Eine Rezension von Dorothea Körner


Vom Versiegen und Wiedergewinnen der Lebenslust

Jeanette Winterson:
In dieser Welt und anderswo
Erzählungen.
Aus dem Englischen von Monika Schmalz.
Berlin Verlag, Berlin 2000, 230 S.

Jeanette Winterson, 1959 in Lancashire geboren und heute in London lebend, legt nach mehreren Romanen, die fast alle mit Preisen bedacht wurden, hier erstmals 17 Erzählungen vor, die mich weitgehend faszinierten. Sie verraten eine große Begabung, außergewöhnliche Intelligenz, Phantasie und eine Kunst des sprachliches Denkens, die die Lektüre zu einem Genuß macht - wenn auch nicht immer zu einem einfachen.

Die Autorin versucht sich in den verschiedensten Genres: realistischen Erzählungen, Geschichten mit phantastischen Elementen, Märchen, Mytheninterpretationen, Gesellschaftssatiren oder mehr essayistischen Reflexionen. Die Verschiedenartigkeit der Sujets, geistigen Welten, Handlungsebenen, Erzähler und Sprachmuster verlangt vom Leser eine gewisse geistige Beweglichkeit. Er muß sich auf das Abenteuer mit dieser Autorin einlassen, das ihn in reale und fiktive Welten führt. Dennoch bleibt ein roter Faden, der sich durch alle Erzählungen zieht. Jeanette Winterson wird von der Frage umgetrieben, wie der Mensch leben soll, wie er zu sich selbst findet und jeden Morgen den Mut aufbringt, den Tag zu bestehen. Sie weiß um das Wagnis der Grenzüberschreitung, der Gesetzlosigkeit und des unmäßigen Anspruchs an sich selbst oder den Partner als Voraussetzung für Liebe und ein Leben, in dem man selbst die Hauptperson ist. Die Autorin erzählt von der grenzenlosen Chance, die in jedem Anfang, jedem jungen, unverdorbenen Menschen oder Tier liegt, und von der Trauer Erwachsener, die nicht mehr über diese Hoffnungsfülle und ursprüngliche Lebenslust verfügen, von ihren Ängsten, sich auf das Abenteuer Leben einzulassen. Es sind philosophische Fragen, die Jeanette Winterson mit ihren Geschichten stellt und die sie zu beantworten sucht.

Die erste Erzählung, „Der 24-Stunden-Hund“, ist eine der schönsten. Sie schlägt ein zentrales Thema des Buches an. Ein junger Mann, Schriftsteller, Singel, mit eigenem Haus in ländlicher Umgebung, kauft einen zwei Monate alten Welpen. Er hält es nur 24 Stunden mit ihm aus, dann gibt er ihn an seinen Besitzer zurück. Mit großer Zartheit erzählt Jeanette Winterson die Erlebnisse von Herr und Hund während dieser Stunden, die Freudensprünge des Hundes und seine den Herrn ständig umkreisende Art der Fortbewegung, sein Sekundieren bei der Gartenarbeit, die trostlose Verlassenheit des Tieres, als der junge Mann beim Baden oder nachts aus der Sichtweite gerät. Der junge Mann spürt, wie vertrauensvoll der Hund auf ihn eingeht, wie stark er das Tier prägen wird, und er fürchtet sich vor dieser Verantwortung und vor diesem Spiegel seiner selbst. „Es wäre viel einfacher gewesen, er wäre ein einfacherer Hund gewesen. Ich meine, weniger intelligent, weniger sensibel, weniger randvoll mit jener Jouissance, die nicht beschädigt werden darf. Es wäre viel einfacher gewesen, wäre ich ein einfacherer Mensch gewesen. Wir hatten so viele Kanten, Hund und ich, und die gleiche Verwegenheit. Und die gleiche Liebe. Ich habe gelernt, was die Liebe kostet. Ich zähle sie nie, aber ich weiß, was sie kostet“, gesteht er sich. So kommt der Hund später in eine Familie mit schlichterer Gemütsart. „Ich weiß, daß er nicht der Hund sein wird, der er hätte sein können, wenn ich ihm Kante an Kante gegenübergetreten wäre, seine Intensität und meine. Vielleicht ist es besser so. Vielleicht ist es besser für mich.“ Dennoch wird dieser Hund den jungen Schriftsteller sein Leben lang begleiten. Immer wird er im Geist neben ihm herlaufen, freudig.

Die Titelgeschichte „In dieser Welt und anderswo“ konfrontiert Hoffnung und Phantasie mit der später eingelösten Realität. In einer englischen Arbeiterfamilie, die wenig Geld besitzt, ist sonnabends Flugzeugnacht. Alle Familienmitglieder sitzen im Schneidersitz auf dem Fußboden, bestimmen ein Flugziel und lassen das Modellflugzeug des Sohnes um den aufblasbaren Globus kreisen. „Ich hatte die Abflugzeiten von London Heathrow in alle nur erdenklichen Länder der Welt auswendig gelernt. Es war meine Aufgabe, unsere Flugdauer und die Flugzeugdaten anzusagen und den Passagieren eine angenehme Reise zu wünschen“, erinnert sich der Sohn. Die Mutter trat auf halbem Flug mit Teetassen, Toast und Eintopf als Steward in Erscheinung, der Vater verteilte auf kleinen Zetteln die Hausarbeiten der kommenden Woche. Am Ziel angekommen, gab die Schwester jedem eine Augenbinde. „Wir banden sie um und saßen ruhig da, träumten, stellten uns etwas vor, während einer anfing, über das fremde Land zu erzählen, das wir gerade besuchten.“ Erschöpft wie nach einer wirklichen Reise - auch Souvenirs wurden ausgetauscht - fielen alle Familienangehörige danach ins Bett. - Als der Sohn später Militärflieger wurde und die Welt kennenlernte, stellte er fest, daß es auch in der Ferne nichts zu entdecken gab, da die Menschen überall mit der gleichen Frage beschäftigt waren: Wie soll ich leben? Besuche bei seinen Eltern machten ihn nun nervös. „Meine Eltern baten mich, zu erzählen, wo ich überall gewesen sei und was ich gesehen hätte, ihre Augen waren eifrig und voller Leben. Bombay. Kairo. Paris. New York. Wir haben sie so oft erfunden, daß es enttäuschend sein wird, die Wahrheit zu sagen.“ - Der Sohn fliegt also weiter, auf der eigent-lichen Suche nach sich selbst.

Treffsicher sind die Gesellschaftssatiren erfunden, etwa auf das Weihnachtsfest, das hier aus der Sicht einer jungen, alleinstehenden Verkäuferin charakterisiert wird: „In ihrem Zimmer fing sie an, sich eine Liste der Dinge zu machen, die andere Leute für ihre Zukunft hielten: Ehe, Kinder, ein Beruf, Reisen, ein Zuhause, genügend Geld, viel Geld! Weihnachten rückte diese Dinge in den Brennpunkt. Wer sie hatte, welche davon auch immer, konnte während der zwölf Tage Festessen und Familie besonders zufrieden mit dem Leben sein. Wer sie nicht hatte, spürte den Mangel besonders deutlich ... Seltsam, daß ein Fest, das die kärglichste aller Geburten feierte, zur Hauptsaison der Lifestylekäufe geworden war“, dachte sie.

Die gesellschaftliche „Normalität“ wird in dem Ort „Newton“ karikiert. „,Alle meine Nachbarn sind Geschöpfe der klassischen Physik`, sagt Tom. ,Ihre kinetischen Gesetze sind festgelegt. Sie stehen um sieben Uhr auf und fahren um acht Uhr zur Arbeit. Die Frauen trinken um zehn Uhr Kaffee ...`“ Newton ist vollgestopft mit Ehepaaren. „Warum sind sie verheiratet? Es ist normal, es ist nett. Sie machen es genauso, wie sie alles andere in Newton machen.“ Die Toten werden laminiert als Schmuckstücke in die Vorgärten gestellt. Toms Nachbarin ersetzt selbst die gefallenen Herbstblätter durch künstliche Nachbildungen. „Das Leben fiel Ihnen auf die Füße und Sie traten es weg, und es blutete Ihnen auf die Schuhe, und als Sie nach Hause kamen, sagte Ihre Mutter: ,Guck doch mal, wie Du aussiehst, voller Blätter`“, versucht Tom, ihr die Perversität ihrer Naturbeziehung deutlich zu machen.

Eine andere Satire beschreibt eine Gesellschaft, in der der Schlaf so gut wie abgeschafft ist. „Die meisten Stellen, die heutzutage ausgeschrieben sind, verlangen einen Nichtschläfer. Schlafen ist schmutzig, unhygienisch, Zeitverschwendung und anstößig. An allen öffentlichen Plätzen steht ,Schlafen verboten!`“ Das Ideal ist ein Arbeitspensum von 24 Stunden am Tag in zwei Zeitzonen.

Während die Erzählung von einer lesbischen Beziehung eine Hymne auf die Freuden der Liebe - und ihren hohen menschlichen Anspruch - ist, stellt eine andere Geschichte die Langeweile und das Verschüttetsein aller Ursprünglichkeit in der Ehe dar. Eine dritte persifliert die sakramentale Bedeutung der Ehe und die Rolle einer geschäftstüchtigen, auf Zeremonien spezialisierten Kirche. „Nimmst du diese Frau als deinen rechtmäßigen Sonntagsbraten? Wirst du sie panieren und entbeinen, sie garnieren und verzehren? Sie ist versiegelt gewesen in ihren Säften bis zum heutigen Tag.“ - So etwa könnte die Spiritualität einer Trauung mit fliegendem Vikar in einem von einem Hochzeitsservice gelieferten geweihten Zelt beschrieben werden.

Der Erfindungsreichtum von Jeanette Wintersons ist - wie man sieht - beeindruckend. Sie hat ihre Satiren da angesiedelt, wo es weh tut. Zwar konnte ich ihren Bildern und Symbolen nicht immer folgen, in manchen Texten hätte ich mir auch etwas mehr Stringenz gewünscht. Die letzte Erzählung, eine eher peinliche Satire auf pietistische Frömmelei, hätte man in der deutschen Ausgabe getrost weglassen können. Aber, wie gesagt, die Lektüre dieser außerordentlichen Autorin ist - nicht nur für Zyniker - durchaus lustvoll!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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