Eine Rezension von Walter Unze


Flickenteppich 20. Jahrhundert

Dieter Wild (Hrsg.):
Spiegel des 20. Jahrhunderts
SPIEGEL Buchverlag bei Hoffmann und Campe Verlag,
Hamburg 1999, 624 S.


Das Buch belegt eindrucksvoll, daß aus einer interessanten Serie, die über lange Zeit in einer Zeitschrift oder Zeitung erscheint, noch lange kein gutes Buch werden muß. Es ist ja sehr in Mode gekommen, aus jeder halbwegs erfolgreichen Fortsetzungsreihe in Zeitungen oder im Fernsehen gleich das „Buch zur Serie“ erscheinen zu lassen.

So wurde auch hier verfahren. Die seit November 1998 im „Spiegel“ erschienene Serie „Spiegel des 20. Jahrhunderts“ hat sicher viele interessierte Leser gefunden. Wenn man in jeder Woche über mehr als ein Jahr hinweg die unterschiedlichsten Tendenzen, Geschehnisse, Aspekte und Persönlichkeiten eines Jahrhunderts vorgestellt bekommt, ist das ein Unternehmen, dem man als ständiger oder auch als nur zeitweiliger Leser des „Spiegel“ bereitwillig folgen kann. Man liest von den verschiedensten Autoren unterschiedliche Standpunkte zu allen nur möglichen Themen und hat dabei ein intellektuelles Vergnügen oder man wird zum Nachdenken herausgefordert oder sogar zum Widerspruch provoziert. Das alles ist jedoch eingepackt in das Gesamtangebot des „Spiegel“ und wird in der Regel im Laufe der aktuellen Woche konsumiert bzw. verarbeitet.

In einem Buch liegt die Sache jedoch anders. Wenn ich es nicht mit einem Nachschlagewerk oder einem bloßen Sammelband zu tun habe, sondern mit einem Titel, der sich einem einheitlichen gemeinsamen Thema verschrieben hat, dann wird die für den Leser erkennbare Konzeption zum zentralen Dreh- und Angelpunkt. Dann will man Zielstellung und Argumentationsweise, Aufbau und Struktur, Angebotenes und Fehlendes verstehen. Bei einem so zentralen Thema wie dem 20. Jahrhundert wird das natürlich noch bedeutsamer als bei manch anderem Versuch dieser Art.

Das Buch bietet zwölf Jahrhundertbilder an, die bereits erkennen lassen, daß dabei weniger eine einheitliche Konzeption eine Rolle gespielt hat als mehr eine zusammenfassende Gruppenbildung vorhandener einzelner Artikel. Da sind einmal die übergreifenden Themen wie das Jahrhundert der Imperien, der Kriege, der Befreiung, des Kapitalismus, des Kommunismus und des Faschismus. Schon hier zeigen sich Probleme der Zuordnung. So findet zwar China einen Platz im Themenkomplex „Jahrhundert der Imperien“, aber es wäre ebensowichtig gewesen wäre, China als Bestandteil des „Jahrhunderts des Kommunismus“ zu behandeln. Und eines der zentralen Imperien des 20. Jahrhunderts, vom Zarenreich über die Sowjetunion und die GUS zum heutigen Staatengebilde, wird faktisch gar nicht behandelt, da es im Komplex „Jahrhundert des Kommunismus“ eigentlich mehr um Lenin, Stalin und Gorbatschow geht.

Eine zweite Gruppe umfaßt solche Bereiche wie das Jahrhundert der Entdeckungen, der Medizin, der Elektronik und Kommunikation, des sozialen Wandels. Eigentlich gehören die hier behandelten Themen dem einen Problemkreis an, nämlich der wissenschaftlich-technischen Revolution und ihren sozialen Folgen. Schließlich gibt es da noch zwei Komplexe, die sich mit dem „Jahrhundert des geteilten Deutschland“ in Gestalt der Bundesrepublik und der DDR befassen. Hier wäre eine komplexere Sicht als Jahrhundertschau - z. B. als Jahrhundert der geteilten Staaten (Deutschland, Vietnam, Korea, China, Zypern usw.) als Ausdruck einer geteilten Welt - sicher treffender gewesen als allein die Sicht auf die deutschen Verhältnisse.

Innerhalb der einzelnen Jahrhundertschauen wird gerade durch diese Art der Zusammenfassung etwas sichtbar, was in einer lockeren Artikelfolge nur eine untergeordnete Rolle spielt; nämlich was alles fehlt, obwohl es unbedingt dazugehört. Wenn unter dem Titel „Jahrhundert der Entdeckungen“ Freud, die Gentechnik, neue Energien und der Aufbruch in das Weltall behandelt werden, Albert Einstein und Max Planck mit ihren epochemachenden Erkenntnissen aber keinen zentralen Platz finden, ist man verwundert. Ich erinnere mich, daß der Philosoph Hans Jonas gerade in bezug auf die Relativitäts- und Quantentheorie von einem großen Jahrhundert der Entdeckungen sprach.

Es geht dabei nicht so sehr darum, was alles noch aufgenommen werden könnte. Der Herausgeber hat recht, wenn er auf die notwendige Auswahl verweist, zumal das Buch ja auch so schon recht voluminös geworden ist. Aber es gibt zu den einzelnen Stichwörtern Aspekte, die eigentlich unbedingt dargestellt werden müßten, wenn es um einen „Spiegel des Jahrhunderts“ gehen soll.

Der Band zeigt, daß eine journalistische Behandlung eines ganzen Jahrhunderts doch anderen Trends folgt als eine geschlossene Untersuchung eines solchen Zeitabschnitts, was bis zum fehlenden Register reicht, das man in einem solchen Buch natürlich besonders vermißt. Der Unterhaltungswert allerdings ist unumstritten. Die Orientierung auf das politische Jahrhundert ist gewollt, wohl auch leichter zu machen als eine gründliche Analyse der ökonomischen, geistigen, kulturellen u. a. Entwicklungstendenzen. Der Verzicht auf ein „Motto für die Summe dessen, was das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat“, erlaubt es, vieles zu bringen, ohne nach einem übergreifenden Ganzen zu suchen. Man wird ein wenig an die „Nachtwachen des Bonaventura“ aus dem Jahr 1804 erinnert, wo es rückblickend auf das vorangegangene Jahrundert heißt: „In einem schwankenden Zeitalter scheut man alles Absolute und Selbständige ... Der Zeitcharakter ist zusammengeflickt und gestoppelt wie eine Narrenjacke, und das ärgste dabei ist - der Narr, der darin steckt, möchte ernsthaft scheinen.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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