Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold


Treffende Analyse bedenkenswerte Vorschläge

Ulrich Pfeiffer:
Deutschland - Entwicklungspolitik für ein entwickeltes Land
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1999, 338 S.


Der Verfasser, Jahrgang 1939, hat Ökonomie und Politikwissenschaften studiert, ein Dutzend Jahre als Beamter in Ministerien gearbeitet, war von 1967 bis 1982 als Konsultant für die SPD-geführten Bundesregierungen tätig, hat sich dann als Politikberater selbständig gemacht und 1989 ein Consultingunternehmen gegründet. Er ist Sprecher des SPD-nahen Managerkreises der Friedrich-Ebert-Stiftung. Sein politischer Standort ist erkennbar, seine Sachkunde unbestreitbar. Sie offenbart sich in dem Buch überzeugend.

Pfeiffer unternimmt es, in einer Umbruchsituation deutscher Politik -nach dem Ende der überlangen, von Stagnation geprägten Ära Kohl -sowohl eine Gesellschaftsanalyse anzubieten, konzentriert auf wichtige innenpolitische, soziale, fiskalische Bereiche, als auch Vorschläge zu umreißen, wie die Bundesrepublik sich -zumindest halbwegs -aus den Problemen befreien kann, die in Jahrzehnten aufgelaufen sind, beginnend mit dem Regiment Adenauer. Aber: „Unter Helmut Kohl haben die Deutschen in den letzten Jahren die Europameisterschaft in der Realitätsverweigerung errungen. Deutschland -ein politisches Trägheitsmärchen - erhob das ,Weiter so` zur Staatsphilosophie.“

Deshalb fordert der Autor Entwicklungspolitik für ein entwickeltes Land. Sie dürfe, meint er, nicht nur „aus einigen wenigen großen Maßnahmen bestehen, durch die alles verändert wird“. Eine komplexe Gesellschaft könne, „wenn überhaupt, nur durch eine genauso komplexe, in sich stimmige Politik verändert werden“. Für alle wichtigen Politikfelder müßten Umbauvorschläge formuliert werden. Dies versucht Pfeiffer in sieben Kapiteln, die sich konkreter Bereiche und Aufgaben annehmen: Renaissance in der Politik; Modernisierung des Staates; zentrale Themen des Sozialstaates (Grundbedürfnisse gewährleisten); Integration voranbringen (gemeint sind hier sowohl die ausstehende Vereinigung von Ost und West als auch Deutschland als Heimat für Einwanderer); Grundlagen sichern (dies mit dem Blick auf die Zukunft, im Sinne von „Chancen für ein nachhaltiges Deutschland“).

Der Autor bekennt, daß er beim Schreiben „mit den Grenzen der Artikulationsfähigkeit gekämpft“ hat, hofft jedoch, daß sein Text „gerade für Nichtökonomen lesbar und plausibel geworden ist“. Dies kann man ihm für den überwiegenden Teil bestätigen (obwohl es dem Rezensenten schwerfällt, sich in den Zustand des Nichtökonomen zurückzuversetzen). Schwierigkeiten der Rezeption dürften für politikinteressierte, hinreichend allgemein gebildete Laien vielleicht durch einen Umstand auftreten: Viele Feststellungen und Vorschläge sind verknappt formuliert, oft nur in Thesen, ohne eine ergänzende, durchaus wünschenswerte Erläuterung. Dieses Vorgehen hat der Autor offenbar gewählt, um die Fülle des sich anbietenden Stoffes bewältigen zu können. Andererseits ergibt sich aus der Komplexität des Herangehens einer der wichtigsten Vorzüge des Buches -es bleiben kaum weiße Flecken, wenn man davon absieht, daß der Autor sich mit analytischen Feststellungen zu den übermächtigen Unternehmensgruppen und ihrer Rolle in diesem Staat auffallend zurückhält.

Pfeiffer vermeidet in der Tat Antworten auf einige durchaus relevante Fragen. Dies gilt insbesondere für ein Problem: Wie sollen die zweifellos notwendigen Umbauten - Veränderungen, „die in ihren Dimensionen alles sprengen, was Politik in den letzten 20 Jahren veranstaltet hat“ -gegen den zu erwartenden Widerstand des privaten Reichtums, der ökonomisch wie finanziell Mächtigen durchgesetzt werden? Dieser Widerstand wäre vorauszusehen, wollten Regierung und Parlamentsmehrheit beispielsweise eine Bodenwertsteuer einführen. Gleiches gilt für die ebenso vorhandene Notwendigkeit, das obere Fünftel der Einkommensbezieher zu einem höheren Anteil am Steueraufkommen zu verpflichten, Vergünstigungen für Spitzenverdiener abzubauen, Kapitalflucht und Steuervermeidungsmöglichkeiten wirksam zu beschränken, wie Pfeiffer es vorschlägt.

„Ein gerechter und effizienter Sozialstaat“, so die These, soll sich vor allem durch Veränderungen auf drei Feldern zeigen: Ausgleichsleistungen zugunsten der Familie; gleiche Grundsicherung (steuerfinanzierte Grundrente) und Pflichtsparen in einen eigenen Kapitalstock; massive Unterstützung der Erwerbstätigen mit Unterausbildung durch Freistellen des Existenzminimums von Einkommensteuer und durch die Grundrente. Interessante Vorschläge, deren Ziel eine „optimale Ungleichheit“ sein soll. Keinen Zweifel läßt der Autor an der unausweichlichen Notwendigkeit des Sparens im gesamten Bereich der öffentlichen Ausgaben.

Pfeiffer läßt erkennen, daß er keinen Stein der Weisen präsentieren kann und sich zu einigen brennenden Fragen nur knapp äußern will. Deutlich wird dies unter anderem in dem kurzgehaltenen Abschnitt „Das besondere Dilemma der Gesundheitspolitik“. Hier findet er kein Wort zur Übermacht der Pharmakonzerne und zur Ärztelobby. Er stellt lediglich fest, daß die Gesundheitspolitik „von Interessenten durchsetzt“ und ein Dschungel ist, in dem sich nur Spezialisten zurechtfinden. Befremdend, zumindest mißverständlich ist die lapidare Behauptung, „jede eingesparte Gesundheitsmark“ werde „im Zeichen der Überforderung der Steuerzahler zu einer guten Mark“.

Es ehrt den Autor, der sich nach seinen Worten in vielen Gesprächen mit kompetenten Persönlichkeiten beraten und Anregungen geholt hat, daß er nicht als Fachmann für jedes Problem auftritt. Auch und gerade in diesem Punkt hebt sich sein Buch wohltuend von einer publizistischen Charlatanerie ab, die den deutschen Leser seit Jahr und Tag mit Patentlösungen, Halbwahrheiten und Besserwisserei für dumm verkauft.

Das Buch ist als Herausforderung zur Diskussion gedacht und dafür denkbar geeignet. So muß der Autor auch mit Widerspruch rechnen, ja ihn zur Klärung der wahrhaftig komplexen und komplizierten Fragen künftiger deutscher Innen- und Sozialpolitik sogar wünschen. Einige Hinweise auf möglichen Widerspruch liegen auf der Hand. Pfeiffer schlägt den Abbau von Subventionen für den öffentlichen Personennahverkehr vor (und folgerichtig auch die Abschaffung der Kilometerpauschale für Berufstätige). Er läßt jedoch offen, wie er den sozialen Belastungen für die unteren Einkommen begegnen will und mit welchem Ansteigen des Autoverkehrs zu rechnen ist. Er läßt auch Hinweise auf die hohen Subventionen für profitträchtige Industriekonzerne vermissen. Pfeiffer beklagt die zunehmende Kinderlosigkeit der Ehepaare (und will ihr durch finanzielle Fördermaßnahmen begegnen), ohne sich dazu zu äußern, ob es überhaupt möglich ist, eine höhere Geburtenentwicklung „zurückzuholen“: Kinder oder mehr als ein Kind will eine immer größer werdende Zahl deutscher Ehe- und eheähnlicher Paare offenbar nicht.

Einige Aussagen des Buches sind widersprüchlich. Einerseits fordert der Autor, künftige deutsche Innenpolitik müsse „sozial und liberal“ sein. Andererseits aber hält er nichts vom sozialen Wohnungsbau (der tatsächlich ein Essential nicht nur für das unterprivilegierte Drittel der Gesellschaft, sondern auch für junge Ehepaare ist). Er meint sogar, die Zuweisung einer Sozialwohnung führe „in ein Milieu der Lähmung, der Lethargie und der Stigmatisierung“. Wie und wo aber sollen die vielen Leute mit geringem Einkommen wohnen? Vielleicht ist die Frage unfein, aber sie drängt sich auf: Wie und wo lebt denn ein Autor, der seine Idee einer „optimalen Ungleichheit“ unter anderem durch Einstellen des sozialen Wohnungsbaus nach englischem Vorbild herbeiführen will? Der Verlag teilt im Klappentext mit, Pfeiffer lebe „in Bonn, Berlin, London und in der Provence“. Das sei ihm gegönnt. Aber es ist auch eine Antwort.

Ausgesprochen stark und weitgehend praktikabel sind die Vorschläge zur Modernisierung des Staates nach dem Motto: „Die Aufgabenkritik muß die Berechtigung ganzer Tätigkeitsfelder überprüfen.“ Aus allen behandelten Punkten dieses Themenbereichs spricht der Fachmann, der sich den kritischen Blick auf ein Staatswesen bewahrt, ja ihn geschärft hat, das seit den 50er Jahren immer mehr erstarrt, verkrustet, hypertrophiert ist.

Unter dem Stichwort „Elemente einer Föderalreform“ vermißt man allerdings eine Meinung zu Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit einer rationellen Länderstruktur, die durch Abschaffung der Stadtstaaten und „Eingemeindung“ einiger Länder erreicht werden könnte. Offenbar wollte Pfeiffer auch dieses heiße Eisen nicht anpacken -es kann aber auch sein, daß er die deutsche Kleinstaaterei für einen erstrebenswerten Föderalismus hält. Den Länderfinanzausgleich jedenfalls möchte er geändert haben.

Dem Gros der Pfeifferschen Vorschläge ist Beachtung, Diskussion, Prüfung auf Realisierbarkeit zu wünschen. Keinen Abstrich von seiner Feststellung, daß es unverantwortlich wäre, beim „Weiter so“ zu bleiben.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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