Eine Rezension von Hans-Rainer John

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Triptychon aus Roadmovies

Tim Staffel: Heimweh
Verlag Volk & Welt, Berlin 2000, 264 S.


Tim Staffel (geboren 1965 in Kassel, lebt seit 1993 in Berlin) hat einen neuen Roman vorgelegt. Nach dem verwalteten Krieg in Terrordrom (1998), wo die eskalierende Außenwelt Spiegel des Inneren war, soll Heimweh nun ins Innerste von Menschen dringen, die auf der Suche nach Liebe und Freundschaft sind. Inwiefern ist das gelungen?

Wahrscheinlich wird die Antwort je nach Generation, der der Rezipient angehört, unterschiedlich ausfallen. Wer im Alter des Autors oder jünger ist, wird das Buch möglicherweise bejahen, weil es sein Lebensgefühl widerspiegelt, weil er seine Ausdrucksweise wiedergegeben findet, sicher fragt er nicht umständlich nach Ziel und Zweck, und eine Message erschiene ihm wahrscheinlich aufgesetzt und überflüssig. Da zahlt sich des Autors intime Kenntnis der Jugendkultur und des Zeitgeistes sowie sein Sinn für Jargon aus. Die Älteren, selbst diejenigen, die wissen, daß sie den ästhetischen Rahmen eines Roman à la Buddenbrooks hinter sich lassen müssen, wenn sie sich auf Bücher der Jungen Wilden einlassen, werden sich schwerer tun mit der depressiven Konstruktion der Geschichte, die angesiedelt ist irgendwo zwischen Beckett und Mrozek. Sie werden zwar das Einfühlungsvermögen des Autors schätzen, sein sprachliches Vermögen würdigen, seine poetische Kraft, aber vieles wird ihnen banal vorkommen, wie Versatzstücke alter Roadmovies, oder gar kitschig (wie die ganze Geschichte um Dirty Daisy). Und sie werden möglicherweise müde werden, sich Gedanken über die Entschlüsselung des geheimnisvollen Codes zu machen, mit dem der Autor seine Story – die zugleich real und unwirklich ist, vorstellbar und absurd – verschlüsselt. (Wofür stehen zum Beispiel Metaphern wie „Tiefgarage“ oder „Bali“ und rätselhafte Figuren wie Mehmet oder die Frau an der Theke?)

Es geht um die Erlebnisse dreier junger Männer von Anfang Zwanzig, die vermutlich in Deutschland ihren Ausgang nehmen. Jeder kommt mit einem Kapitel zu Wort. Im ersten erzählt Marvin Rick, wie er sich mit seinem Freund Tizian Becker durch einen Bankraub die Mittel verschafft hat, um in einem roten Ford Mustang die Grenze zu überqueren und auf die Suche nach dem „Fünften Element“ (ein Ausdruck für unbestimmte Sehnsucht und Hoffnung, für „Heimat als den Ort, an dem noch niemand gewesen ist“) zu gehen. Im Niemandsland schließt sich ihnen Cem an, der sich sofort in Marvin verliebt. Aber Cem, der undurchsichtige Geschäfte macht, wird von drei Geschäftspartnern verfolgt. Zwei von ihnen vermögen unsere Abenteuer im Laufe der Auseinandersetzung zu töten, der dritte Elvis, kann entkommen.

Das zweite Kapitel wird von Tizian erzählt, der – von Sehnsucht nach seiner Freundin Lilli getrieben – Marvin und Cem in der Wüste verlassen hat. Aber Lilli war daheim unauffindbar. Er trifft auf Diskjockey Mascha, freundet sich an, schläft mit ihr, da fällt ihm plötzlich ein Ordner mit Fotos, Tagebüchern und Dokumenten einer gewissen Ayla Algan in die Hände. Sofort macht er sich – magisch angezogen und fast liebestoll – auf die Suche nach dem unbekannten Mädchen. Er spürt Freunde, Nachbarn, Arbeitskollegen von ihr auf, findet aber keine Spur. Am Ende wird ihm die Adresse von Marvin zugespielt, und Tizian macht sich zu ihm auf den Weg.

Im dritten Kapitel berichtet Cem, der in einer (türkischen?) Hafenstadt mit Marvin zusammenlebt, von Tizians Ankunft: Er trifft wieder mit Marvin zusammen und findet in der gemeinsamen Wohnung überraschend auch Lilli vor. Das Quartett verbringt nun Ferientage auf einer Insel, wohin ihnen Elvis folgt, der noch eine Rechnung mit Cem offen hat. Marvin tötet impulshaft und spontan Elvis. Man kehrt in die Stadt zurück und entdeckt, daß inzwischen Cems Waffenlager – jetzt stellt sich heraus, daß er mit Waffen dealt – ausgeraubt wurde. Tizian und Lilli kehren nach Deutschland zurück, Marvin bleibt bei Cem. Cem wird telefonisch zu einem Treffpunkt gerufen. In einem Nachsatz berichtet Marvin, daß er seinem Freund heimlich gefolgt ist und beobachtet hat, wie Cem von vier Leuten umgebracht wurde.

Das Triptychon wird laufend unterbrochen durch die fiktive Geschichte der jungen Dirty Daisy, die zwischen den Männern Hank und Fab laboriert – ein „Paralleluniversium“, das sich Marvin in bezug auf das Verhältnis von Lilli (Daisy) und Tizian (Hank) zusammenspinnt.

Unsere drei Helden erscheinen wie Aliens, die nicht wissen, von welchem Planeten sie kommen, und die getrieben werden von der Sehnsucht nach Wärme und Berührung. Aber eigentlich haben sie auf nichts Wesentliches mehr Bock. Straftaten und Gewalttätigkeiten unterlaufen ihnen bedenkenlos und beiläufig, durch Notwehr sind sie kaum gedeckt. Man kann nicht sagen, daß sie roh sind, aber Freundschaft und Liebe sind ihnen auch kein allzu hehres Gut: Tizian verläßt Marvin, dessen Schutzengel er eigentlich spielen will, gleich zweimal, und seine größte Leidenschaft gilt nicht der alten Freundin Lilli und schon gar nicht Mascha, der neuen, sondern Ayla, einem Wesen, dem er nie begegnet ist. Und Cem schläft ohne Bedenken sowohl mit Marvin als auch mit Lilli – wenn sich da Marvin nicht verraten fühlen muß, zumal Tizian auch im DJ Titti Twister raschen Marvin-Ersatz findet! Nein, ihre Geschichte erscheint als Gleichnis einer verlorenen Generation, die weder ein Zuhause hat noch ein Lebensziel und die nur einen Ausweg weiß: zu träumen und sich treiben zu lassen und die auch mal rasch auszurasten vermag, wobei es ein paar Tote geben kann. Bei ihnen gibt es bis zum Schluß kein Begreifen und keinen Zugewinn – wahrscheinlich setzt der Autor darauf, daß der Leser klüger ist und seine Schlüsse zieht.

Erzählt wird natürlich in der Sprache der Youngsters. Immer wiederkehrende Verben dieses Jargons sind ficken, scheißen, pissen, fummeln, kotzen, verarschen, aufreißen, abhängen. Wer volltrunken ist, ist „fett“, und Ausdruck höchster Begeisterung ist natürlich „geil“. Es gibt Fucker und Junks, Stricher und Schnallen, Titten und Schwänze. Man macht Kohle und braucht Koks oder Gras, Zigaretten heißen Kippen, und eingeworfen werden Tapes und Dreatlocks, Joints und Shots, Dopes und Dips, Crack und Reefer. Und damit sind auch die Tätigkeitsmerkmale und die Erlebniswelt im wesentlichen umrissen.

Erstaunlicherweise vermag Tim Staffel diesen Jargon aber literarisch einzubinden, so daß er nicht unangenehm herausgrellt. Seine erzählerische Begabung ist überhaupt unübersehbar – mit wenigen Sätzen vermag er eine Stimmung, eine Situation zu umreißen, die Beziehung zwischen zwei Menschen kann er manchmal unendlich zart schildern, und Roheiten bringt er unter Aussparung aller Details auf die knappste Formel. Aber diese Begabung steht diesmal nicht im Dienste einer wirklich großen Geschichte. Jedes Kapitel setzt neu an und ist ein Roadmovie für sich, dessen Versatzstücke man irgendwo schon mal gesehen oder gelesen zu haben glaubt, und in das Innerste der Menschen dringt der Autor wohl doch nicht vor. Daß seine Figuren intellektuell dürftig sind, daß ihre Ausdrucksweise nur lapidar ist, kann auf ihre Anlage zurückgeführt werden. Daß sie aber ziemlich ungenügend charakterisiert werden, daß sie nur wenige wirklich unverwechselbare Eigenschaften aufweisen und daß der Leser zu wenig über sie erfährt, muß dem Autor angelastet werden. Ihm war diesmal vor allem an einer festen erzählerischen Struktur gelegen, daher die Triptychon-Form, in deren Rahmen die Jugendlichen einander abwechselnd selbst berichten. Dadurch begrenzt Staffel aber seine Mitteilungen zwangsläufig auf den Horizont seiner Figuren. Es wäre wahrscheinlich besser gewesen, der Autor hätte unmittelbar erzählt, dann hätten wir mehr über die Figuren, etwas über ihr Umfeld und ihr Gewordensein erfahren können und einiges von dem, was wohl dem Autor, nicht aber ihnen selbst bewußt ist.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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