Eine Rezension von Karla Kliche



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Psychologie - literarisiert

Katrin Dorn: Lügen und schweigen
Roman.
Aufbau-Verlag, Berlin 2000, 207 S.


Vera, die junge Frau, aus deren Sicht wir das Geschehen in diesem Roman erfahren, wird durch wenige „ungelenk geschrieben Zeilen“ ihrer Mutter auf ihr Dorf und in ihre Kindheit zurückgerufen. Auf der Bahnfahrt dahin und während ihres kurzen Aufenthalts „zuhause“ kommt ihr mit Macht die Erinnerung an das, womit sie abgeschlossen zu haben glaubte: Ihrem Freund Vincent gegenüber hatte sie ihre Eltern für tot erklärt, nun liegt der Vater im Sterben. Aus ihren Erinnerungsstücken und dem Erleben dieser wenigen Tage setzt sich zusammen, was der französische Psychiater und Psychoanalytiker Serge Tisseron populärwissenschaftlich als „Familiengeheimnis“ beschrieben hat (vgl. Berliner LeseZeichen, 2/1999). Der Vater, so erfahren wir, war kurz davor, die DDR zu verlassen, sein Idol war Elvis Presley, in dessen Pose er sich vor der Siegessäule fotografieren ließ, und seine Sehnsucht war Amerika - Alaska, Texas, Brasilien... Es kommt nicht dazu: Er lernt Veras Mutter kennen, und mit dem zu erwartenden Kind wollte diese nicht ins Ungewisse. Dann geht nichts mehr, die Grenzen sind dicht. Der Lebensplan des Vaters ist zerbrochen, gelegentlich zerschlägt er Geschirr. Die Mutter glaubt sich schuldig - den weinende Säugling hält sie von ihm fern -, doch mit der Zeit richtet sie sich in den Verhältnissen ein, auch wenn sie das kurreif macht. Das heranwachsende Mädchen erlebt die Familienspannungen. Vera gibt sich die Schuld, daß der Vater mit ihr nichts anzufangen weiß. Der Hund, der seine Zärtlichkeiten empfängt, zu dem er spricht, wird von ihr getötet. Die Eltern wissen, daß die Geschichte, die sie darüber erzählt, nicht stimmt, doch beide haben Gründe, dies nicht genauer zu erfragen. All dies ist tabu, wie die Angst des Kindes vor dem Tode, die sie nicht schlafen läßt. Herangewachsen, hat Vera nur noch den Wunsch wegzugehen. Es gelingt ihr, eine Stelle in der „Hauptstadt“ zu bekommen, und die Besuche zuhause sind selten, der letzte liegt lange zurück, doch sie erinnert ihn deutlich, und der Leser wird Zeuge des Zusammenseins einer Familie, in der die Kommunikation abgebrochen ist.

Vera, die sich seit diesen Kindheitserlebnissen schuldig fühlt, immer ein schlechtes Gewissen hat, sagt ihrem Vater am Sterbebett, daß sie die Tötung des Hundes bedauert. Was er darauf antwortet, weiß sie nicht mehr, nur daß es sie bis zur Ohnmacht erregte. Mit der bohrenden Frage nach den letzten Worten des Vaters fährt sie zurück.

Ist dieser Teil des Romans sehr dicht geschrieben, wird die Spannung des zweiten Teils vor allem aufrecht erhalten durch eben diese Frage. Ansonsten vertrödelt er sich ziemlich in der Schilderung der Beziehungen Veras zu ihrem Freund Vincent, dem Psychologiestudenten, der seine Diplomarbeit schreibt; neue Figuren werden eingeführt - die Freundin Marion und mit ihr die Szene einer freien Theatergruppe, speziell ein bestimmter Schauspieler, die Eltern Vincents. Sie alle sind dazu da, Veras Gefühl „etwas Schlechtes zu sein, ohne zu wissen weshalb“, ihr Unvermögen, sich mitzuteilen, zu illustrieren. Statt situativer Kommunikation erfindet sie Geschichten - „Lügen und schweigen“: das Erbe Veras aus dem „Familiengeheimnis“ -, bis Vincent ihr hilft, sich die letzten Worte des Vaters in Erinnerung zu bringen.

Liegt mit der erfundenen IM-Geschichte ihrer Protagonistin in Brigitte Burmeisters Roman Unter dem Namen Norma ein inzwischen fast klassischer Fall einer skandalösen Erfindung vor, gibt es zwischen dieser und Veras Lügen in Katrin Dorns Roman einen wesentlichen Unterschiede. Burmeister interessierte das Problem im wesentlichen erzähltheoretisch, Katrin Dorn psychologisch. Überhaupt Psychologie: Davon gibt es hier viel. Psychologe ist Veras Freund, Psychologie hat die Autorin studiert und: aus der Psychologie - siehe oben - stammt das Grundschema dieses Romans. Letzteres scheint mir das eigentliche ästhetische Problem zu sein, das man knapp so umreißen könnte: Die Autorin hat das psychologische Fachwissen, entsprechend einer bestimmten Diagnose erfindet sie eine Geschichte. Mit dem Erzählen wird hier nicht in unbekanntes Gebiet vorgestoßen, sondern ein psychologisches Theorem wird (lediglich) literarisiert. Dennoch scheint es mir ein durchaus legitimes Verfahren, und Veras Geschichte wird ihre Leser finden, möglichst auch solche, die selbst „Opfer“ eines „Familiengeheimnisses“ sind, denn dies ist ein Stück aufklärender Literatur, macht das Funktionieren pathogener psychischer Mechanismen anschaulich. Dabei ist übrigens Veras Äußerung gegenüber Vincent am Beginn ihrer Beziehung, „Wir müssen nicht alles voneinander wissen“, durchaus nicht falsch, der Mensch braucht eine Sphäre, die nur ihm gehört. Doch ihr „Geheimnis“ ist eines, das sie im Verhalten zu anderen beeinträchtigt, sie auch physisch belastet, deshalb kam sie mit dem Vorhaben vom Dorf zurück: „Vincent, wir müssen reden.“ Leichter gesagt als getan.

Noch etwas ist auffällig an diesem zweiten Buch der 1963 geborenen Autorin. Nicht das gute alte Imperfekt wählte sie zu ihrer Erzählzeit, sie erzählt fast durchgängig im Präsens. Schien mir das zunächst kennzeichnend für eine durch das Fernsehen geprägte Generation, die das Geschehen in Bilder umsetzt und diese gleichzeitig beschreibt, erklärt sich auch dies an späterer Stelle psychologisch: „Sie [Vera] muß versuchen, wieder im Präsens zu erzählen [...] Erinnerungen findet man nur, wenn man sie sich im ,Hier und Jetzt` vorstellt.“ Sonst wäre es wohl Fiktion, und das heißt hier im konkreten Kontext: „Schwindel“ (S. 124).


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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