Eine Annotation von Horst Möller


Nika, Franzeska:

Kalavrita 1943

Augenzeugenbericht.
Aus dem Griechischen von Constanze Lasson.
Romiosini Verlag, Köln 1999, 81 S.


Weil sie es würdelos fände, läßt im antiken Drama die übermächtigem Familienschicksal trotzende Antigone ihren toten Bruder nicht unbestattet. Die durch die Tragödie ihres Heimatortes Kalavrita zutiefst verstörte Franzeska handelte hingegen wie in Trance, als sie nach dem Massaker vom Montag, dem 13. Dezember 1943, nach ihren Angehörigen suchte, um deren Leichname zum Friedhof zu schleppen, sie mit bloßen Händen zu begraben und danach über ihnen die Erde festzutreten wie in einem makabren Tanz - bis zur Erschöpfung. Wollte einer diesen (von sophokleischem Pathos freien) Erlebnisbericht seiner geschichtlichen Folie entkleiden, behielte er dennoch die einzigartige, zeitlos gültige Fallstudie einer Traumatisierten zurück. Wie verhält sich jemand, den unermeßliches, mit Sinnen und Verstand nicht auszuhaltendes Leid zu zerbrechen droht? Die damals Neunzehnjährige ging anderentags ins Nachbardorf, wo sie durchs Mitteilen die lastende Bürde mit anderen teilte. Es bedurfte dann noch quälender fünfzig Jahre, bis sie Bruchstück um Bruchstück mit dem Erlittenen in einer dokumentarisch-knappen Prosa zu Rande kam. Das Auftreten junger antifaschistischer Deutscher vor Ort hatte zwischenzeitlich mehr zur Überwindung von Haß beigetragen, als es vor kurzem die (Distomo und die Jüdische Gemeinde Thessalonikis gleich mit einbeziehende?) Betroffenheitsgeste des deutschen Bundespräsidenten nachträglich zu bewirken vermochte. Von der Staatsanwaltschaft Bochum, die „1972 das Massaker, das von der deutschen Wehrmacht im Dezember 1943 in dem griechischen Ort Kalavrita angerichtet wurde, in eine völkerrechtlich legale Repressalie umdeutete und das Verfahren einstellte“ (Joachim Perels, Das juristische Erbe des „Dritten Reiches“), war heutigentags hierzu lediglich zu erfahren, daß „die Akten des Verfahrens bereits im Jahre 1980 entsprechend den gesetzlichen Vorschriften vernichtet“ wurden und infolgedessen keine Auskünfte über den Inhalt und den Gang des Verfahrens zu erhalten seien.

Die vorliegende Übersetzung des Augenzeugenberichtes von Franzeska Nika ist u. a. mit Unterstützung des deutsch-griechischen Vereins Mülheim an der Ruhr zustande gekommen. Leider bleibt es eine unerfüllte Hoffnung, daß dieser authentische Text tatsächlich nur als eine Fallstudie gelesen zu werden braucht.

Auch in Kalavrita hat es, bevor das Unheil über den einstigen Luftkurort hereinbrach, Ängste gegeben. Die Mitteilungen hierüber, wie der eine mehr, der andere weniger eine Gefahr für wahr gehalten oder sich darüber hinweggetäuscht hat, machen zwar nicht den ausführlichsten, aber zweifellos den aufregendsten Teil dieses Berichtes aus.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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