Eine Rezension von Marianne Gerber

In der Landschaft van Goghs

Birgit Vanderbeke:
Ich sehe was, was du nicht siehst
Alexander Fest Verlag, Berlin 1999, 121 S.


„Immer wollte der Osten der Westen sein, und dann war er es, und als er es war, wollte er es nun plötzlich doch nicht sein wegen der Mieten und Arbeitslosen, und der Westen mochte den Osten nicht haben wegen der Krankenkassenreform und der Steuern und wegen der komischen Einkaufsbeutel, die sie dort einfach weiterbenutzten, und also blieb der Osten der Osten und der Westen der Westen, alle waren unzufrieden und schlecht gelaunt ...“ – Birgit Vanderbeke, 1956 im brandenburgischen Dahme geboren, kultiviert diesen kindlich-naiven Stil in ihren Texten. Zur Analyse politischen Geschehens entsteht so eine ironische Distanz, Naturbeschreibungen gelingen glänzend: „Es war sehr viel Himmel auf einmal, und ich dachte, hinterm Haus ist wahrscheinlich auch noch welcher und mittendrin lag auf dem Rücken der Mond.“ – Paul Klee läßt grüßen, den die Autorin offensichtlich sehr mag.

In diesem neuen Buch der Bachmann-Preisträgerin geht es jedoch um van Gogh und dessen Landschaft. Birgit Vanderbeke, die heute in Südfrankreich lebt, erzählt, wie sie mit ihrem kleinen Sohn von Westberlin dorthin auswandert und eine fremde Welt kennenlernt, Menschen mit unbekannten Sitten, erstaunlichen Lebensregeln und vor allem ein unbegreifliches Klima, dessen extremen Belastungen im Herbst und besonders im Winter die junge Frau kaum gewachsen ist. „Ich verstand weder das Wetter noch die Gesichter der Leute“, schreibt sie, und anläßlich eines Straßenfestes: „... es roch billig und es sah billig aus. Billig und grell und ärmlich, und es war zu mißbilligen, daß ich das Kind in eine so ärmliche Umgebung gebracht hatte ...“ – Nach diesem Urteil, das sie im Geist ihrer Mutter fällt, findet die Autorin wieder zu ihrem eigenen Blick auf die festlich herausgeputzten Menschen dieses Landstrichs, und sie beginnt, ihre neue Heimat zu lieben.

Das Buch beschreibt, wie mit ersten Kontakten zu den Einheimischen, der Übernahme ihrer Gewohnheiten, die sich als nützlich erweisen, und dem geduldigen Ertragen der Naturunbilden eine langsame Veränderung in der Erzählerin vorgeht. „Ich sehe was, was du nicht siehst“, meint, daß sie einen neuen Blick gewinnt, der tiefer dringt als zuvor, der um andere Zusammenhänge weiß als die im Sommer einfallenden Touristen, die die Köstlichkeiten dieser Gegend kaum zu schätzen wissen, aber beginnen, alte Häuser auszubauen und sie mit Fußbodenheizung und Solaranlage auszustatten. Die Langeweile der modernen Zivilisation, des „globalen Dorfes“, in dem jeder bereits die Welt zu kennen meint, wird mit dem Erlebnis des überwältigenden Lichts und der berauschenden Schönheit dieser ungebändigten Natur konfrontiert, die sich im Winter so menschenfeindlich gibt, daß der einsame Fremde Gefahr läuft, dabei wahnsinnig zu werden. „Ein Wind fing an, den ich bis dahin nicht gekannt hatte. Er war überall, und ich hatte nicht gewußt, daß Wind auch in Häusern sein kann, ... [ich] hatte noch niemals so gefroren“, berichtet die Autorin. Sie vermeidet es in jenen Wochen, an van Gogh zu denken.

Die psychische Belastung der Fremdheit und eine damit verbundene unerklärliche Angst, unter der die Erzählerin zeitweise leidet, aber auch deren Überwindung durch nachbarliche Freundlichkeit, die Gelassenheit der Einheimischen und kleine, denkwürdige Erlebnisse mit ihnen – so ihr Respekt vor der Entscheidung einer Katze oder ihr achtungsvoller Umgang mit Kindern –, geben der Prosa besonders gegen Ende Intensität. Wenn die Autorin sich im Frühling am Sprießen der selbst gesteckten Veilchen freut, gerät die Erzählung ins Schwingen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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