, eine Unterschriftenaktion für Stephan Krawczyk, eine Friedensnacht in der Friedhofskapelle, Schriften der Berliner Umweltbibliothek, der 1. Mai und die Wahlfälschung 1989, die Montagsdemonstrationen und der Fall der Mauer, Stasispitzel und die Gauck-Behörde. Schließlich auch das „Lifting“ der Kleinstadt nach der Wende: die neue Inneneinrichtung der Apotheke, gläserne Fassaden für einen zugezogenen Finanzberater, der DDR-Campingwagen als Biertheke und Treffpunkt von Arbeitslosen, die „gewendeten“ Redakteure des Kreisblättchens und deren zweit- bis drittklassige neue Kollegen aus dem Westen. Das alles kennt man allzu gut. Das wirklich Neue an der Idee dieses Romans habe ich zu wenig herausgelesen. Mir scheint, das müßte künstlerisch souveräner und eindeutiger gestaltet werden. Vielfach wirkt der Roman doch wie die nostalgischen Erinnerungen an eine „große“ und aufregende gemeinsame „Widerstandszeit“.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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