Eine Rezension von Christel Berger


Exzellente Mischung von Literaturgeschichte und Tourismuswerbung

Detlev Ignasiak (Hrsg.):
Dichter-Häuser in Thüringen
quartus-Verlag, Bucha bei Jena 2000, 448 S.

Jens Fietje Dwars (Hrsg.):
Dichter-Häuser in Sachsen-Anhalt
quartus-Verlag, Bucha bei Jena 2000, 368 S.


Der quartus-Verlag in Jena präsentiert mit der Reihe „Dichter-Häuser in ...“ (bisher Thüringen und Sachsen-Anhalt) ein Unternehmen, dem höchster Respekt gilt: Fachleute beschreiben in einzelnen abgeschlossenen Beiträgen Lebensstätten von Dichtern und begnügen sich dabei weder mit Erklärungen, die Schriftstellerlexika entnommen oder nachempfunden sein könnten, noch mit einfachen Architektur- oder Museumsbeschreibungen. Die Autoren leisten wesentlich mehr: Sie liefern Originalbeiträge, in denen sich die Interpretation von Leben und Schaffen des jeweiligen Dichters besonders auf die Texte oder Lebensjahre bezieht, die mit dem beschriebenen Haus verbunden sind. Außerdem gibt es auch Textbeispiele, und oftmals wird die weitere Geschichte des Hauses verfolgt. Damit bieten die Bände neben „Literaturgeschichte zum Anfassen“ auch Kultur- und Lokalgeschichte in schöner Einheit. Die Bücher behaupten sich durchaus neben gewichtigen Literargeschichten, aber sie reizen vor allem zum Besuch der jeweiligen Gegenden, denn die Autoren stellen nicht nur die bekannten Literatur-Museen, sondern auch unbekannte Gebäude vor, die heute niemandem mehr verraten, daß einstmals eine geistige Größe hier gewirkt hat. Auch das Spektrum der Dichter ist weit gefaßt: Neben bekannten heute vergessene, und zum Dichtungsverständnis gehören natürlich lyrische, dramatische und epische Texte, aber auch die Abhandlungen von Pädagogen und Philosophen, Kirchenlieder, Tier- und Reisebeschreibungen. So überraschen die Bücher mit einer Fülle von Informationen, die den Reichtum des kulturellen Erbes jener Gegenden auf schöne Weise vor Augen führt. Keine Reise nach Thüringen oder Sachsen-Anhalt sollte begonnen werden, ohne daß man sich nicht vorher mit einem Blick in das Buch informiert hat, wo man wem auf diesem Weg einen Besuch abstatten könnte. Und garantiert liest man sich wieder fest und findet ein Haus, das man noch nicht kennt.

Dem Herausgeber von Dichter-Häuser in Thüringen, Detlev Ignasiak, der selbst einige sehr kenntnisreiche und schöne Beiträge verfaßte, stand ein namhaftes und staatliches Autorenkollektiv zur Seite, das für Fachkenntnis bürgt. Die meisten Autoren verstehen es, sachlich und dennoch anschaulich für den jeweiligen Autor und sein Haus zu werben. Einzig der Verfasser des Marlitt-Textes geht wohl in der Verehrung (Vergötterung?) seiner Autorin ein bißchen zu weit. Thüringen mit Weimar/Jena und Eisenach - das weiß man - gibt ja allerhand her, was „Dichter-Häuser“ betrifft. Man denkt sofort an Goethe und Schiller, Wieland und Herder, die Romantiker, aber auch an Nietzsche, Luther und den Sängerkrieg auf der Wartburg, vielleicht auch an Müntzer in Mühlhausen. Bei weiterer Überlegung fiel mir noch Lenz und Hölderlin ein. Von der Marlitt in Arnstadt, Riccarda Huch in Jena und Inge von Wangenheim in Rudolstadt habe ich auch gewußt. Daß das jedoch nur ein Teil ist, erfuhr ich anhand des Buches. Beispielsweise war Sondershausen einstmals Wohnort mehrerer Dichter (Nikolas Dietrich Giseke, Friedrich Gottlieb Klopstock, Gottfried Konrad Böttger, Johann Karl Wezel, Johann Kaspar Lavater), und Thüringen als Heimstatt wichtiger reformpädagogischer Provinzen (u. a. in Schnepfenthal und Wickersdorf) hat es auch in sich!

Das und vieles mehr wird dem Leser auf anschauliche Weise entdeckt, wobei das Staunen über Unbekanntes durchaus ein besonderer Reiz des Buches sein dürfte: Oder haben Sie Theodor Storm je mit Thüringen in Zusammenhang gebracht? (Acht Jahre lang war er in Heiligenstadt!) Und Fritz Reuter mit Eisenach? Dessen attraktive Villa hat übrigens meine Vorstellung von diesem Dichter noch einmal in Verwirrung gebracht. Daß die Enkelin von Bettina von Arnim als Schloßfrau von Crossen in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ernstzunehmende Bücher geschrieben hat, Elisabeth Freifrau von Heyking hieß und in ihrer Zeit Erfolgsautorin war, fand ich interessant, und daß ein August Trinius mit dem Leitspruch „Wandern heißt leben“ nach Thüringen gehört, einleuchtend. Ob sich Kurd Laßwitz als erster utopisch-wissenschaftlicher Schriftsteller Deutschlands aus dem verträumten Gotha ins Universum gesehnt hat oder aber seine Kenntnisse als Lehrer für Mathematik, Physik und philosophische Propädeutik schöpferisch umsetzen wollte, bleibt unserer Spekulation überlassen. Aber damit hätten wir diesen Mann dem Vergessen entrissen, wie auch Wilhelm Hey in Ichtershausen, den Verfasser von „Weißt du, wieviel Sternlein stehen“, und Johannes Falk, den verdienstvollen „Narren von Weimar“, der nach den Kriegswirren seiner Zeit sich vagabundierender Kinder annahm.

Endlich also sind wir in Weimar! Denn nicht allein wegen der Unbekannten ist das Buch eine Fundgrube. Da sich bekanntlich die Weimarer Klassik an verschiedenen Orten abspielte, ist die Schilderung von Leben und Werk unserer Großen nicht minder interessant. Allein Goethe kommt in diesem Buch im Weimarer Gartenhaus, in Stützerbach, im Dornburger Rokokoschloß, im Haus am Frauenplan, in Kochberg und Griesbachs Sommerhaus in Jena vor. Auf diese Weise erfährt man eine Menge schöner Details, die bei allgemeineren, der jeweiligen Örtlichkeit nicht derart verbundenen Abhandlungen verlorengingen. Schön ist es, daß in Weimar nicht nur die „klassischen“ Stätten behandelt werden, sondern auch des Eckermann-Hauses und des Luther-Hofes erinnert wird, so daß selbst die eifrigsten Weimar-Touristen erneut Grund haben dürften, diese Stadt aufzusuchen und Neues zu entdecken.

Ein Dichter-Ort in Thüringen hat seine ganz besondere Geschichte (und ich finde es falsch, „Dichter-Haus“ dazu zu sagen, denn „behaust“ waren die Autoren dort wohl nicht!), und es ist ein Verdienst Martin Straubs, mit einem Essay dem Konzentrationslager Buchenwald als Leidensstätte auch von Dichtern zu gedenken. Neunzehn Dichternamen, Dichterschicksale sind mit diesem Ort der Barbarei verbunden. Wenige der Schriftsteller haben überlebt und später versucht, ihr Leid und das ihrer Kameraden mit ihren Texten unvergessen zu machen. Es ist gut, daß auch dieses Dichter-Orts gedacht wurde.

Herausgeber von Dichter-Häuser in Sachsen-Anhalt ist Jens-Fietje Dwars, und der Untertitel des Buches lautet zu Recht: „Kulturhistorische Porträts“. Dem oben beschriebenen Prinzip und Anliegen folgend, scheint mir der zweite Band noch geschlossener und gelungener, was die Einzelbeiträge betrifft. Fast jeder Text versteht sich als in sich geschlossener Essay, kein Beitrag ist zu lang, und neben dem bereits gelobten Sachverstand gibt es hier zuweilen auch kritische Töne gegenüber dem beschriebenen Autor.

Daß sich Sachsen-Anhalt mit seinen Dichter-Häusern durchaus mit Thüringen messen kann, verwundert. Aber die Erklärung des Herausgebers, schließlich handele es sich ebenso um ein „mitteldeutsches Kernland“ mit einer bewegten Geschichte, der Vermischung von Kulturen, kirchlichen Protesten, blutigen Fehden im Dreißigjährigen Krieg bis hin zu den Klassenauseinandersetzungen im 20. Jahrhundert leuchtet ein, und schließlich überzeugt das Vorgestellte: eine wahrlich reiche literarische Landschaft, die mit dem Dom zu Merseburg als Domizil von Thietmar von Merseburg (geb. vermutlich 975) beginnt und dem Haus des Mitteldeutschen Verlages in Halle samt seiner wechselvollen DDR-Geschichte endet. Wir begegnen neben bereits in Thüringen beheimatet Gewesenen (u. a. Nietzsche, Müntzer, Klopstock und Goethe) natürlich Novalis in Weißenfels und Oberwiederstedt, Winckelmann in Stendal, Johannes Schlaf in Querfurt, Fritz Reuter in Gardelegen, dem Afrika-Forscher Hans Schomburgk in Querfurt und Fontane in Tangermünde. Natürlich war Martin Luther in dieser Gegend allüberall. Schön ist es, daß diesmal die literarische Landschaft bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts (Brigitte Reimann in Burg, Martin Gregor Dellin aus Weißenfels, der „Bitterfelder Weg“) reicht, Schriftsteller wie Erich Weinert und Hans Lorbeer nicht vergessen wurden. Daß Katharina II., die Große, als Prinzessin von Anhalt-Zerbst geboren und in der Geschichte nicht nur als erste Memoirenschreiberin Rußlands verewigt, dazugehört, beruht nicht nur auf dem kulturhistorischen Anspruch der Schreiber. Sie wollen alles Wissenswerte dem Vergessen entreißen - auch den verschwundenen Reichard-Garten in Halle und Johann Beer und die barocke Hofkultur in Weißenfels.

Besonders erwähnenswert sind die Essays, in denen versucht wird, den jeweiligen Ort in seiner Bedeutung für Dichter unterschiedlicher Generationen zu ergründen. Jens Fietje Dwars widmet dem Brocken und seinen Besuchern (Goethe, Heine, Seume, Kleist, Eichendorff, Friedrich von Matthisson, Adelbert von Chamisso, Fontane, Löns) eine Betrachtung, die neben vielem Wissen auch großes Verständnis für die Lebenssituation des einzelnen und seine dichterische Verkleidung verrät. Nur elf Seiten Text und doch eine beeindruckende Wanderung durch deutsche Literaturgeschichte! Ebenso komprimiert und aufschlußreich ist die Geschichte von Schulpforta, dem „Bildungskloster“ an der Saale (Verfasser: Deltef Ignasiak), und „die drei schreibenden Frauen in Weißenfels“ - Louise Bachmann, Louise von Francois und Hedwig Courths-Mahler - träumten jeweils in den Mauern ein und derselben Stadt zu anderer Zeit und auf andere Weise von menschlichem Glück. Ingo Bach und Jens Fietje Dwars folgen ihren Lebensspuren voller Verständnis, aber nicht ohne kritische Anfragen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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