Wiedergelesen


Ruth Werner: Sonjas Rapport

Verlag Neues Leben, Berlin 1977, 342 S.

Als die Todesanzeige in der Zeitung stand, zuckte ein Schreck auf: Wieder eine von denen nicht mehr da, die genug Moral und Mut hatten, gegen Nazi-Deutschland zu kämpfen. Die einfach taten, was nötig war. Am 7. Juli ist Ruth Werner im Alter von 93 Jahren gestorben. Unwiderruflich verloren nun ihre Erlebnisse, Erfahrungen, Erkenntnisse aus den dramatischen Läufen des vergangenen Jahrhunderts. Ja sicher, sie hatte es schon mal aufgeschrieben, im Großen umrissen die Stationen und Positionen ihres Lebens. Aber wieviel und was alles hat sie nicht geschrieben - aus Bescheidenheit, Disziplin oder politischen Einsichten, nach denen es nicht opportun war, alles zu jeder (oder jener) Zeit zu sagen. Trotzdem: Sonjas Rapport von Ruth Werner war schon ein kleines Ereignis auf dem Marktplatz der Sensationen in der DDR. Mit der ein Jahr zuvor, 1976, herausgekommenen Dokumentation Dr. Sorge funkt aus Tokyo ist der „Rapport“ mit eine der ersten Veröffentlichungen über die Arbeit der sowjetischen „Kundschafter des Friedens“ in den 30er Jahren, mitten im Krieg, in der Nachkriegzeit. Der Erfolg dieses durch und durch politischen Buches (auch im Ausland) war beachtlich. Ein Bestseller gewissermaßen, im Erscheinungsjahr mit einer Auflage von 38 000 Exemplaren, die sehr schnell vergriffen waren. Über die Jahre wurden es insgesamt über 300 000. Es dauerte, bis ich das Buch im Regal hatte. Die Lese-Erinnerung besteht weniger aus Details als vielmehr aus dem allgemeinen Eindruck. Der allerdings muß stark gewesen sein. Nicht von ungefähr prägt sich ein Buch ein. In diesem Falle hatte es nichts mit literarisch-ästhetischen Kategorien zu tun, sondern mit lebensgeschichtlicher Authentizität. Vielleicht kam die Wirkung von der unpathetischen Beschreibung des so gar nicht alltäglichen Mutes der „Sonja“. Mehr noch aber war es die Selbstverständlichkeit, mit der Ruth Werner kommunistische Haltung in menschlichen und politischen Anstand übersetzte und danach handelte. Dies immerhin in Zeiten, da das eine verfolgt, das andere immer rarer wurde (in Deutschland zumal) und das dritte schließlich tödliche Risiken barg. Wer ging die schon ein. Wie ehrlich und fair wird das heute beantwortet? Der mittlerweile als Pfui-Wort instrumentalisierte Begriff Antifaschismus (ein Bumerang übrigens auch angesichts des in ganz Deutschland virulenten Rechtsextremismus) umfaßt eben auch Ruth Werners Tun. Und das verdient allemal Achtung, auch wenn es manchem Wanderprediger nicht in den politischen Kram paßt. Die zweckgemäße Undifferenziertheit sowie entsprechende Verdikte in Schwarzweißmalerei erinnern fatal an SED-Traktate, die dem „richtigen Denken“ ebenfalls sicherheitshalber auf die Sprünge halfen. Sonntagsreden über fehlende Zivilcourage in Geschichte und Gegenwart, Mahnungen, aus der NS-Vergangenheit zu lernen, Kritik an der Mentalität des Wegsehens muten mindestens dann sonderbar an, wenn antifaschistische Haltung grundsätzlich diskriminiert wird - weil sie ein Legitimationsfaktor der DDR war. Zurück zum Buch: Der in der DDR zunehmend als Heldenkult ritualisierte Antifaschismus erhielt mit „Sonja“ ein sehr menschliches Gesicht. Ohne Schminke, ohne Falschheit. Das machte Eindruck, selbstverständlich. Diese Frau war schon ein bißchen mitbeteiligt an dem, was gemeinhin als Gang der Geschichte bezeichnet wird. Wenn ihr jemals ein solcher Gedanke gekommen sein sollte (das Buch vermeidet große Gesten), dann sicher nur in dem Sinne, eine frei gewählte Pflicht getan zu haben. Das ihr Mögliche. Den Maßstab dafür findet die Tochter des Wirtschaftshistorikers René Kuczynski und der Malerin Berta K. schon sehr zeitig. Bereits als 16jährige ist sie politisch aktiv. Das Deutschland nach dem 1. Weltkrieg gibt Gratisunterricht in sozialer Ungerechtigkeit und politischen Unwägbarkeiten. Nicht hinnehmbar sind der jungen Frau diese Verhältnisse, die Millionen Menschen ins Abseits treiben, ihnen mit der Hoffnung ihre Würde nehmen. Ihr Blick, ihr Denken geht über das Eigene hinaus. Aus damaligen Briefen an ihren Bruder Jürgen K. entsteht das Bild dieser brüchigen Zeit. Ruth Werner ergreift Partei gegen das Elend (in ) der Gesellschaft. Sie wird Mitglied der KPD - die Vision von einer menschlichen Welt auch ihr Lebensanspruch. Aus China schreibt sie 1935 an die Eltern in Deutschland: „Ich führe genau das Leben, das ich mir wünsche, und ich bin sehr zufrieden.“ Seit 1930 lebt sie als mitreisende Ehefrau ihres ersten Mannes Rolf, eines Architekten, in Shanghai. Eine fremde Welt. Das Ausmaß der Ausbeutung und Armut entsetzt sie. Ignoranz und Selbstbezogenheit der besseren Shanghai-Gesellschaft (reiche Chinesen, gutsituierte Ausländer, ab 1933 bei den Deutschen dann eine regelrechte Nazikolonie) sind ihr zuwider. Sie sucht und findet Freunde, Verbündete. Einer von ihnen ist Richard Sorge, die Kundschafterlegende der kommunistischen Welt. Von ihm wird sie für die konspirative Arbeit für den - wie sie später erfährt - Nachrichtendienst der Roten Armee gewonnen. Sie beginnt ein Leben, von dem zu diesem Zeitpunkt selbst ihr Mann nichts wissen darf und vor dessen Gefahren sie ihren 1931 geborenen Sohn schützen muß. Das ist eine Priorität, die sie immer berücksichtigen wird, auch in den folgenden Jahren, als sie mit drei kleinen Kindern (geboren in Shanghai, Warschau, Oxford) unter komplizierten Umständen illegal arbeitet.

Was zunächst abenteuerlich anmutet - geheime Treffs chinesischer und deutscher Genossen in ihrer Wohnung, Kurierfahrten durchs Land, nächtliches Funken, Chiffrieren, Dechiffrieren - beschreibt sie im Buch als Arbeit, in die sie immer mehr hineinwächst. Sie lernt Chinesisch (am Ende ihres Aufenthaltes kann sie 1000 Wörter schreiben und lesen), sie lernt, aus Einzelteilen das Funkgerät zusammenzubauen („bin nie ein Fachmann wie Ernst geworden“; Ernst ist in dieser Zeit ihr Arbeits-und Lebenspartner, d.A.), sie lernt Morsen („Das Morsen lag mir. Ich erfuhr später, daß ich überdurchschnittlich rasch und fehlerlos sendete.“) - sie wird eine zuverlässige Mitarbeiterin im Umfeld von Richard Sorge. 1937 wird ihr der Rotbannerorden verliehen.

Auch beim Wiederlesen nach gut 20 Jahren beeindruckt, wie Ruth Werner dieses Leben ausbalanciert. Es war ja kein spannendes Spiel. Es ging tatsächlich um Krieg oder Frieden. Und immer ums Leben. „Über die Gefahr, in der ich mich befand, konnte ich mich nicht jedesmal neu aufregen“ - diese lakonische Feststellung bezeichnet eine Grundhaltung: Unaufgeregt die Dinge tun, Entscheidungen nüchtern bedenken, leidenschaftliches Engagement klug umsetzen. So macht sie es in China, in Polen, in der Schweiz, in England - und entkommt mit Glück und Umsicht der Entdeckung. Manches Mal war es knapp. In der Schweiz gehört sie zu dem Kreis des ungarischen GRU-Residenten Rado (sein Buch Dora meldet gibt sehr genaue Einblicke in die Arbeit der Kundschaftergruppe; GRU - Nachrichtendienst der sowjetischen Streitkräfte), trifft und heiratet den englischen Kommunisten Len Beurton, einen für seine tollkühne Furchtlosigkeit bekannten Spanienkämpfer, ihr Gefährte bis zu seinem Tode Ende 1997.

Dann England als letzte Station. Seit 1941 sendet „Sonja“ von der Insel nach Moskau geheime Forschungsdaten von Klaus Fuchs über die Atombombe, an der in der Wüste von Nevada fieberhaft geforscht und gebaut wurde. Im August 1945 wird diese Waffe über Hiroshima und Nagasaki eingesetzt. Eine amerikanische Machtdemonstration unmittelbar nach Abschluß des Potsdamer Abkommens - kalkulierte Drohgebärde angesichts von Stalins imperialen Ansprüchen und wirkungsvoll auch, um eben solchen eigenen Ambitionen Nachdruck zu verleihen. 1949 stellt die UdSSR das Gleichgewicht des Schreckens her: Auch sie hat jetzt die Bombe. Was wäre gewesen, wenn nicht ... Aber Geschichte ist kein Spekulationsobjekt - eher die Resultante gesellschaftlicher Prozesse, politischer Ziele und individueller Aktivitäten. Zustandsveränderung, was noch nichts über gut oder schlecht, über Stabilität oder Instabilität sagt. Der Horror der Bombe, von den USA schon einmal der Welt vorgeführt - das Datum 6. August erinnert jährlich daran -, wurde durch den russischen Zwilling eingefroren. Kalter Krieg - immer noch besser als der alles verbrennende. Diese Grenzüberschreitung war nun tabu. Im weiten Vorfeld dazu hat Ruth Werner ihren Platz. Auf Fahrradtouren durch britische Wälder trifft sie ihren Informanten. Klaus Fuchs (seit 1932 in der KPD, 1933 emigriert, Stipendiat bei Max Born in Edinburgh) wirkt am britischen Atombomben-Programm mit, ist bis 1946 als Mitglied der englischen Forschungsgruppe am amerikanischen Bomben-Projekt beteiligt, wird 1946 Leiter der Abteilung Theoretische Physik im britischen Atomforschungszentrum und 1949/50 als Informant für die UdSSR enttarnt. Der „Atom-Spion“ ist ein Schock für die westliche Welt. Verurteilt zu 14 Jahren Haft, wird er 1959 begnadigt und in die DDR abgeschoben. Darüber steht in Sonjas Rapport freilich kein Wort. Schweigen auch darüber, daß sie in jenen 30 Jahre zurückliegenden Zeiten die Notizen von diesem Mann übernahm und weitergab. „Natürlich hat sie gewußt, daß sie keine Pelmeni-Rezepte nach Moskau schaffte. Natürlich hat sie gewußt, daß sie dabei war, den Göttern in Los Alamos Blitz und Donner zu stehlen. Natürlich hat sie später gewußt, wie nahe ihr das Feuer gewesen ist, in dem die Rosenbergs verbrannten. Natürlich hatte sie - all ihrem Tun war dies eingeschrieben - alles getan, um die Herren ihres Herkunftslandes nicht Herren der Welt werden zu lassen“ - Hermann Kant sagt es auf der Trauerfeier für seine Kollegin. Fünf oder sechs Jahre lang gehen diese und andere Meldungen durch ihre Hände (und ihr sicher auch deren Bedeutung durch den Kopf), obwohl der Amateurfunkverkehr während des Krieges verboten ist.

Im Herbst 1947 erhält Ruth Werner Besuch von der englischen MI 5 (Abteilung 5 des militärischen Geheimdienstes: Spionageabwehr): „Sie waren jahrelang eine russische Agentin.“ Die Herren schlagen auf den Schweizer Busch. Allen Foote, einst Mitarbeiter der Schweizer Gruppe, hatte sein Wissen verkauft. Ihre Tätigkeit in England aber bleibt unentdeckt. Ruth Werner und ihr Mann bieten den Gentlemen Tee an und lehnen ihr Kooperationsangebot ab. Die Verbindung zur Zentrale bricht ab. Ruth Werner versucht, mit ihrer Familie nach Deutschland zurückzukehren, braucht dazu allerdings Moskaus Einverständnis. Über die sowjetische Botschaft in Prag fragt sie 1949 an, Anfang 1950 findet sie das OK in einem toten Briefkasten. Im Frühjahr trifft sie mit den Kindern in Ostberlin ein. Arbeitsangebote der Zentrale an sie, die inzwischen den Rang eines Oberst der Roten Armee hat, schlägt Ruth Werner aus: „Meine Nerven und Konzentrationsfähigkeit“ sind nicht mehr wie früher, „ich fühlte, zwanzig Jahre reichten.“ In der gerade gegründeten DDR fängt ihr zweites Leben an. Sie beginnt zu schreiben. Ihre Bücher (u.a. Ein ungewöhnliches Mädchen, Der Gong des Porzellanhändlers) tragen zwar autobiographische Züge, geben jedoch nichts preis.

Ruth Werner fühlt sich endlich zu Hause. Ein sozialistisches Deutschland, auch dafür war sie in an der „unsichtbaren Front“. Nun ist es ein Teilstaat, und einiges in diesem neuen Land läuft schief. Manches muß der gebildeten und weltoffenen Frau schwer angekommen sein. Wie z.B. hat Ruth Werner die Verfolgung der Westemigranten verkraftet, die der Befehl Nummer Zwei auslöste, wie auf die Verhaftungen im Zusammenhang mit den „Lehren“ aus dem Slansky-Prozeß reagiert? Oder was bewirkten die Enthüllungen des XX.Parteitages der KPdSU 1956? In Sonjas Rapport ist dazu von „Jahren des schnellen Mißtrauens“ zu lesen, von der „Zeit des Personenkults und der Verletzung sozialistischer Gesetzlichkeit“ - 20 Jahre nach dem politischen Erdbeben ist das freilich nicht mehr als die parteioffizielle Sprachreglung. Freunden und Genossen, die in den Jahren des Terrors umkamen, hält sie die Treue: „Ich blieb überzeugt, sie waren Kommunisten und keine Feinde.“ Wahrscheinlich lag auch darin die Wirkung des Buches, daß ein Tabu-Thema überhaupt benannt wurde. So beschreibt sie u.a. eine Begegnung mit dem österreichischen Kommunisten Manfred Stern (bekannt aus dem Spanischen Bürgerkrieg als General Klèber und Held von Madrid), was nur für Insider zu deuten war und als indirekte Rehabilitierung gelten konnte. Denn Manfred Stern wurde, wie viele andere, in der Sowjetunion erschossen. Kein Thema in der DDR. Sicher ist das wiederum ein Grund dafür gewesen, daß das Manuskript einige Zeit lag und geprüft wurde.

Ruth Werner hat dazu öffentlich nichts gesagt. Damals nicht und nicht, als politische Stagnation und Ignoranz zum Ende der DDR führten. Sonjas Rapport bleibt als Dokument eines mutigen Lebens. Es bleiben die Fragen. Aber es bleibt auch ihre Antwort, die sie nach dem Erscheinen ihres Buches einer Journalistin gab: „(...) niemand wird von mir verlangen, daß ich einen Helden in mir sehe. Das wäre ja geradezu dumm. Der Kampf gegen Faschismus und Krieg war für uns selbstverständlich (...). Man sucht sich die Zeit, in der man lebt, und die Umstände, unter denen man kämpft, ja nicht aus. Für mich war es ein Glück, daß ich als Kommunist aktiv arbeiten konnte. Sonst wäre ich in der schweren Zeit moralisch kaputtgegangen.“

Burga Kalinowski

Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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