Eine Rezension von Hans-Rainer John


Von Jägern und Gejagten

Manfred Lührs: Im Dunkel Berlins
Roman.
Reclam Verlag Leipzig, Leipzig 2000, 320 S.


Berlin 1923. Im Tiergarten wird die Leiche von Nelly Pahlke gefunden. Die junge Prostituierte war mit einem Schuß in den Nacken förmlich hingerichtet worden. Warum? Die Polizei, in dieser Zeit durch Gewalttaten in der Unterwelt nicht unterbeschäftigt, ist ratlos. Sie befragt Bekannte der Getöteten, die ebenfalls das Berliner Nachtleben auf der Suche nach spendablen Liebhabern und ein paar Drogen zu durchstreifen pflegen. Aber Henny Pritzkow bleibt unbestimmt, und Cora Meinhold ist abgetaucht. Kein Wunder, hatte sie doch beobachtet, wie Unbekannte sofort nach der Mordtat Nellys Zimmer ausräumten.

Da greift der Secret Service ein. Aus London reist Arthur Rowland an, ein alter Bekannter von Henny, der das Mädchen sofort als Mitarbeiterin rekrutiert und auch sonst mit Beschlag belegt, im übrigen auch nicht uneigennützig agiert, sondern vom Inflationsfieber zu profitieren sucht. Beide ziehen noch einen alten Bekannten mit Geheimdienstvergangenheit hinzu, den Kommunisten Max Janosz, der unermüdlich für seine Partei Plakate klebt und „Die Rote Fahne“ und „Sowjet-Rußland im Bild“ zu verkaufen sucht und höchst verliebt mit Lina, einer Minderjährigen, zusammenlebt. Wenn man noch den routinierten Lucien Gaspard hinzuzählt, der für den französischen Geheimdienst in Berlin tätig ist, Rowland warnt und vergeblich eine Zusammenarbeit mit ihm herzustellen sucht, so hat man das wesentliche Personal des Romans zusammen, das zu jagen glaubt und doch selbst ausgespäht, irregeführt, gejagt und zum Teil getötet wird. Beim Stab der Reichswehr um General von Seeckt laufen alle Fäden zusammen, und die Alliierten ihrerseits können sich nicht mehr auf eine einheitliche Politik einigen. Am Ende ergibt sich, daß Nelly ihr Leben lassen mußte, weil sie brisante Informationen über die deutsche Wiederaufrüstung, die sie zufällig im Kreise von Reichswehroffizieren aufgeschnappt hatte, bei der Alliierten Militärkontrollkommission in Valuta umrubeln wollte. Aber kleine Leute können keine großen Geschäfte machen. Weil Nelly ein bißchen was vom großen Kuchen abhaben wollte, endete sie im Schauhaus.

Der Roman - ein Erstling? Von Manfred Lührs (41) erfährt man nur, daß er als freier Autor in Schleswig lebt - läßt den Leser nicht kalt. Erstens ist er durchgängig von innerer Spannung durchpulst, die zum Weiterlesen antreibt, und es ist alles andere als eine oberflächliche Krimi-Spannung, die ja leicht herstellbar ist. Zweitens ist der heiße Atem der „Goldenen Zwanziger“ unheimlich genau erfaßt; viele Detailinformationen ergeben ein plastisches Bild, man fühlt sich mitten drin in einem brodelnden Leben voller Widersprüche. Und drittens ist des Autors Sprache nahezu exzellent, der literarische Anspruch ist unverkennbar. Diese drei Momente machen das Buch wertvoll und empfehlenswert.

Leider wird das schöne Bild zunehmend getrübt. Unwahrscheinliche Vorgänge und höchst merkwürdig-widersprüchliche Figuren sind an sich mit einem realistischen Roman nicht unvereinbar, aber sie müssen doch in einer Weise begründet und psychologisch untermauert werden, daß der rationale Leser sie akzeptieren kann. Hier aber werden oft nur Fakten aneinandergereiht, als handle es sich um Selbstverständlichkeiten. Da ist eben Henny Pritzkow nicht nur eine junge unermüdliche Lebedame, sondern eigentlich Hendrik Pritzkow, ein Transvestit aus gutem Hause, der Kriegsdienst als Offiziersbursche beim deutschen Geheimdienstleutnant Kallbach (auch in dessen Bett) abgeleistet hat und dann (warum bleibt offen) zusammen mit des Leutnants Fahrer Max zum Secret Service desertierte, wo er im Bett von Arthur Rowland landete, der als Frauenheld galt (ob er Hendrik oder Henny liebt, bleibt immer offen). Natürlich erobert Kallbach nun in Berlin seinen Verflossenen mit Gewalt zurück, das heißt mit Ketten, Peitsche, Blut und Vergewaltigung (ziemlich starker Tobak), und es bleibt nur die Frage, warum Pritzkow trotz offenbarer Gefahr freiwillig ein ums andere Mal den Gang in die Höhle des Löwen antritt und warum Rowland nichts tut, als das Ergebnis gespannt abzuwarten... Auch die Kommunistenbraut Lina ist nicht echt. Sie entpuppt sich als Sophie von Beetlitz, die vom Familiensitz Gut Ramelow davongelaufen ist (aus Langeweile? aus Abenteuersucht? aus Liebe?), den sie nur ab und an aufsucht, wenn sich das Geld allzu rar macht; seither offenbar hilft sie ihrem Max bei der kommunistischen Arbeit, ohne daß er auch nur ihren wahren Namen kennt, geschweige von ihrer adligen Herkunft weiß. In keiner Weise motiviert, ist das nur abenteuerlich und wenig glaubhaft. Am merkwürdigsten aber ist nicht, daß nicht der leichtlebige Rowland, sondern der kenntnisreiche Gaspard in Gras beißen muß, sondern daß das hochbedrohte Geheimnis der Reichswehr darin besteht, daß sie Flugzeuge in japanischem Auftrag (!) in Rußland (ausgerechnet!) zu bauen beginnt.

Es sind diese merkwürdigen Ungereimtheiten und die in keiner Weise ausgeloteten ungewöhnlichen Charaktereigenheiten wichtiger Figuren, die mehrmals an der realistischen Substanz des äußerst interessant angelegten und unglaublich begabt geschriebenen Romans zweifeln lassen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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