Eine Rezension von Horst Klein


Kritische Analysen zur Vereinigungspolitik

Fritz Vilmar (Hrsg.):
Zehn Jahre Vereinigungspolitik
Kritische Bilanz und humane Alternativen.
trafo verlag, Berlin 2000, 286 S.


Die kritische Beschäftigung mit der Vereinigungspolitik ist einer der Forschungsschwerpunkte des Herausgebers, der bereits im Jahr 1995 mit einem gemeinsam mit Wolfgang Dümke veröffentlichten Buch Kolonialisierung der DDR. Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses auf das zweifellos schwierige und noch wenig bearbeitete, aber auch für einen Teil der politischen Akteure unbequeme Thema aufmerksam machte. Kurzfristig wurde die politikwissenschaftliche Leistung mit einer französischen Ausgabe gewürdigt. In diesem Zusammenhang gewann die Projektarbeit neue Erkenntnisse, und der wirkliche Verlauf des „Einigungsprozesses“ verweist mit besonderer Schärfe auf die Aktualität des zweiten Bandes. Mit diesem werden u. a. der Kolonialisierungsbegriff, die Währungsunion und die Diskriminierung der ostdeutschen Eliten sowie die qualitative Wandlung der PDS zu einer demokratischen bzw. verfassungstreuen Partei aus einer weitestgehend objektiv anmutenden Sicht thematisiert. Dafür spricht nicht zuletzt das Autorenteam, zu dem bekannte Experten und Publizisten zählen. Zu nennen sind: Stefan Bollinger, Daniela Dahn, Ulrich Busch, Rolf Reißig, Edelbert Richter und Klaus Steinitz.

Fritz Vilmar, der den Leitbegriff der strukturellen „Kolonialisierung“ in die kritische Untersuchung der Vereinigungspolitik einbrachte, vermeidet nunmehr weitestgehend den Eindruck, diesen allein als „Zentralbegriff“ für die soziologische Analyse des in sich sehr widersprüchlichen Einigungsprozesses zu begreifen. So werden die Autoren dem Anspruch auf Allseitigkeit der Analyse gerecht. Beispielsweise zeigt Ulrich Busch, daß es nicht nur einen - zweifellos kolonialistisch zu nennenden - Vermögenstransfer von Ost nach West, sondern auch gewaltige Finanztransfers von West nach Ost gegeben hat, obgleich deren Umfang enorm aufgebauscht worden sei. Rolf Reißig befaßt sich mit dem Einstellungs- und Wertewandel der Ostdeutschen und macht zugleich auf deren neues Selbstbewußtsein aufmerksam. Auch Edelberg Richter geht es um Wege zur neuen Vermögensbildung in Ostdeutschland, und in dem von Bollinger und Vilmar vorgestellten Programm einer kritischen „Aufhebung“ wesentlicher soziokultureller Einrichtungen der DDR geht es, allerdings auf dem Hintergrund einer ökonomischen und kulturellen „Enteignung“ der Ostdeutschen, um Chancen einer demokratisch-sozialstaatlichen Erneuerung. Aus dieser Sicht wird in wesentlichen Beiträgen die These der Kolonialisierung erhärtet, und Vilmar widmet diesem als Zentralbegriff eine eigene theoretische Reflexion, um - mit Bezug auf Habermas - seinen nicht polemischen, sondern soziologisch-strukturellen Charakter zu erhellen. Vilmar betont den methodologischen Aspekt: „Das Verfahren, einen zunächst geschichtlich fixierten Begriff aus seinem historischen Kontext herauszulösen, um aktuelle bzw. sich wiederholende Prozesse auf den Begriff zu bringen, stellt ein übliches sozialwissenschaftliches Verfahren dar. Da hierbei nicht mehr die geschichtlich einmaligen Ereignisse wesentlich sind, sondern die ähnlich immer wiederkehrenden Abläufe und Verhaltensweisen (= Strukturen), sprechen wir von Struktureller Kolonialisierung.“

Im Vergleich des Verhältnisses von West- und Ostdeutschland im Prozeß der deutsch-deutschen Vereinigung sieht Vilmar wesentliche Kriterien der „klassischen“ Kolonialisierung erfüllt. Als wichtige Bestimmungselemente werden genannt:

Zugleich wird auch betont, daß keineswegs der gleichzeitig verwirklichte partielle und künftig zu erweiternde Demokratisierungsprozeß bei der Vereinigung in Abrede zu stellen ist. In jedem Fall können die nunmehr vorgestellten Forschungsergebnisse einen hohen Grad an Vollständigkeit aufweisen, und dies betrifft in besonderem Maße die neuralgischen Bereiche der Vereinigungspolitik, wie auch die Wirtschaftsentwicklung in den neuen Bundesländern und die Bewußtseinsveränderung der Ostdeutschen.

Im folgenden sind die wichtigsten Kapitel zu nennen:

Sinnvoll war die Entscheidung des Herausgebers, den analytischen Texten „Thesen zur inneren Uneinigkeit“ von Daniela Dahn voranzustellen, wenngleich diese bereits dem kundigen Leser aus dem Titel der Autorin Vertreibung ins Paradies bekannt sein dürften. Hier ist besonders an die Thesen zu erinnern, wonach die „Ursachen für die immer unerreichbarer erscheinende innere Einheit ... weniger in den zweifellos unterschiedlichen Prägungen in Ost und West“ liegen „als vielmehr in den für den einzelnen schwer durchschauenden Vorgängen der letzten zehn Jahre. Die Mythen darüber verschleiern und rechtfertigen das Geschehene, um die bittere Bilanz nicht ziehen zu müssen: Nur ein Fünftel der Ostdeutschen fühlen sich heute als Bundesbürger.“ Dahn sieht nach der Währungsunion in der Eigentumsregelung den größten Fehler der deutschen Vereinigung. Man könne „die Ostdeutschen nicht in Demokratie und soziale Marktwirtschaft einbeziehen wollen, indem man sie zugleich von deren Voraussetzungen, nämlich Arbeit und Eigentum, weitestgehend ausschließt“. Mit scharfsinnigen Gedanken wendet sich Dahn gegen eine Verengung der Vergangenheitsdebatte, wie sie mit den Begriffen „Unrechtsstaat, SED-Regime, Verbrechersystem“ etc. immer wieder wahrzunehmen ist.

In diesem Zusammenhang verdient das von Bernd Söll verfaßte Kapitel „PDS - Protestpartei gegen Kolonialisierung. Das Problem ihrer demokratischen Legitimation“ besondere Aufmerksamkeit. Zu Recht wendet er sich gegen die von den etablierten bundesdeutschen Parteipolitikern gern strapazierte Behauptung, „die PDS sei nur eine umgetaufte SED“. Hier hätte der Autor allerdings noch deutlicher die politischen Konsequenzen der ahistorischen These von der „SED-Nachfolgepartei“ aufhellen sollen, denn letztlich läuft diese auf eine Verharmlosung der SED-Diktatur hinaus. Wer PDS und SED gleichsetzt, hat ganz offensichtlich vom Wesen des Stalinismus bzw. des Parteikommunismus nichts verstanden. In Auseinandersetzung mit dieser Sicht widmet sich Söll der Frage nach dem Wandel in der Parteiführung, der Frage nach dem Vermögen der SED und der Frage, ob die PDS programmatisch auch weiterhin mit der SED zu identifizieren sei. Er weist nach, daß bereits im Dezember 1989 der Bruch mit der alten Elite und mit dem stalinistisch geprägten Parteikommunismus grundsätzlich vollzogen wurde. Daß dies insgesamt ein sehr schwieriger und widerspruchsvoller Prozeß ist, der sich im einzelnen in der Mitgliederbasis zuweilen auch anders darstellt, ist nicht zu übersehen. Ein deutliches Zeichen des radikalen Umbruchs in der PDS sei nach Sölle das 1993 beschlossene Grundsatzprogramm. Daraus nennt er vor allem Kriterien wie das Bekenntnis zum sozialen Rechtsstaat und zur parlamentarischen Demokratie, das pluralistische Sozialismuskonzept, die Akzeptanz einer Vielfalt von Eigentumsformen und die Vorstellungen über eine weitergehende Demokratisierung der Gesellschaft. Im Programm werden klar die Leistungen, Irrwege und Verbrechen des „Realsozialismus“ aufgezeigt, und es werde dem marxistischen Geschichtsdeterminismus eine Absage erteilt. Im Hinblick auf die ca. 500 Mitglieder zählende Kommunistische Plattform (KPF) wird kritisch herausgestellt, daß deren Repräsentanten zwar den Stalinismus kritisieren, aber teilweise dem „Realexistierenden Sozialismus“ nachtrauern. Indessen sei das Gewicht der KPF innerhalb der PDS als sehr gering einzuschätzen. Söll ist zuzustimmen, daß die Geschichtsaufarbeitung in der PDS eine der wichtigsten Aufgaben bleibt. Dies schon deshalb, weil beachtliche wissenschaftliche Leistungen der PDS-Kommunismusforschung von der Mitgliederbasis noch immer zu wenig reflektiert werden. Dessenungeachtet ist festzuhalten, daß sich wohl in den Jahren nach der Vereinigung kaum eine der etablierten Parteien so gründlich und kritisch mit der eigenen Geschichte befaßt hat wie die PDS.

Wer sich die zusammenfassenden, anderweitig zum großen Teil schwer oder gar nicht zugänglichen Analysen und Konzepte dieses Bandes verschafft, wird feststellen, daß er Klarheit bringt in viele wesentliche Sachverhalte der zehnjährigen Vereinigungspolitik, über die ansonsten nur hinweggeredet wird.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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