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Eine „Autorenschmiede“ in Berlin

Im Gespräch mit Ursula Krechel

Frau Dr. Krechel, Sie sind promovierte Literturwissenschaftlerin und leiten am Literarischen Colloquium Berlin die Autorenwerkstatt Prosa. Aber Sie sind auch selbst als Lyrikerin und Prosaautorin hervorgetreten ...

Ich wurde 1947 geboren, habe Thaterwissenschaft, Germanistik und Kunstgeschichte studiert, danach promoviert und als Theaterdramaturgin gearbeitet. Seit 1972 - also schon entsetzlich lange - bin ich freie Autorin. Zu meinen Arbeiten gehören zehn Gedichtbände und drei Bände Prosa. Im Moment schreibe ich an einem Prosatext, dessen Anfang im Sommerheft von „Sinn und Form“ erschienen ist: „Meine Stimme ist mit Fischen geschwommen“. Bereits im vorigen Jahr habe ich die Prosawerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin geleitet, in diesem Jahr verantworte ich sie wieder. Außerdem habe ich zwei Semester an der Berliner Hochschule der Künste junge Dramatiker im Studiengang „Szenisches Schreiben“ unterrichtet und zwei Semester in Leipzig am Deutschen Literaturinstitut, wo man drei Jahre studiert mit dem Berufsziel Schriftsteller.

Seit wann gibt es im Literarischen Colloquium Berlin diese Werkstatt mit Stipendiaten?

Das hat mit Walter Höllerer in den 60er Jahren angefangen. Die erste Gruppe versuchte, gemeinsam einen Roman zu schreiben. Das waren typische Experimente der 60er Jahre in der westdeutschen Literatur. Vor drei Jahren hat das Colloquium wieder damit begonnen, einen Lehrgang bzw. ein Stipendium für Prosa auszuschreiben. Den Kursus haben damals Burkhard Spinnen und Katja Lange-Müller gemeinsam geleitet. Daraus sind sehr erfolgreiche Autoren hervorgegangen, unter anderem Judith Hermann und Georg Klein. Im Senat bestand der Wunsch, diese Tradition fortzusetzen, das Literarische Colloquium hat also wieder Stipendien ausgeschrieben. In den letzten zwei Jahren habe ich die Stipendiaten allein betreut, das bedeutet für mich mehr Arbeit, aber es ist vielleicht konzentrierter. Im vorigen Jahr haben sich 240 junge Schriftsteller mit jeweils 30 Seiten beworben. Es gab acht Studienplätze. In diesem Jahr gingen noch mehr Bewerbungen ein, wieder für acht Plätze. Wir arbeiten fünf Monate zusammen. In dieser Zeit verbringen wir fünf intensive Wochenenden miteinander, zu denen auch Gäste eingeladen werden: Schriftsteller, Kritiker, Verleger und Literaturwissenschaftler, die in den Gesprächszusammenhang passen. Ich arbeite in dieser Zeit mit den Stipendiaten am Text. Das ist etwas sehr Wichtiges. Bei dieser Arbeit am Text werden jedes Zeichen, jedes Glied der Erzählung, jede Wendung in der Geschichte und alle Überlegungen zu den Figuren unter die Lupe genommen, so wie es auch in einem intensiven Lektorat geschehen sollte. Sie reichen zu den 30 Seiten auch ein Exposé ein, damit man sehen kann, was konzipiert ist, wohin der Text laufen könnte, wie viele Seiten geplant sind. Danach werden sie ausgewählt. Natürlich sind sie alle wahnsinnig stolz und aufgeregt, daß sie in die endgültige Auswahl gekommen sind; denn die Werkstatt hat einen sehr guten Ruf. Im vorigen Jahr gehörten David Wagner und Anke Velmeke, die mit einem ersten Buch sehr erfolgreich hervorgetreten sind, zu meinem Kurs. Von Olaf Müller, der ebenfalls im vergangenen Jahr Stipendiat war, ist in diesem Herbst das erste Buch erschienen, das allerdings nicht in meiner Werkstatt entstanden ist. Sein zweites Buch ist noch nicht fertig.

Helfen Sie den jungen Autoren auch bei der Veröffentlichung ihrer Bücher?

Natürlich ich nicht allein, auch das Literarische Colloquium unterstützt sie mit seinen Kontakten. Das heißt aber nicht, daß wir viel helfen müßten. Da die Werkstatt einen sehr guten Ruf hat, stehen Agenten und Lektoren sozusagen Schlange. Sie treten an mich heran: „Erzählen sie doch, welche Projekte gibt es dieses Jahr, wie entwickeln sie sich, welcher Autor käme für eine Veröffentlichung in Frage?“ Wir haben im vergangenen Jahr die Werkstatt schon relativ früh für Verlagskontakte geöffnet, so daß nach dem halben Lehrgang bereits vier Autoren wußten, wohin sie mit ihren Manuskripten gehen würden. In diesem Jahr haben wir eine andere Vereinbarung getroffen und gesagt, bis November - solange die Werkstatt läuft - werden die Autoren aufgefordert, ihre Kontakte ruhen zu lassen, falls sie schon welche haben, damit nicht eine solche Unruhe in die Werkstatt kommt. Und am Ende - im November - haben dann alle die gleichen Startbedingungen, und wir suchen gemeinsam für sie. Hinzu kommt, daß es in den Verlagen auch einen gewissen Respekt hervorruft, wenn ein junger Autor sagt: „Ich wollte Ihnen jetzt etwas schicken, aber ich habe ein Stipendium bekommen, das gibt mir die Möglichkeit, noch einmal fünf Monate intensiv am Text zu arbeiten, deswegen schicke ich es Ihnen lieber später.“

Die Existenz des Literarischen Colloquiums war - soviel ich weiß - schon aus finanziellen Gründen gefährdet. Kann die Werkstatt auch in Zukunft weitergeführt werden?

Im Moment sind in Berlin alle kulturellen Einrichtungen gefährdet. Es gibt einen Stop der Finanzen, das heißt, in all diesen Institutionen reicht das Geld im Moment nur dafür, die Verwaltung aufrechtzuerhalten und die Gehälter zu zahlen. Das Literarische Colloquium muß die Gelder für Veranstaltungen von außerhalb einbringen. Die Kollegen arbeiten sehr viel mit dem Deutschlandradio zusammen, soweit es öffentliche Veranstaltungen betrifft, aber auch mit anderen Institutionen. Das Geld für die Literarische Werkstatt kommt aus einem Sondertopf des Berliner Senats. Das Literarische Colloquium allein könnte die Stipendien nicht aufbringen. Darüber hinaus besteht immer die Notwendigkeit, Institutionen zu vernetzen, so daß zum Beispiel eine Botschaft einen ausländischen Autor mit finanziert.

Sind die Bewerbungen, die Sie bekommen, und die Autoren, mit denen Sie arbeiten, repräsentativ für die junge literarische Szene in Deutschland?

Ich weiß nicht, ob sie die gesamte Szene repräsentieren. Die jungen Autoren sind auch sehr verschieden. Im vorigen Jahr waren die meisten etwa dreißig Jahre alt, hatten einen Magister oder promovierten gerade. Die meisten lebten in Berlin. In diesem Jahr kommen nur zwei aus Berlin, eine dritte zieht gerade in die Stadt. Der Altersunterschied ist in diesem Durchgang sehr, sehr groß. Ich habe eine Zwanzigjährige und eine „junge“ Autorin von Ende Vierzig. Von der Tendenz her fällt mir auf, daß sich noch sehr wenige trauen, mit Erzählungen zu debütieren, was ja in der Öffentlichkeit durchaus wieder Aufmerksamkeit finden würde. Es gibt in der Tat wenig experimentelle Texte. Es gibt kaum Autoren, die sagen: „Ich habe wenig Chancen auf dem Markt, aber ich möchte genau diese Literatur machen.“ Es wird aber auch nicht - wie man heute häufig behauptet - nur plan heruntererzählt. Es gibt vielfältige Schreibansätze, die man im einzelnen anschauen muß, um ihre Differenziertheit wahrzunehmen. Mir fiel zum Beispiel in diesem Jahr auf, wie viele Texte in der ersten Person geschrieben werden, obwohl sie durchaus nicht einem autobiographischen Ich entsprechen. Es gibt vielleicht eine Tendenz, näher am Körper zu erzählen, Erzählsysteme enger, dichter mit der erzählenden Person zu verknüpfen. Auch die Textlängen sind sehr verschieden, 100 Seiten, 300 Seiten. Man kann also nicht sagen, „der“ junge Autor oder „die“ junge Autorin. Das sind ganz unterschiedliche Ansätze.

Betreuen Sie in der Werkstatt auch Lyriker?

Nein, das Stipendium ist für Prosa ausgeschrieben. Die meisten Texte sind Romane oder längere Erzählungen.

Gibt es nicht doch gewisse Tendenzen in der jungen deutschen Literatur, sowohl inhaltlich als auch formal?

Ich denke, tendenziell muß man schon sagen, das Erzählen ist narrativer geworden, es gibt eine größere Nähe zu den Erzählgegenständen. Sehr viele Autoren wollen tatsächlich wieder Geschichten erzählen. Wie die Geschichte erzählt wird, von vorn nach hinten oder in Sprüngen oder in Erinnerungsschüben wie in dem schönen Buch Meine nachtblaue Hose von David Wagner, das ist sehr verschieden. Ein Autor des letzten Jahres, Marcus Braun mit Nadiana im Berlin Verlag, ist beispielsweise jemand, der sehr literarisch - auch mit Zitaten - an Traditionen, an Erzählgegenstände anknüpft, die er in den Text montiert. Das sind diametrale Unterschiede im Erzählen, die aber von der Gruppe ausgehalten werden müssen und auch bewältigt werden. - Das heißt, indem die Autoren gezwungen werden, ihre Mitstipendiaten zu lesen, an deren Texten mitzuarbeiten, werden sie gleichzeitig mit Erzählhaltungen konfrontiert, die nicht ihre eigenen sind, sie werden genötigt, in diese Texte hineinzukriechen, sich damit auseinanderzusetzten. Ich erinnere mich, daß ein Autor der vorigen Werkstatt - Sherko Fatah - sagte, er wäre nie auf den Gedanken gekommen, den Text eines anderen so engagiert zu lesen. Jetzt wüßte er um die Berechtigung auch eines ganz anderen Erzählens. Und es ist natürlich für alle eine sehr wichtige Erfahrung, daß es nicht nur das plane Erzählen gibt, wie etwa in dem netten Jugendheft der „Süddeutschen Zeitung“, wo junge Autoren vorgestellt werden, oder der kleinen Reihe für junge Literatur bei Fischer, in der Maike Wetzel mit einfach strukturierten Erzählungen debütiert hat. Sie lernen, daß es daneben noch ganz andere Erzählformen gibt.

Wie unterscheidet sich die Literatur dieser jungen Leute von der Literatur der heute Fünzig-, Sechzigjährigen?

Sie unterscheidet sich schon darum, weil jemand, der sehr jung erzählt, ganz andere Erfahrungsweisen mitbringt, als ein älterer Autor sie noch hatte, etwa die weitgehend mediale Vermittlung von Welt, ein Leben in der „Ich“-Zeit, die Erfahrung des Virtuellen. Mir fällt beispielsweise bei den Manuskripten auf, daß das Arbeiten mit dem Computer für junge Leute selbstverständlich geworden ist, während es das für mich durchaus nicht ist. Daraus resultiert aber auch, daß das Bauen und Verschieben von Texten, das Ausprobieren, die ständige Möglichkeit, in den Text einzugreifen, ein anderes Herangehen ermöglicht als wenn der Text erneut abgeschrieben werden muß. Bei dem Schreiben mit der Hand oder der Schreibmaschine muß vorher viel mehr gedacht und strukturiert werden.

Wo suchen junge Schriftsteller heute ihre Vorbilder?

Das kann ich Ihnen für einen Teil der jungen Leute gar nicht sagen. Ich glaube, bei sehr vielen - wir sprachen einmal darüber - spielt das Kino eine große Rolle, das Sehen überhaupt, das Visuelle. Es gibt durchaus Autoren, die an großer Literatur interessiert sind. Der bereits genannte Sherko Fatah ist zweifellos ein intensiver Canetti-Leser, während David Wagner sich vielleicht an Nichelson Baker orientiert. Viele - aber nicht die, für die ich mich interessiere und deren Arbeiten ich in der Werkstatt befördere - sind im Satzbau, im Duktus des Zornes, der Emotionalisierung eines Textes an Thomas Bernhard geschult. Bernhard ist vielleicht der im Augenblick am meisten imitierte Schriftsteller - von einem Mittelfeld, nicht von den wirklich guten Autoren.

Welche Rolle spielt Berlin für diese jungen Literaten?

Zu Anfang der diesjährigen Werkstatt habe ich gesagt, man bekommt den Eindruck, der klassische junge Autor hat seinen Magister gemacht, ist 28 Jahre alt, probiert dies oder jenes aus und wohnt im Prenzlauer Berg. Das trifft für sehr viele zu. Wenn ich mich richtig erinnere, kam in diesem Jahr ein Drittel der Einsendungen nicht aus Berlin, sondern aus der gesamten Bundesrepublik. In meinem jetzigen Kurs arbeiten zur Zeit auch ein Wiener und eine Schweizerin. Das heißt, je bekannter die Werkstatt geworden ist, um so attraktiver wird sie natürlich auch für Autoren außerhalb. Daß viele von ihnen Lust bekommen, in Berlin zu bleiben, nachdem sie sich hier so lange aufgehalten und Freunde unter den anderen Autoren gewonnen haben, ist eigentlich naheliegend. Das ist ein heiterer Nebeneffekt, den der Berliner Senat sicher gern in Kauf nimmt. Aber als Erzählstoff, als Ort, an dem etwas angesiedelt wird, spielt Berlin keine so große Rolle, weil die meisten Autoren eine andere Herkunft haben. Man kommt ja nicht in eine Stadt und geht dort ins Café und schreibt gleich darüber. Die meisten haben doch ihre Texte schon sehr lange in sich, probieren sie aus, kommen aus einer bestimmten Erfahrungswelt. - Übrigens hat sich Berlin immer schon auf diese Art von Provinz gespeist.

Die Stadt hat aber für junge Schriftsteller eine sehr große Anziehungskraft ...

Es ist - mit Verlaub - auch billiger, hier zu leben als in München, Hamburg oder Frankfurt. Außerdem gibt es so ein Cluster von Neugier. In Berlin ist wirklich viel los. Es gibt drei Universitäten, sehr viele Veranstaltungen. Man lernt sich hier einfach kennen. Und im Wedding oder in Kreuzberg ist es auch noch billig. Das spielt natürlich alles eine Rolle. Man kann die Autoren nur ermutigen herzukommen. Aber sie sehen hier auch, daß die Konkurrenz sehr groß ist. Wenn sie in Karlsruhe sitzen und ihren ersten Roman schreiben und ihre Freunde kriegen das vage mit, sind sie eine herausragende Gestalt. Wenn sie das hier machen, ist es gar nichts Besonderes. Als ich diese vielen eingesandten Manuskripte - 240- auf dem Tisch hatte, ging ich in meinen Supermarkt, sah mir die Leute an und dachte mir, der könnte eigentlich auch ein junger Autor sein, der ebenfalls. Das heißt, die literarische Arbeit ist in Berlin auch inflationär. Hier leben sehr viele ausübende Künstler, Schriftsteller. Man muß sich hier beispielsweise in ein System von Lesungen einfügen. Das nimmt auch etwas die Illusion, man würde wie eine Rakete nach oben schießen.

Gibt es eine bestimmte Grundstimmung der jungen Generation, die sich in ihrer Literatur widerspiegelt?

Ich finde in den Texten erstaunlich viel Traurigkeit. Wenn ich von meiner Generation ausgehe, die ja zum Teil unter den Bedingungen von Armut, Entbehrung, mit dem Schock vollkommen konsternierter, aus der Bahn geworfener Väter aufgewachsen ist, so fällt mir bei sehr vielen auf, daß sich auf der Basis einer behüteten Gummibärchen-Kindheit doch ein strenger Blick für Lücken, für das Durcheinander gerade in dieser ordentlichen Welt entwickelt hat. Ich glaube, die jungen Autoren haben gerade unter der geordneten Oberfläche ein genaues Gespür für Risse und Sprünge. Die heute Dreißigjährigen sind zum Beispiel die erste Pillengeneration. Die meisten wissen, daß sie gewollte, erwünschte Kinder waren, was in früheren Generationen überhaupt nicht der Fall war. Sie haben alle eine vorzügliche Schulbildung, Stipendien stehen ihnen offen, aber gleichzeitig ist es eine Generation, in der sehr viele Familien in die Brüche gegangen sind. Das sieht man in den Texten zum Beispiel von Anke Velmeke oder David Wagner. Ein Stipendiat der gegenwärtigen Werkstatt - Andreas Schäfer - erzählt von griechischen Migranten in Deutschland. Es gibt ein auffälliges Gespür für die Sprünge in der polierten Oberfläche, nicht einmal in der Gesellschaft - das wäre ein zu großes Wort -, sondern eher des erzählerischen Umfeldes.

Unterscheiden sich die jungen Autoren aus Ost und West?

Nicht so sehr. Man bemerkt es vielleicht im Lesehorizont, aber kaum in den Schreibweisen. Diese Dreißigjährigen sind noch mit unterschiedlichen Leseerfahrungen aufgewachsen. Im Osten haben sie vielleicht mehr Respekt vor Bildung im altmodischen Sinne, wenn sie in die Literatur eintreten. Ich denke beispielsweise an einen Schriftsteller wie Ingo Schulze, der sich systematisch amerikanische Lesetraditionen erarbeitet hat, die bei den westdeutschen Autoren eventuell da sind. Es ist etwas sehr Reizvolles, das wahrzunehmen. Ich kann es aber im einzelnen nicht genau beschreiben. Ich glaube eher, daß im Moment ein Zusammenfließen stattfindet. Man erkennt gar nicht mehr, ob ein Autor aus dem Osten oder dem Westen kommt, höchstens noch im Umgang mit den Materialien. Ich vermute, bei den Ostdeutschen ist der Wunsch größer, Traditionen nicht zu verlieren, weil so vieles in den letzten zehn Jahren für sie anderes geworden ist.

Gibt es auch einen spezifischen literarischen Beitrag der in Deutschland lebenden Ausländer?

Ja, Teilnehmer des vorigen Kurses war beispielsweise Sherko Fatah, den ich schon mehrfach erwähnt habe. Er hat ein hervorragendes Buch geschrieben, Im Grenzland, das in einem Nachkriegsgebiet spielt. Es handelt von großer Fremdheit, von dem Leben auf einem Minenfeld, man weiß nicht genau, wo. Es ist überhaupt kein deutsches Buch, aber auf Deutsch geschrieben, in einem großartigen erzählerischen Gestus. - Ja, solche Autoren gibt es, und solche Autoren wird es mehr und mehr geben. Im Moment arbeitet eine Autorin als Gast in meiner Werkstatt - Melinda Nadja Abonji - eine junge Frau aus Ex-Jugoslawien, die als Kind in die Schweiz gekommen ist. Sie besitzt einen sehr fruchtbaren Blick auf die Dinge, erstens, weil ihre Muttersprache Ungarisch ist - sie hat zur ungarischen Minderheit in Ex-Jugoslawien gehört - und zweitens, weil sie in der Schweiz lebt. Das bringt so viel produktive Fremdheit in ihren Text. Wir müssen uns in dieser Werkstatt aufgrund der Herkunft der Stipendiaten über Austriazismen wie über Eigenheiten des Schweizerischen unterhalten, das ist sehr reizvoll. Für die, die immer hier gelebt haben, wird die deutsche Sprache also mächtig durcheinandergewirbelt. Es geht bei den Texten der „Ausländer“ oft um den vielfältigen Gebrauch der deutschen Sprache, die dadurch reicher wird.

Wie nutzen junge Autoren das Internet? Ist es nur für die Subliteratur von Bedeutung oder auch für die anspruchsvollere Literatur?

Von Subliteratur würde ich gar nicht mal sprechen. Es gibt einfach eine Internetliteratur. Ich sehe zum Beispiel im Deutschen Literaturinstitut Leipzig, daß die Studenten des Instituts eine eigene Webseite haben. Davon kann man Texte der Autoren abrufen, kleine Texte natürlich, sozusagen Leseproben, und biographische Hinweise. Es ist sicherlich so, daß Erzählformen, die eine große Menge Text - also über einhundert Seiten - in Anspruch nehmen, im Internet nicht sinnvoll zu lesen sind. Erstens ist es zu teuer, zweitens ist die optische Qualität nicht die beste, drittens sind es wirklich Texte, die die Materialität des Buches brauchen, für die sie konzipiert wurden. Die Romanautoren sind auf das klassische Me-dium Buch angewiesen. Auch die Konzeption, Prosa zu schreiben, ist es im hohem Maße. Ich glaube, das Internet eignet sich für kleinere Texte, die quasi Portale zur eigentlichen Arbeit der Autoren bilden. Ich verfolge das in gewisser Weise. Ich sehe aber nicht, daß Autoren von Romanen im klassischen Sinne extrem viel Interesse am Internet hätten. Sie müssen an ihrem Buch arbeiten, das heißt natürlich auch, sukzessive auf dem Papier.

In Berlin existieren heute zahlreiche Lesecafés. Junge Leute produzieren Texte und stellen sie dort vor. Gibt es eine Beziehung zwischen dieser Szene und der Literatur, die Sie fördern?

Bei dieser Art von öffentlichem Lesen geht es ja zum Teil um ein Coming out. Das Schreiben und Präsentieren der Texte vor einem verständnisvollen Publikum, einer Art Freundeskreis, kommt von den Lesben und Schwulen, für die es sehr wichtig war, Öffentlichkeit herzustellen. Es geht bei solchen öffentlichen Lesungen zum Teil gar nicht um Literatur. Wer seine Texte für literarische Wettbewerbe einreicht, befindet sich in einer harten Konkurrenz. Und wer da dreimal eingereicht hat und nie zum Zuge kam, aber schon siebenmal in Lesecafés aufgetreten ist, mag sich - wenn er oder sie intelligent ist - darüber Gedanken machen. Vielleicht sollten die Betreffenden einmal die Texte derer lesen, die Stipendien bekommen haben und aus deren Manuskripten Bücher geworden sind, möglicherweise werden sie doch einen Qualitätsunterschied feststellen. Ich weiß nicht, ob meine Autoren diesbezügliche Erfahrungen gemacht haben, ich frage sie auch nicht danach. Bei ihnen geht es wirklich um Texte, die sich in den großen Horizont der deutschsprachigen Literatur einordnen können, einordnen sollen.

Welche Rolle spielen die Verlage für junge Autoren? Warum engagieren sie sich zur Zeit so stark für die junge deutsche Literatur?

Es ist ganz selbstverständlich, daß jede Generation einen anderen ästhetischen Ausdruck haben muß und haben will. Ebenso selbstverständlich ist es, daß die Verlage Debütanten veröffentlichen, wenn sie nicht sehr konventionell sind und sich dafür nicht interessieren. Aber heute bringen alle Verlage Bücher von jungen Autoren heraus, mit gutem Grund, denn so gewinnen sie junge Leser auch für andere Bücher. Im Moment beobachte ich ein spezifisches Identifikationsinteresse junger Leute mit ihren Autoren. Die optische Präsentation der Autoren - besonders der Autorinnen - ist sehr wichtig geworden. Mit Judith Hermann, mit Benjamin Stuckrad-Barre identifizieren sich junge Menschen. Das ist ein Phänomen, das nach meiner Auffassung seit Peter Handke nicht mehr da war, seit dessen Auftreten in der Gruppe 47, was immerhin schon mehr als dreißig Jahre her ist. Es ist doch bemerkenswert, daß es wieder ein Bedürfnis gibt, gar nicht so sehr über den Text, vielmehr über die Aura des Künstlers, des Schriftstellers Identität zu stiften. Und natürlich sind an diesem Experiment die Verlage auch aus finanziellen Gründen interessiert, weil dadurch Leser gebunden werden, auch Leser für andere Editionen. Sie bleiben ja nicht bei dem einen Buch, das sie gerade entdeckt haben. Und wenn die Resignation der Verlage zum Teil schon sehr groß war, ihre Prognose lautete, die mit dem Computer Aufgewachsenen würden nicht mehr lesen - das Gegenteil ist eingetreten: sie lesen nicht nur, sie schreiben auch. Mit dem Schreiben zu beginnen ist heute vielleicht auf gewisse Weise einfacher geworden, weil man Texte kumulieren kann. Aber aus dem kumulierten Text einen lesbaren, einen für andere lesbaren Text zu machen, das ist dann wieder harte Arbeit.

Wer rezipiert diese junge deutsche Literatur? Findet sie auch den Weg zu älteren Lesern?

Sehr viel junge Menschen kaufen sich auch junge Literatur, das ist ganz normal. Aber Bücher die in großen Zeitungen besprochen worden sind, die viel Aufmerksamkeit bekommen haben, werden selbstverständlich einem normalen literarische Publikum zugänglich gemacht. Und das liest sie auch. Es ist ja nicht so, als würden die Lesegewohnheiten eine Buchhaltung speisen, hier konventionelle, dort junge Leser. Aber nehmen Sie diese Reihen bei Fischer und Kiepenheuer & Witsch. Junge Literatur ist hier klugerweise auch ins Taschenbuch gehoben werden. Man muß einfach damit rechnen, daß ein Leser von 23 oder 25 Jahren keine Romane für 38 Mark kaufen kann. Junge Reihen entstanden gleichzeitig in dem Bewußtsein, daß vielleicht nicht alle Autoren kontinuierlich produzieren werden. So war es auch vor zehn oder fünfzehn Jahren, als die Edition Suhrkamp sehr viele junge Schriftsteller herausgebracht hat. Die Edition Suhrkamp spielt heute für junge Literatur gar keine so große Rolle mehr. Inzwischen sind eher andere Verlage - Fischer und Kiepenheur & Witsch etwa - in die Bresche gesprungen. Junge Autoren sollten also auch wissen, daß sie in ihren Verlagen im Ausprobierstadium sind, daß - wenn jetzt so viele Bücher mit ihnen gemacht werden - auch ausprobiert wird, wie weit ihre Produktivität geht. Schafft der junge Autor ein drittes Buch? Will er ein kontinuierliches Werk schaffen? Oder sind seine Bücher Eintagsfliegen, um es einmal drastisch zu sagen. Und gerade die harte Arbeit am Handwerk, an der Struktur der Texte, hilft den Stipendiaten auch für die weiteren Bücher.

Nimmt die Literaturkritik junge Autoren rechtzeitig wahr und ermutigt sie sie?

Ich denke, daß die Literaturkritik erstens im Moment sehr aufmerksam in bezug auf junge Autoren ist. Früher sagte man eher: „Na mal sehen, wie das weitergeht.“ Zweitens, daß sie auch sehr freundlich, manchmal vielleicht sogar überfreundlich mit ihnen umgeht. Das böse Erwachen kommt manchmal mit dem zweiten Buch. Beim ersten ist man sehr bemüht und streichelt, beim zweiten neigt man dazu zu hacken. Das ist im Moment fast eine Art von Spielregel, auf die die Autoren gefaßt sein müssen. Das ist zum Teil ein wenig ungerecht, zum Teil gleicht es sich dann etwas aus.

Möchten Sie ein paar Namen nennen, von denen Sie glauben, daß sie in die Geschichte der deutschen Literatur eingehen werden?

Das wäre jetzt vielleicht ungerecht, weil die Bücher von einigen schon erschienen sind, andere sind noch in Arbeit. Ich habe inzwischen mit sechzehn Autoren in dieser Werkstatt gearbeitet. Außer denen, die ich aus bestimmten Beispielgründen genannt habe, möchte ich nicht noch einzelne Autoren nennen. Nach einem Buch oder zwei Büchern kann niemand voraussehen, ob die Autoren im kollektiven Gedächtnis bleiben werden. Es gibt biographische Gründe für ein Nichtweiterschreiben. Diese schnellen Verlagsverkäufe können auch das Unglück junger Autoren sein. Unvorhersehbare Zwischenfälle mit Verlagen können sich ereignen - im Moment geschieht das bei Rowohlt -, neue Verlage entstehen, Lektoren wechseln, all das bringt Probleme für Autoren, und nicht nur für junge. Ich möchte also eher dazu ermutigen, die Bücher einfach zu lesen, als zu sagen, diese drei sind meine liebsten Autoren, auf die ich setzte. Das Schreiben von gültiger Literatur ist ein weites Feld. Ich würde aber nicht mit diesen jungen Autoren arbeiten, wenn ich nicht in jedem ihrer Bücher einen Kern sähe, an dem es sich dringlich zu arbeiten lohnte.

Das Gespräch führte Dorothea Körner

Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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