Eine Rezension von Ursula Reinhold


Erzählerische Irritationen

Klaus Schlesinger: Trug
Roman.
Aufbau-Verlag, Berlin 2000, 190 S.


Gekonnt führt der Autor mit dem ersten Satz seines Buches den Leser in die erzählerische Welt seines Romangeschehens ein. Er lautet: „Die sonderbaren Geschehnisse, durch die Strehlows Leben eine ebenso jähe wie ironische Wendung nahm, begannen an einem Aprilmittwoch Mitte der Achtziger vor dem Schaufenster eines Cafés Friedrichstraße Ecke Unter den Linden.“ Der Erzähler baut damit sofort die Spannung auf, die die Lektüre des Buches bis zum Ende begleiten soll. An drei Tagen im April eines Jahres Mitte der achtziger Jahre siedelt er seine Doppelgängergeschichte an, die sich so nur im geteilten Berlin abspielen kann. Wie in fast allen Büchern von Schlesinger spielt Berlin, die geteilte Stadt, eine wichtige Rolle, bestimmt ihre Szenerie das Geschehen. Handlungsorte sind der Grenzübergang und der Tränenpalast am Bahnhof Friedrichstraße, das Espresso im Lindencorso, ein beliebter Treffpunkt, der in den letzten Jahren der Abrißbirne zum Opfer fiel, und der Prenzlauer Berg, Dimitroff- und Rykestraße, dazu wenige Schauplätze in Charlottenburg und am Savignyplatz. Die Geschehensorte sind Kneipen und Cafés, Gesprächsorte, denn es ist eine Geschichte, die zwischen Wirklichkeit und Traum angesiedelt ist, die von Begegnungen an drei gewöhnlich ungewöhnlichen Tagen erzählt. Strehlow, Immobilienmakler aus Düsseldorf, landet in Tegel, um in Westberlin das Geschäft seines Lebens zu tätigen. Dazu kommt es nicht, er gerät auf Grund zufälliger Ereignisse in eine tiefe Ich-Irritation, schließlich in eine Falle, die ihn von seinem bisherigen Leben radikal entfernt.

Der Leser erfährt, daß Strehlow 1962 im Kofferraum eines Diplomatenautos aus Ostberlin geflüchtet ist. Er betritt es nach mehr als zwanzig Jahren eher zufällig das erste Mal wieder. Dabei begegnet er einem Manne, der sich als Skolud vorstellt und ihm auf fatale Weise ähnelt. Im Gespräch stellt sich heraus, daß sie nicht nur beide an der gleichen Hochschule Architektur studiert haben, sondern daß der andere im gleichen Haus lebt, wo er einst wohnte, und dazu noch mit derselben Frau liiert ist, die Strehlow bei seinem Weggang im Stich ließ und die einen Sohn von ihm hat, wie er jetzt erfährt. Beide haben verschiedene Erfahrungen in den beiden Deutschländern gemacht, verschiedene Lebensstrategien ausgebildet. Strehlow registriert, daß der andere in seiner unangepaßten Existenz bestimmte Vorstellungen einer Jugend intensiver bewahrt hat als er selbst. Übereinstimmungen kann der Leser in ihrer typisch männlichen Bindungsscheu und im Ausweichen vor konkreter Verantwortung entdecken. Nach einer glücklichen Wiederbegegnung mit seiner Einstigen sieht sich Strehlow in prekärer Lage. Die Ausweispapiere sind mit seiner Jacke verschwunden, er kommt nicht zurück nach Westberlin, die Grenze hat an seiner Statt der andere bereits überquert.

Schlesinger gewinnt dem Doppelgängermotiv die Spannung des Erzählten ab. Er bleibt hierbei in andeutungsvoller Balance zwischen Wirklichem und Visionärem, schafft dazu eine wohltuende Distanz zu seinen männlichen Protagonisten. Die Geschichte liest sich auch als ein Exempel von gespaltener Identität, mit der in Deutschland umzugehen ist. Schlesingers Buch ist ein reflektierender Beitrag über diese Verschiedenheiten. Im inneren Monolog und in Gesprächen an verschiedenen Orten werden wechselseitig die Lebensformen der beiden Männer gegeneinander abgewogen. Der inzwischen als Westler etablierte Strehlow mit seinen Vorstellungen von Erfolg in Geschäft und Leben sieht sich in der Konfrontation mit dem anderen, seinem Doppelgänger, irritiert, ist mit der eigenen gespaltenen Identität konfrontiert. In der Begegnung mit dem anderen Land, in dem noch alles weniger verändert scheint, begegnet er auch seinem damaligen Ich, seinen Träumen vom humanen Bauen, den anderen Möglichkeiten seines Selbst, die inzwischen längst verschüttet sind. Er findet in den angestrichenen Stellen eines Buches mit Walt-Whitmann-Gesängen seine Träume und Hoffnungen von einst, die er längst verdrängt hatte. „Ich träumte einen Traum ... die neue Stadt der Freunde ...“ Ein unterhaltsames und nachdenkliches Buch.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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