Eine Annotation von Horst Wagner


Gotschlich, Helga:

„Und der eignen Kraft vertrauend ...“

Aufbruch in die DDR -50 Jahre danach.
Metropol Verlag, Berlin 1999, 312 S.

Dieses Buch reiht sich ein in die zahlreichen Geschichtsdarstellungen und Erinnerungen, die anläßlich des 50. Jahrestages der neun Jahre zuvor untergegangenen DDR erschienen. Herausgegeben hat es das Institut für zeitgeschichtliche Jugendforschung als Band 7 der Reihe „Die Freie Deutsche Jugend - Beiträge zur Geschichte einer Massenorganisation“. Von einer ABM-Gruppe tatkräftig unterstützt, hat Helga Gotschlich 745 damals jugendliche Zeitzeugen befragt, wie sie die Gründung der DDR im Oktober 1949 miterlebten. „Angesprochen“, so die Autorin in ihrem dem Band vorangestellten Dank, „waren ausschließlich ehemalige FDJler, die diesen Staat als ein gesamtdeutsches Angebot und eine Alternative zur Bundesrepublik Deutschland begrüßten.“ Die 745 Fragebogen mit jeweils 26 Fragen, dazu 100transkribierte Interviews sowie zahlreiche persönliche Aufzeichnungen und Dokumente der Befragten bildeten die Grundlage für die - wie es die Autorin nennt - „freie Textgestaltung“ dieses Bandes.

Während in den ersten acht Kapiteln, welche die Anfangsjahre der FDJ von 1946 bis etwa zum ersten Deutschlandtreffen 1950 beinhalten, persönliche Erlebnisse die meist übersichtsartigen zeitgeschichtlichen Texte stützen, enthält das neunte, „Geschichten zur Geschichte“ überschriebene und rund zwei Drittel der Buchseiten füllende Kapitel ausschließlich Einzelporträts und Berichte von 20 ausgewählten Personen. Die Betreffenden sehen wir zwar auf Fotos der damaligen Zeit, sie bleiben aber ihrem Wunsch entsprechend anonym, d. h. die im Buch wiedergegebenen Vornamen und Initialien des Familiennamens stimmen nicht mit dem tatsächlichen überein. Das mag verständlich sein, weil ohne die Zusage der Anonymität die Fragebogenaktion vielleicht nicht möglich gewesen wäre. Ich finde es aber doch schade, weil es natürlich die Authentizität der Aussagen für eine zeitgeschichtliche Studie mindert.

Dabei sind die Geschichten an sich durchaus interessant, zum Teil auch dramatisch. Die der „schlanken Lilo K. mit dem klobigen Schuhwerk“ zum Beispiel, die 1945 einen „wilden Russen“ zur Vernunft brachte und später aus einer Fußballelf eine FDJ-Gruppe machte. Oder die des späteren Ehepaares „Eva und Gerhard M.“. Sie, ein deutsches Emigrantenkind, das das Herannahen der deutschen Wehrmacht im internationalen Kinderheim von Iwanowo bei Moskau erlebte; er, der HJ-Hauptscharführer, der nur zu gern noch Offizier in der Naziwehrmacht geworden wäre. Den Fackelzug der FJD vom 11. Oktober 1949 erlebten sie gemeinsam. Zwei Jahre später heirateten sie. Ganz anders die Geschichte der „Gudrun F.“, die als 15jährige im Frühjahr 1946 mehr aus Neugierde jüngste Teilnehmerin des Eröffnungslehrgangs der Jugendhochschule der FDJ am Bogensee wurde. Als Predigersohn und junger Christ kam „Christoph K.“ 1947 zur FDJ und gleich auf die Mecklenburgische Landesjugendschule. Den Fackelzug zur Republikgründung und das dabei gesprochene Gelöbnis empfand er als eine Art Liturgie und meint noch heute: „Wer Christentum ernst nimmt, muß beim Sozialismus landen.“

Was den Band mehr noch als die Schilderungen zum anschaulichen Zeitdokument macht, sind die rund 80 zum Teil von den Interviewten zur Verfügung gestellten, zum größeren Teil aus dem Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv sowie aus der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung stammenden Fotos. Da sieht man Kinder, die neue Lehrbücher auf Handwagen in die wiedereröffnete Schule fahren, Jugendliche beim Enttrümmern des Berliner Gendarmenmarktes ebenso wie den per Fahrrad zu seiner Arbeitsstelle fahrenden FDJ-Vorsitzenden Honecker, den greisen Otto Buchwitz auf einer FDJ-Delegiertenkonferenz in Dresden ebenso wie die ersten ABF-Studenten in Halle. Hinzu kommen Liedtexte, Dokumente wie die Namensliste der ersten FDJ-Volkskammerfraktion sowie persönliche Erinnerungsstücke. Vor allem den mit der Vor- und Frühgeschichte der DDR nicht so vertrauten Lesern hätte eine Zeittafel es sicher erleichtert, die Einzelaussagen aus - wie es Helga Gotschlich nennt - „niedriger Augenhöhe“ mit dem Allgemeinen, die erlebte mit der geschriebenen Geschichte zu vergleichen und zu verbinden, was ja offenbar ein Hauptanliegen dieses verdienstvollen Buches ist.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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