Eine Rezension von Eberhard Fromm


Von Nietzsches poetischer Konfession

Manfred Riedel: Freilichtgedanken
Nietzsches dichterische Welterfahrung.
Klett-Cotta, Stuttgart 1998, 375 S.


Wenn ein ausgewiesener Philosoph wie Manfred Riedel (1936) in fremden Gefilden - wie hier der Poetik - wildert, kann man auf das Ergebnis gespannt sein. Um es vorwegzunehmen: Wer den Philosophen Friedrich Nietzsche von dieser Seite - eben seiner „dichterischen Welterfahrung“ - kennenlernen will, kommt hier voll auf seine Kosten. Allerdings, auch das gleich zu Beginn, man sollte seinen Nietzsche schon ein wenig kennen, bevor man sich an dieses Buch wagt.

Riedel teilt seine Arbeit nach einer „Vorerinnerung“ über Musik, Gedicht und Gedanke in drei Hauptabschnitte: Wegweisungen, Gedankenlandschaften und Deutungen, wobei er selbst den zweiten Teil zur bestimmenden Größe des ganzen Buches erhebt. In allen Passagen wird deutlich, daß die Untersuchungen und Ausdeutungen zum poetischen Schaffen Nietzsches keine separate Abtrennung darstellen, sondern immer verbunden werden mit den Interpretationen des ganzen Nietzsche. Insofern wird Nietzsches Wegweisung durch den Lichtgedanken der Kultur zum Motto des Buches, wonach jeder einzelne mit der Aufgabe betraut ist, „die Erzeugung des Philosophen, des Künstlers und des Heiligen in uns und außer uns zu fördern und dadurch an der Vollendung der Natur zu arbeiten“, wie es in „Schopenhauer als Erzieher“ heißt.

Der Autor arbeitet heraus, daß und warum die Dichtung für Nietzsche eine solche besondere Bedeutung besitzt. Für andere habe Nietzsche als Denker geschrieben, für sich als künftiger Dichter, der „literarisch gewohnte Bindungen zerbricht und in sprachrhythmischen Experimenten die aphoristische Prosa ins Poetische umsetzt“. Und Riedel scheut sich nicht, diesen Experimenten nachzugehen und sie einer literaturwissenschaftlichen formgeschichtlichen Analyse zu unterziehen.

In immer wiederkehrenden Argumentationen wird die Beziehung Nietzsches zur Dichtung der Antike, zur Weimarer Klassik, zu Hölderlin u. a. großen Dichtern vorgestellt. Auch biographische Erfahrungen wie die Begegnungen mit Lou Salomé und Heinrich von Stein werden unter dem Aspekt ihrer Wirkung auf Nietzsches dichterische Aussagen untersucht. Von besonderer Intensität aber sind jene Abschnitte, in denen Nietzsches inneres Verhältnis zu Landschaften, seine „poetische Topologie“ betrachtet wird: Splügen, Sils-Maria, Genua, Portofino. Riedel verweist darauf, daß sich Nietzsche wie kein anderer Denker seine Philosophie erwandert habe und dabei „das Gesicht der Landschaft in Gedankengesichten zu deuten“ verstanden habe. Von daher auch der Titel des Buches: Freilichtgedanken.

Wenn ein Philosoph sich mit einer solchen Thematik auseinandersetzt, wie Riedel es hier vorführt, dann kann man sicher sein, daß die Wechselbeziehung der „innersten Erfahrung des Denkers“ mit dem „innersten Erleben des Dichters“ zur Sprache kommt. Bei Riedel steht sie im Zentrum.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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