Eine Rezension von Bernd Heimberger


Die Lüge einer Legende?

Ronald M. Schernikau: Legende
Verlag ddp Goldenbogen, Dresden 1999, 847 S.


Auch Atheisten sind gläubige Menschen. Manche gläubige Atheisten glaubten - oder glauben - an den Kommunismus. Der Glauben mußte - oder muß - stark sein. Noch gab es - gibt es - kein Reich des Kommunismus auf Erden. Ronald M. Schernikau wußte das. Er war ein Schriftsteller, der mit dem Glauben an den Kommunismus starb. Die Weltgeschichte wird ihn bestätigen oder widerlegen.

Der gläubige Kommunist Schernikau hat nicht kommunistisch gelebt. Überhaupt: Was sind die Kriterien für ein kommunistisches Leben? Doch das, was Schernikau lebte? Unkonventionell. Für den Schriftsteller bedeutete das: unverhohlen schwul. Unkonform. Für den Schriftsteller bedeutete das, beruflich so ungebunden wie möglich zu leben. Unangepaßt. Für den Schriftsteller bedeutete das, keiner manipulierten, manipulierbaren Meinungstendenz der Demokratie zu folgen. Jener Demokratie, die glaubt, freiheitlich und demokratisch zu sein. In die geriet der 1960 in Magdeburg Geborene, bevor er in die Schule kam. In Lehrte lebte er seine „Kleinstadtnovelle“. Mit dem schmalen Buch Kleinstadtnovelle überraschte und erstaunte der 20jährige nicht nur die schwule Lesergemeinschaft. Mit der Erzählung meldete sich eine Begabung in der deutschen Literatur an. Sich überzeugend, überzeugte der junge Schriftsteller die Leser davon, wie wichtig es ist, sich gegen gesellschaftliche Konventionen zu stellen. Aus Schernikau sprach kein trotziger Konvertit, kein treuherziger Kommunist, doch ein Bekennender, der seiner Körperlichkeit keine Schranken setzen lassen wollte. Es sprach ein Schwuler, der an den bürgerlich-konventionellen Traditionen zweifelte, dem das scheinheilige freiheitlich-demokratische Gebaren zuwider war, dem die ökonomisch-soziale Wirklichkeit eher Fassade denn Struktur schien. Besuche im Geburtsland - vorwiegend der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik - eröffneten Schernikau gesellschaftliche Perspektiven, die seinem Sinnen und Trachten entsprachen. Als erstem, einzigem Bundesbürger gelang es dem Genossen der Sozialistischen Einheitspartei Westberlin, 1986 ein Dreijahresstudium am Leipziger Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ zu beginnen. Gleich Heine, der sich gern als der letzte Mann des 18. Jahrhunderts ausgab - was gemogelt war -, hätte sich Ronald Schernikau gern als letzten eingebürgerten Bürger der DDR gesehen. Im September 1989 wurde ihm der kleine blaue DDR-Personalausweis ausgehändigt. Vielleicht tut ihm das Buch Legende den Gefallen, die Legende vom letzten DDR-Bürger zu sanktionieren.

Legende müßte im Gespräch sein. Ginge es mit rechten Dingen zu. Das heißt, ginge es um literarische Belange in der deutschen Literatur. Hegt noch jemand Illusionen? Komplette neun Jahre mußten verstreichen, bevor Schernikaus Lebens-Spät-Werk Legende seine publizistische Auferstehung erlebte. Unvermögen und Unwillen bedeutender deutscher Verlage verzögerten die Veröffentlichung des Buches. Auch so wird Literatur zensiert, reglementiert, kanalisiert. Legende verdankt seine Edition dem Engagement des Dresdner Verlegers Sigurd Goldenhagen, der den Druck durch Vorfinanzierung ermöglichte. Im Club der Geldgeber vereint sind auch viele namhafte Autoren, Publizisten, Politiker, Künstler, Schauspieler, Wissenschaftler. Der Verleger hat nicht nur ein Vermächtnis erfüllt. Der Druck ist eine Dienstleistung für die deutsche Literatur. Die ist um so verdienstvoller, wenn bedacht wird, welche schillernden Seifenblasen in den Neunzigern aufstiegen. Legende ist keine modische Literatur. Legende ist moderne deutsche Literatur. Sie immer wieder zu wünschen ist das eine. Sie nicht zu übersehen ist das andere. Just, da das allgemeine Staunen über Seifenblasen Saison hat, hat's Literatur schwer. Wem die Neugier und Freude an ihr noch nicht abhanden gekommen ist, sollte neugierig, freudig auf Legende reagieren. Und sei es zunächst nur, weil man gespannt ist, was ein Mensch während dreier Lebensjahrzehnte aus dem Leben herausholte. Das Buch sieht aus, wie das Leben ist: mächtig, wuchtig. Das Buch ist, wie Literatur ist: höchst literarisch. Aber auch lesbar? So lesenswert die beachtliche prosaisch-lyrisch-dramatische Komposition ist, lesbar ist das Buch nicht. Das bedeutet, Legende läßt sich nicht lesen, wie sich jedes Buch lesen läßt. Legende ist nicht, wie und was jedes Buch ist.

Der Schernikau ist ein schöner Brocken. Ist ein schwieriger Brocken. Das ist die Bibel auch. Die Bibel ist jeden Tag, den der Herrgott werden läßt, im Gespräch. Das Glück - sofern das eines ist - kann Legende nicht prophezeit werden. Die Verwandtschaft mit der Bibel garantiert kein verwandtes Schicksal. Dennoch weiter von einer Bibel-Variante reden? Legende ist die Bibel des Ronald Schernikau. Anders ausgedrückt: Legende ist ein Buch vom Leben, ist ein Lebensbuch, das den atheistischen Glauben an eine Welt aufrecht hält, die besser sein sollte als die gottgegebene. Legende ist - oh Gott! - eine säkularisierte Bibel. Hatte die Schernikau tatsächlich im Sinn, als er mit zunehmender Eile - sich seines Lebensendes sicher - den großen, dichten Text-Teppich knüpfte? Das vorbehaltlos zu bejahen, ohne den Autor danach befragen zu können, heißt den Autor verstanden zu haben. Oder auch nicht! Schernikau spricht in seinem Mammutwerk über Gott und die Welt. Vor allem über Gottes gottlos gewordene Welt. Das ist immer auch eine schwule Welt. Das ist vor allem eine Welt, die weiblich ist und unfähig zuzugeben, wie weiblich sie ist. Zu der Welt gehören die Götter, die - wenn schon - multisexuell sind. Wissend, daß man dem Papst am wenigsten durch ein Konvertieren zum Katholizismus auffällt, ketzert Schernikau gegen alles Unfehlbar-Päpstlich-Göttliche. Schöpfer ist sich Schernikau selbst genug. Schöpfer ist für ihn im irdischen Leben, wenn man als Individuum ist, was man an Individualität hat. In diesem Sinne war Schernikau ein Souverän. Er war wer. Er hatte was. In all seinem konsequenten, entwickelten Schreiben, Schwulsein, Kommunistsein.

Legende ist keine Autobiographie, ist aber in jedem Teil auch das gelebte Leben des Ronald Schernikau. Der legte sich als 16jähriger das Initial M. zu, das für Mauritius steht. Weil das dem Jungen gefiel. Weil er gefallen wollte. Weil er ein selbstverständlicher Selbstdarsteller war. Der hat sein Lebens-Abschluß-Werk Legende nicht für die Schublade geschrieben. Legende ist ein choreographiertes Literaturwerk, keinem vergleichbar, das in den letzten Jahrzehnten in der deutschen Literatur erschien. Das Buch hat etwas Unglaubliches. Wie dem Unglaublichen beikommen? Wie es sich glaubhaft machen? Wie sich zurechtfinden in diesem pausenlosen Spiel literarischer Formen, szenischer Situationen, wechselnder Personen, gedanklicher Inhalte? Selbst den willigsten Lesern wird es wenig nützen, wenn sie zuerst den fast 25seitigen „Bauplan der Legende“ lesen. Zu erfahren ist, daß das Bauwerk aus 11 Häusern, sprich Legenden, besteht, die bis zu 24 Zimmer haben, die Buch genannt werden. Niemand wird genötigt, mit Haus Eins und Buch Eins zu beginnen.

Dennoch ist es ratsam, den Anfang mit dem Anfang zu machen. Das heißt, mit dem Rhythmus des Autors vertraut zu werden. Die richtige Einstimmung erleichtert es den Lesern, dem Buch erhalten zu bleiben. Wie und wo auch angefangen wird mit Legende, irgendwann ist man mittendrin in diesem Geschichten-Buch des Ronald Schernikau, das ein Buch zur deutschen Geschichte ist. Das hört sich äußerst gewichtig an und ist es auch, macht das doch das eigentliche Gewicht des Buches aus. Irgendwann bekommen die Leser mit, daß die Legende der schier endlos episodische, beziehungsreiche Bericht von einer Lebens-Lüge-Insel ist, die vorgab, alle Wahrheit und Freiheit der Welt gepachtet zu haben, und als Selbständige Politische Einheit Westberlin existieren sollte und nicht konnte. Derart konkret in der Deutung zu werden bedeutet, dem politischen Phantasiebuch und phantasievollen Politbuch zu vieles von der Phantasie zu stehlen, die jeden Leser anstachelt, seine Geschichten hineinzulesen. Am lesbarsten und lesenswertesten wird Legende für die Schernikau-Generation und alle sein, die Augen und Ohren offenhielten, als die Geschichte der sechziger, siebziger, achtziger Jahre Gegenwart war. Daß in Schernikaus Geschichten-Geschichtsschreibung meist alles anders kommt, als es kam, gehört zum Erzählspaß, den der Verfasser sich gönnte und somit den Lesern. Bei Schernikau steht geschrieben: „in den frühen morgenstunden des elften siebten neunzehnhundertneunundachtzig besetzen einheiten des ersten eierkuchenkommandos die schlüsselpunkte der insel...“ Über diesem wirklich-unwirklichen Geschehen thronen keine Götter. Sie sind die Gäste des Geschehens. Sie verneigen sich vor den Menschen. Vor den Machern der Welt, die in ihren Möglichkeiten so groß sind wie in ihren Unmöglichkeiten. Die die Welt in den Tod treiben können. Es sind die Toten, vor denen sich die Götter verneigen, nachdem die Insel zum Friedhof erklärt worden ist, auf dem die „opfer unter der dicken schicht von leichen“ nicht zu bergen sind. Die trauernden Götter haben so menschliche Eigennamen wie Ulricke Meinhof, Therese Giehse, Klaus Mann und Max Reimann.

Ronald Schernikau ist kein Propagandist des Pessimismus. Wenn, dann propagiert er pessimistisch Optimismus. Der gipfelt in einem Satz, den viele vermutlich gern von sich weisen werden: „der kommunismus wird siegen werden.“ Ein Satz, der wie viele potentielle Leser des problemreichen wie problematischen Buches verprellt? Nicht Schernikau hat den Schaden, wenn er nicht gelesen wird. Den Schaden haben die Leser, die sich einem Lebens-Buch der besonderen Art verweigern. Ein Lese-Buch, das nicht in Großbuchstaben alles erklärt, was das Leben erklärt. Legende ist ein Buch, das mit der Lupe gelesen werden will. Das ist ganz konkret gemeint, denn die einfache Lesebrille wird kaum ausreichen, um den kleingedruckten Text ungestört zu lesen. Das ist symbolisch gemeint. Mit der Lupe im Sinn und allen Sinnen, sind die Sätze schnell ausgemacht, die mehr als die Summe bekannter Alltagswahrheiten sind. Sätze und Gedanken, die die Wahrheit des Lebens des jung verstorbenen Ronald M. Schernikau sind. Legende ist sein Lebenswerk, in dem die Leser lebenslang lesen können. Wie in der Bibel. Wie im Koran. Auch der Rezensent von Legende hat noch eine Menge Seiten vor sich, auf die er gespannt ist.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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