Eine Rezension von Gudrun Schmidt

Liebenswürdiger Flaneur

Carl-Johan Vallgren: Ein Barbar in Berlin
Die Stadt in 8 Kapiteln.
Aus dem Schwedischen von Angelika Gundlach.
Quadriga Verlag, Berlin 2000, 224 S.


Er wollte kein Reisebuch schreiben, sondern ein Berlin-Buch, wie er es selbst gern lesen würde. So Carl-Johan Vallgren zur Premiere seines Buches Ein Barbar in Berlin. Der Saal der Nordischen Botschaft im Berliner Tiergarten war zu diesem Anlaß überfüllt. Der Autor, 1964 in Linköping geboren, gilt in seiner schwedischen Heimat als Bestsellerautor. Sein Roman Der Kontrakt des Spielers ist im vergangenen Jahr auch in deutscher Übersetzung erschienen. Nach Madrid und Kopenhagen kam Vallgren als Stipendiat des schwedischen Schriftstellerfonds nach Berlin. Das war vor sieben Jahren. Genügend Zeit seither, sich umzutun, sich einzuleben in der Stadt, die schon vor ihm auf andere berühmte Landsleute eine Faszination auszuüben schien. Spuren gibt es viele. Vallgren ist ihnen akribisch nachgegangen. Wir erfahren, in welcher Lokalität Edvard Munch verkehrte, daß Strindbergs Lieblingsbild „Toteninsel“ von Böcklin in der Nationalgalerie hängt, und damit wir's nicht vergessen: Der Fernsehturm wurde mit Hilfe schwedischer Ingenieure gebaut. Erwähnenswert auch dieser Fakt: Aus schwedischem Granit ist das Sowjetische Ehrenmal im Treptower Park errichtet. Ursprünglich als Baumaterial für Speers „Germania“, Hauptstadt des deutschen Weltreiches, importiert. Wie sich manche Dinge doch ins Gegenteil verkehren können.

Vallgren bekennt, Strindberg-Fan zu sein. Seine Verehrung geht soweit, daß er sich im Buchtitel auf ein Essay Strindbergs, auf dessen Ein Barbar in Paris bezieht. In der schwedischen Originalfassung ist Vallgrens Buch allerdings unter dem Titel Berlin in 8 Kapiteln erschienen. Den Anstoß zu dem Berlin-Reiseführer gab sein schwedischer Verleger. Seine erste Bleibe in Berlin fand Vallgren in der Sophienstraße. Als er seinem Verleger das Viertel in Berlins historischer Mitte zeigte, war seine Begeisterung so ansteckend, daß der Verleger prompt ein Buch „in Auftrag gab“.

Die Begeisterung für die Stadt ist geblieben, wenn Vallgren mittlerweile auch Kreuzberg zu seinem Lieblingsbezirk erklärt hat.

Berlin im 20. Jahrhundert – von der Wilhelminischen Epoche, über die Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Krieg, die Jahre der Teilung bis zur Wiedervereinigung spannt sich der Bogen. Eine Fülle von Material aus dieser widersprüchlichen Zeit galt es zu verarbeiten. Beeindruckend die Sachkenntnis, das Detailwissen des Autors. In diesen acht Kapiteln, die 100 Jahre Stadtgeschichte reflektieren, erweist sich der „schwedische Barbar“ als profunder Fremdenführer und charmanter Flaneur. Sein Buch bietet eine Mischung aus Bericht und Essay. In jedem Kapitel gibt es eine Hauptfigur, ein Ereignis oder Bauwerke, die eine bestimmte Epoche symbolisieren. In „Wilhelmiania“ ist es die Gegend um den Boulevard Unter den Linden, das Machtzentrum Deutschlands für die Kaiserzeit. Die Jahre der Weimarer Republik werden lebendig, wenn wir den Spuren von Franz Biberkopf am Alexanderplatz und im Scheunenviertel folgen. An Arnolt Bronnen, der seinen Mantel nach dem Wind hängt, und Albert Speer, Hitlers Generalbauinspektor und Rüstungsminister, versucht Vallgren Hintergründe der faschistischen Epoche zu erhellen. In Schöneberg und Kreuzberg, an Wohnorten von Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Andreas Baader, spürt der Autor den Ursachen für das Entstehen der RAF nach und versucht entscheidende Veränderungen im Westberlin der sechziger Jahre darzustellen.

„Das Schweigen der Anna Seghers“ ist ein Kapitel überschrieben, in dem Vallgren einen Besuch in der Gedenkstätte für die Dichterin in Berlin-Adlershof zum Anlaß nimmt, über die Nachkriegsgeschichte und das Verhalten der Intellektuellen in einer Diktatur zu reflektieren. Hier, wie im „Protest am Prenzlauer Berg“, gibt sich der Autor als distanzierter Betrachter. Sicher, über diese Zeit ist schon viel zu Papier gebracht worden. Die Fakten sind bekannt. Neues ist kaum zu erwarten. Im Nachrichtenstil rapportiert Vallgren, der die Maueröffnung nur aus Erinnerungen von Freunden und Berichten im Fernsehen kennt, die Ereignisse der Wendezeit. „Dank des Fernsehens breitet sich die Nachricht wie ein Lauffeuer in Berlin aus. Tausende von Menschen begaben sich ,sofort, unverzüglich' zur Mauer. An den Grenzübergängen bildeten sich Schlangen. Das Wachpersonal begriff ebensowenig wie sonst jemand, welche Regeln galten. Es herrschte die totale Verwirrung.“ Für Leser in Schweden mögen diese Informationen vielleicht interessant sein. Hierzulande wirken sie allzu „abgestanden“.

Vallgren mag sich wohl der Tücken bewußt gewesen sein, die die Struktur seines Handbuchs mit sich bringt. Deshalb fügt er jedem Kapitel noch einen 2. Teil hinzu, wo er dem „lieben Leser“ anregende und persönliche Tips gibt über Wohnstätten bekannter Leute, alternative Szene-Treffs, Hinterhofcafés, Galerien und und. Das liest sich amüsant und macht Lust, die Spuren aufzunehmen. Überhaupt hätte man gern mehr erfahren, wie der fremde Blick, der Blick von außen die Veränderungen in der schmerzvoll zusammenwachsenden Stadt wahrnimmt. Der Autor registriert zwar die verbreitete Meinung, „daß man Ost- und West-Berliner voneinander unterscheiden könne, an den Kleidern, an der Art, sich auszudrücken, an der Haltung, aber das stimmt nicht. Es ist etwas anderes. Ein eigentümlicher Detektor, ein Radar irgendeiner Art, der aus der entgegengesetzten Richtung mindestens genausogut funktioniert: der untrügliche Riecher des Ost-Berliners für den West-Berliner.“ Oder während einer S-Bahn-Fahrt in der Linie 1 von der Friedrichstraße nach Wannsee, die er als eine Klassenreise empfindet, fällt ihm auf: „Meine neuen Mitreisenden sind wirklich besser gekleidet, ihrer Identität ebenso sicher wie ihres relativen Reichtums; selbst in ihrer zerstreuten Hektik (die Art, wie sie sich bewegen, die Zeitung lesen oder die Uhr auf dem Bahnsteig betrachten) liegt eine Art Selbstverständlichkeit, die in der östlichen Stadthälfte ihresgleichen sucht.“ Das ist gut beobachtet. Schade, hier hätte man sich eine Fortsetzung gewünscht. Aber das gibt vielleicht ein neues Buch.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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