Eine Annotation von Joachim Liebig


Hauschild, Jan-Christoph:

Heiner Müller

Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2000, 160 S.

Über Heiner Müller, den wohl bedeutendsten Dramatiker nach Brecht, ist ein Band in der Reihe der rororo-Monographien erschienen. Das Buch ist das geworden, was es sein soll: ein kurzer Überblick über Leben und Werk Müllers sowie ein erster Anreiz, sich intensiver mit diesem Schriftsteller zu beschäftigen. In fünf Kapiteln zeichnet der Germanist Jan-Christoph Hauschild mit einer für die Enge des Raums beachtlichen Anschaulichkeit den Lebens- und Arbeitsweg des 1929 im sächsischen Eppendorf geborenen Heiner Müller nach.

Für den jungen Heiner, in der Schule ein Außenseiter, dessen literarische Fähigkeiten schnell durchbrechen, wird die Verhaftung seines sozialdemokratischen Vaters durch die Nationalsozialisten zu einem prägenden Erlebnis. Der Sohn stellt sich schlafend, als der Vater verhaftet wird, selbst als dieser ihn anruft, reagiert er nicht. Dieser Verrat am eigenen Vater wird, wie Müller es später bezeichnet, „die erste Szene meines Theaters“. Es sollte gleichsam eine Art Ur-Szene seines Werks werden, denn am Thema Verrat wird sich Müller in seinem Schaffen immer wieder gründlich abarbeiten. Noch als Teenager hat Müller alle Dramen Schillers und Hebbels gelesen und sich eine ganze Batterie an philosophischen und psychoanalytischen Werken einverleibt, neben allerlei Abenteuerromanen.

1948/49 kommt er erstmals mit Brechts Werk in Berührung und sieht 1950 eine „Mutter Courage“-Aufführung am Deutschen Theater Berlin. Von da an steht für Müller fest, daß er zum „Meister“ ans Berliner Ensemble will. In Berlin angekommen, führt er ein Nomadendasein: keinen festen Wohnsitz, wenig Geld, seine Nächte verbringt er mitunter in einer Mitropa-Gaststätte. Er schlägt sich mit journalistischen Gelegenheitsarbeiten durch. Die ersten „ernsten“ dramatischen Versuche in den späten fünfziger Jahren behandeln Probleme des sozialistischen Aufbaus wie etwa „Klettwitzer Bericht 1958“, „Die Korrektur“ oder „Der Lohndrücker“. In den sechziger Jahren wendet sich Müller stark Stoffen aus der Antike zu (z. B. „Philoktet“, „Ödipus Tyrann“). Die siebziger Jahre stehen im Zeichen einer zunehmenden kritischen Haltung Müllers gegenüber den politischen Zuständen in der DDR. Hierfür stehen besonders „Hamletmaschine“ und „Der Auftrag“, eine gnadenlose theatralische Trauerarbeit über den Verlust von Hoffnung auf eine gerechte Welt - vermutlich Müller wichtigstes Stück. Warum Hauschild die außerordentlich wichtige Rolle des Werks Antonin Artauds insbesondere für die beiden letztgenannten Dramen verschweigt, ist unverständlich, lehnt sich doch die Grausamkeit der Müllerschen Figuren in den Haltungen und der Sprache direkt an Überlegungen des Franzosen an.

In den achtziger Jahren entstehen eine Reihe weiterer Stücke, doch vor allem bringen sie das Ende der DDR, zu der Heiner Müller trotz aller Kritik bis zum Schluß steht. Müller, der als IM der Stasi geführt wird, aber offensichtlich nie durch Auskünfte jemandem geschadet hat, ist zweifelsohne Sozialist, doch einer, der lange vor der sogenannten „Wende“ Privilegien nutzen, ins Ausland fahren und dort auch publizieren konnte. Während viele andere wie Wolf Biermann ausgebürgert wurden, hatte Heiner Müller, nun auch Nationalpreisträger der DDR, seine innere und äußere Balance zum SED-Regime gefunden.

1995 endlich, Müller hat schon lange kein Stück mehr geschrieben (vermutlich sind ihm mit der Wiedervereinigung die gesellschaftlichen und politischen Widersprüche abhanden gekommen und damit die dramatischen Konflikte), wird er alleiniger Direktor des Berliner Ensembles und sitzt an jenem Ort, von dem er 45 Jahre zuvor nur träumen konnte: im legendären Turmzimmer Bertolt Brechts. Er schreibt ein letztes Stück: „Germania 3 - Gespenster am Toten Mann“. In der Vorbereitungsphase zur Inszenierung des Stücks stirbt Müller am 30. Dezember 1995 in Berlin an Krebs.

Durch die schwerpunktmäßige Darstellung der Dramatik Müllers werden die Prosa, Lyrik und die zahlreichen Gespräche, die Müller durch die erkenntnisfördernde Qualität fast in den Stand einer Literaturgattung befördert, von Hauschild etwas an den Rand gedrängt. Dennoch ist ein wichtiges Buch herausgekommen, das Appetit auf mehr macht. Abgerundet wird der Band durch zahlreiche zum Teil farbige Abbildungen und einen hilfreichen Apparat mit Zeittafel, Bibliographie und Literaturverzeichnis.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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