Eine Rezension von Hans-Rainer John


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Eine Frau, beinahe 40, hat Probleme

Milena Moser: Artischockenherz
Roman.
Karl Blessing Verlag, München 1999, 228 S.

Artischocken sind stachlig, vielschichtig, und wenn man sie entblättert, kommt das Allerbeste zum Vorschein: ihr Herz. Der Titel spielt darauf an, daß manche Frauen wie Artischocken sind, zum Beispiel Emma, die Ende dreißig ist und irgendwo in der Schweiz lebt. Nein, so ganz unkompliziert ist ihr Leben nicht. Es geht nicht ums Geld, sie ist schließlich Kleinunternehmerin in Sachen Buchhaltung und Steuerberatung, es geht mehr um das, was man mit Seele, Gemüt und Herz umschreibt. Emma hätte so wahnsinnig gern (wieder) eine Familie, aber bald findet sie sich wider Willen ganz allein und ungebunden. Pierre, der Vater ihrer Tochter Marina, hat sie nach sieben Jahren Zusammenlebens verlassen, auch die gemeinsame Wohnung muß sie räumen und recht provisorisch in ihrem Büroraum aus dem Koffer leben. Und Marina mußte schnell nach Seattle abgeschoben werden, weil ihrer lesbischen Neigung wegen in der heimischen Kleinbürgerwelt ein Skandal droht. Meist ist Emma warmherzig und ganz vernünftig, aber manchmal ist sie auch zu idiotischen Streichen aufgelegt, da kann sie ganz schön über die Stränge schlagen. Das macht: Sie ist eine multiple Persönlichkeit, und die erotische Antonia und der gewalttätige Fred in ihr machen die Sache schneller kompliziert, als die Putze Lucy die Scherben zusammenfegen kann. Vor allem will Emma ihren Pierre wiedererobern, nachdem dessen Nachfolge-Ehe mit Eva schon wieder zu Bruch gegangen ist. Aber Pierre zieht lieber ins Altersheim zu der viel älteren kapriziösen Lola, weiß Gott, was er an ihr findet! Da muß sich Emma mit dem Anlageberater Erwin Albrecht trösten; der ist sehr lieb, aber eigentlich viel zu jung für sie ...

Also Emma hat es so schon nicht leicht, und dann erst noch diese Familie! Ihr Papa Anton hat eine Spätromanze. Er holt Olga aus dem Altersheim, eine Frau, die es gewohnt ist, zu lügen und sich zu verstellen, denn sie ist schon vierzig Jahre lang Antons heimliches Verhältnis, zur Überraschung seiner Kinder. Denn da sind noch Emmas Schwestern Erika und Anita. Erika bildet sich eine tödliche Krebserkrankung ein und tritt in den Hungerstreik, als sich das als Fehlalarm erweist, und die geschiedene Anita kommt mit ihrem Sohn Marco nicht zurecht. Die Katastrophe trifft eines Tages ein, als Anita ihren Job, ihren Freund und scheinbar auch ihren Verstand verliert. Denn unter dem Einfluß von Chantal, die sich in ihrer Wohnung als treusorgende Freundin eingenistet hat, tut sie Dinge – unter anderem Geldausgeben –, die ihr gar nicht bewußt sind. Und Anton will mit seinem Geld nicht einspringen, er sagt, Anita sei gar nicht sein Kind ...

Wenn man da nicht verrückt wird! Zum Katastrophenmanagement muß man von kräftiger Natur sein. Milena Moser beschreibt pointiert und witzig, klug und elegant, wie Emma von einer Notsituation zu anderen hangelt und am Ende alles irgendwie in den Griff bekommt. Das ist präzise beobachtet, genau beschrieben und in der vorliegenden literarischen Form unterhaltsam und ein Lesevergnügen auf hohem Niveau. Die Autorin knüpft mit ihrer Realitätssicht an viele Alltagserfahrungen des Rezipienten an und relativiert sie dann, indem sie überlegen und souverän damit umgeht. Auch Nebenfiguren wie Barkeeper Bruno, der oftmals alkoholisierte Mitarbeiter Johann, der Psychiater Dr. Plath und der Filmregisseur, der den Beischlaf mit dem Blick auf die Armbanduhr vollzieht, sind lebendig und erhalten Profil.

Da nimmt man denn auch ein paar Übertreibungen und Unwahrscheinlichkeiten gern in Kauf – zum Beispiel wenn Pierre nicht weniger als 8 oder 9 Exfrauen und 11 Kinder zugezählt werden, die er alle in einer harmonischen Großfamilie erfaßt, betreut und finanziell unterstützt, oder wenn er am Ende unter allen Umständen eine 89jährige zu ehelichen trachtet. Nein, vergeben und vergessen. Nur die letzten 15 Seiten sind auch mit dem schwindelerregenden Hang der Autorin zum Fabulieren nicht erklärbar. Da wechselt Frau Moser das Genre und fügt plötzlich einen deplazierten Kurzkrimi an. Zugegeben: Daß Chantal nicht ganz so selbstlos ist, wie sie erscheinen will, und daß sie irgend etwas abstauben will, das hat der Leser rechtzeitig ahnen können – aber muß sie sich deshalb gleich als abgefeimte Mörderin und brutale Brandstifterin outen, an deren rundum brandvernarbten Körper nur das hübsche, vertrauenerweckende Gesichtchen unversehrt ist? Ein solch veritabler Teufel nach Form und Inhalt – und keiner soll's gemerkt haben die ganze Zeit? Statt einer Entlarvung der Figur auf dem Niveau kleinbürgerlichen Lebens ist der Absturz in rücksichtsloses Gewaltverbrechertum, das auch Kinderleben nicht verschont, in dieser Komprimiertheit unglaubhaft und dem Gestus des Buches völlig unangemessen. Dieser Schluß ist zwar bedauerlich und enttäuschend, aber es handelt sich zum Glück ja nur um zwei Kapitel von sechsunddreißig.

Milena Moser (37), in Zürich geboren (dort auch Buchhändlerlehre), lebt heute in San Francisco und hat seit 1990 bereits sieben erfolgreiche Bücher herausgegeben, darunter Die Putzfraueninsel, Das Schlampenbuch, Blondinenträume und Das Faxenbuch.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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