Christlicher Dialog und marxistisches Gebet
In den 60er Jahren war der Prager Philosophieprofessor Milan Machovec ein häufiger und gerngesehener Referent auf internationalen europäischen Foren. Das Schlagwort Reform hatte in Ost und West Geister geweckt, wenn auch mit verschiedenartiger Ausrichtung. Es galt, das durch den Kalten Krieg geteilte Europa wieder einander anzunähern. Als sinnhaften Ausdruck dieser politisch-kulturellen Bestrebung markierte der christlich-marxistische Dialog einen intellektuellen Aufbruch in den einander feindlich gegenüberstehenden Lagern. Die gegenseitige ideologische Verteufelung sollte einer kritischen Bestandsaufnahme des jeweiligen authentischen Denkens weichen. Marxistische Philosophen und christliche Theologen dachten gemeinsam darüber nach, was sie voneinander unterschied und welche Gemeinsamkeiten sie zusammenkommen ließen. Daß dieser Dialog unter den Rohren jener sowjetischen Panzer endete, die im August 1968 den Prager Reformsozialismus gewaltsam gestoppt hatten, verrät den unmittelbaren politischen Charakter dieser Diskussionssphäre. Der christlich-marxistische Dialog fand nur scheinbar im luftleeren akademischen Raum statt. Auch damals ging es unmittelbar um die Frage nach dem Menschen, und die jeweilige ideologische Festlegung zog eine unmittelbare, handfeste Folge nach sich.
In dieser neuesten Stellungnahme zur Frage nach Gott und nach dem Menschen bilanziert Milan Machovec die Zeit des Dialogs und schildert die sich anschließende Etappe der Normalisierung, die die Menschen in der Tschechoslowakei zwanzig wertvolle Lebensjahre und die Gesellschaft entscheidende Entwicklungsmöglichkeiten gekostet hat.
Seit Machovecs Bestseller von 1972, Jesus für Atheisten, hatte er immer weniger Möglichkeiten gehabt, sich öffentlich zu äußern. Selbstverständlich waren den marxistischen Dialogteilnehmern in ihrer Heimat die Lehrmöglichkeiten entzogen worden, nicht wenige mußten sich in unterqualifizierten Berufen durchschlagen.
Um so aufschlußreicher ist der Faden, den Machovec nach unterbrochenen Jahrzehnten wieder aufnimmt. Erstmalig äußert sich Machovec aber auch zu seiner biographischen Prägung in Prag. Er spricht von einem Emmauserlebnis, welches ihn als Kind anläßlich einer Benediktiner-Liturgie entscheidend geprägt hat. Ich wurde für ein Christentum gewonnen, schreibt der Marxist Milan Machovec, welches den Menschensohn verherrlicht und nicht für einen egoistischen Lottogewinn betet. Glaube und Skepsis bildeten sich im Laufe des Lebens als zwei Pole einer Seele heraus.
Der Atheist Machovec umreißt zu Beginn des Kapitels Was man von Gott sagen darf, kann und soll eine grundsätzliche Erkenntnis seiner jahrzehntelangen Forschungen, seines Lebens und somit seiner persönlichen Quintessenz des christlich-marxistischen Dialogs: Wir können nicht leben ohne Gott als erreichte und zugleich programmierte Summe der tiefsten menschlichen Erfahrungen und Sehnsüchte. Eine vernichtende Kritik von Machovec am modernen Egoismus und unreflektierten Individualismus verbindet seine Vorstellungen von Sinnsuche und Solidarität mit dem Christentum ebenso wie seine Verachtung gegenüber dem nichtsdenkenden Konsumenten. In der Lehre des erfolgreichsten jüdischen Propheten Jesus Christus fallen nach Machovec zwei entscheidende Dinge zusammen: Das Königreich Gottes und deine eigene innere Umwandlung sind ein und dasselbe. An dieser Stelle zündet der unerhörte Sprengstoff einer existentialen Ernsthaftigkeit!
Da das vorliegende Büchlein auf Vorträgen von Milan Machovec beruht, fehlt zuweilen ein konkreter wissenschaftlicher Anmerkungsapparat. Im Gegenzug spürt der Leser, daß hier ein Philosoph mit Leib und Seele engagiert referiert. Kein Wunder, daß dieses Buch bereits in der zweiten Auflage erscheint. Machovec, ein versierter Theologe ohne persönliche Gottesbeziehung und ein begnadeter Altphilologe, verliert bei all seinen Studien nie die Atmosphäre menschlicher Existenz aus den Augen: Jenes so menschlich natürliche und ergreifende Wort ,Bleibe bei uns! Es ist Abend, bald wird es dunkel sein!` (Lukas 24,29) ist imstande, das menschliche Herz zu entflammen, auch wenn der Kopf nicht an die Auferstehung glaubt.