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Bernd Heimberger

Begegnungen mit dem Buch

Betrachtungen zum „Welttag des Buches“

Buch stammt vom Baum ab. So oder so! Seit das gutenberggedruckte Buch da ist, ist weit weniger Baum da. Baum und Buch sind bedrohte Arten. Bevor der Baum ausstirbt, stirbt das Buch. Das industriell gefertigte Buch! Die Chance des Baums? Die Baumfamilie ist so artenreich, daß noch viele, viele Jahre eine Baumart zum „Baum des Jahres“ werden kann. Was dem „Baum des Jahres“ was nützt? Wer den Baum nicht ehrt, entehrt das Leben. Wer das Buch nicht ehrt, entzieht dem Leben nicht viel Leben. Immer aber Leben! Bedrohtes Leben. Dem Buch soll Gerechtigkeit widerfahren. Um einen möglichen internationalen Bücherkrieg zu vermeiden, wird kein Buch zum „Buch des Jahres“. Die Buchwelt hat sich was einfallen lassen, was unverfänglicher, nicht unverbindlich ist: Den „Welttag des Buches“. Der ist noch so jung, daß ihn noch keine Land-Schul-Reform deformieren konnte. Die lesende Menschheit ist froh mit dem Tag, von dem die Masse Mensch sowieso nichts weiß. Buchhändlerinnen und ihr seltener gewordenes männliches Pendant beglückwünschen am Tag überraschte wie treue Kunden mit einer Rose. Eine Geste, die von den Floristen nach Kaufkräften gefördert wird. Fürwahr: Buch und Blumen sind ein schönes Paar!

Ausgerechnet am ersten großen Kindergeburtstag des Buchtages läßt die christlich gesegnete Menschheit den Tag im Stich. Die Christen machen Ostern. Was kümmert das das beflissene Berliner Kulturkaufhaus Dussmann an der reaktivierten Friedrichstraße? Es ist offen für alle. Auch am Ostersonntag. Anno 2000. Auf allen Etagen wird die Kaufkraft des Kunden getestet. Von 12 bis 20 Uhr. Der „Welttag des Buches“ macht's möglich. Eine Ostermesse kann da vorher noch mitgenommen werden. Weil sich das so gehört. Wie der Gesundheitsapfel auf nüchternen Magen am Ostersonntag. Wie das Frühstücksei, das Osterei heißt. Dussmann drängt sich nicht auf. Dussmann ist dabei. Brauch und Buch kommen sich nicht in die Quere. Mancher Osterspaziergänger mancher Provinzen wird - Dussmann sei Dank - das Überraschungsei des Jahres entdecken: den „Welttag des Buches“. Donnerwetter! Was die Welt nicht alles hat! Wieso am 23. April? Wäre die Welt nur ein bißchen flexibler, wären die Tage nicht kollidiert. Anno 2000. Nun hat sich das Drama abgespielt. Nicht gerade nach dem Gusto jenes Dramatikers, dessen Geburtstag für den festgelegten „Welttag des Buches“ herhalten muß. Herumgesprochen hat sich, daß nicht jeder den Kerl kennt. Nicht mal in Deutschland, wo er als Literat Karriere machte, obwohl er germanische Regionen nie gesehen hat. Macht nichts! Die vereinigten Buchschützer der Welt haben sich auf Shakespeare geeinigt und seinen Geburtstag für ihre Zwecke kooptiert. Sich für keine Dramatik zu schade, schüttelte der englische Textdichter die Welt just an dem Tag ab, an dem er in die Welt gepreßt worden war. Das Ende war 52 Jahre nach dem Anfang. Was kein Drama war. Was dazumal ein ausreichendes Alter war. Gut anderthalb Jahrzehnte über der allgemeinen Lebenserwartung in Europa. Ein wahrlich dramaturgischer Effekt war, sich am Geburtstag zu verabschieden. Sofern das tatsächlich der Geburtstag war. Überliefert ist, daß sich der Meister gern an seinen Tauftag hielt. Das war der 26. April. Dramatiker mit Leib und Seele, machte sich der Stratforder selbstverständlich nicht allein auf die Tour gen Himmel. Als Reisebegleiter nahm Shakespeare den Madrider Cervantes mit. Welch eine Inszenierung! An dem Tag, an dem solcher Kahlschlag auf Erden war, nun der „Welttag des Buches“. Als hätte da der englische Schau-Spiel-Führer seine Finger im Spiel gehabt! Weil er ein Strippenzieher war, der gleich nach dem Herrn kommt, läuft und läuft und läuft die Shakespeare-Show. In seinem Namen, mit seinem Namen, jetzt auch der „Welttag des Buches“. Kommt's auf den Tag an, heiliger William? Auf den 23sten? Muß daraus ein Drama gemacht werden? Nee! Hauptsache, die Aufführung „Welttag des Buches“ kommt auf die Bühne. Auch Anno 2000. Auch unter Ausschluß des Buchhandels. Die Ausnahme Dussmann ausgenommen. Das einzige Kaufhaus, Medienkaufhaus, wie die Medien meldeten, das am Tag in Deutschland aller Welt die Tore öffnet. Gemäß dem hauseigenen Motto: sonntags immer! Dussmann hält auch am Ostersonntag 2000, was der Tag verspricht zu sein: „Welttag des Buches“.

Berlin gab den Tag am Gründonnerstag. Am 20. April. Nicht weiter nachdenken, des Datums wegen. Gab den Tag als Abendprogramm. Im Haus der Kulturen der Welt. Das ist eine US-amerikanische Baustiftung der fünfziger Jahre. Hineingestellt in den nördlichen Tiergarten. Anschrift John-Forster-Dulles-Allee. Die spreewassernahe Kongreßhalle nannten die Insulaner, sprich Westberliner, „Schwangere Auster“. Auch Volksmund nutzt sich mal ab. Die Metapher ist die Spree runter, seit das „Hadekudewe“ drin ist.

Noch ist der Tag, der 2000 vorgezogene „Welttag des Buches“, noch nicht so weit, daß der Buchabend durch ist. Noch ist Vormittag und Zeitungsschau. Die tägliche Selbstquälerei. Eine halbe Randspalte der Hauptstadtzeitung mit den meisten Abonnenten gibt Nachricht vom Gründonnerstagabend. Nehmen Sie's mit Nachsicht, Maestro William! Der Nachmittag gehört ganz der „Insel“. Die „Insel“ ist in „Legende“ das, was in Dantes Göttlicher Komödie Himmel, Hölle, Purgatorium ist. „Legende“ haben Deutschlands Büchermacher gemieden wie den Deibel. Viel zu dick, viel zu literarisch, viel zu verlangend. Außerdem von einem Autor, der bereits 1991 den Kollegen Cervantes & Shakespeare nachreiste. Ronald M. Schernikau, ein geistig wie literarisch starkes Naturell mit zu schwachem Immunsystem, hinterließ der Welt ein frühes Lebens-Spät-Werk, das ein Lebens-Lese-Werk für geübte Leser ist, die am „Welttag des Buches“ nicht daran erinnert werden müssen, daß das Buch noch in der Welt ist. „Legende“ ist ein Bergwerk, in das einzufahren bedeutet, zur Schürfarbeit vergattert zu sein. Seite für Seite. Es kann dauern, bevor man weiter und weit kommt. Germanisten können sich ihre Federspitzen dran zerbrechen. Promotionsanwärter aller Länder aufgewacht: „Legende“ ist ein Thema für viele Themen. Ein wahres Fiasko für Rezensenten, die von Büchern nur reden, die sie von A bis Z gelesen haben. Nicht genug Archivmaterial da, das für eine „Legende“-Rezension reicht? „Legende“ ist ein Buch, das „unausgelesen“ weggelegt werden kann. Wer wird „Legende“ lesen? Das Manuskript hat in neun Jahren das Warten gelernt. Gut zu wissen, daß Bücher immer warten.

Ohne schlechtes Gewissen also rauf aufs Rad. Das Wetter ist wirklich danach und dafür da. Die Fahrpreise sind alles andere, nur nicht, was sie vorgeben zu sein: „Fai(h)rpreise“. Auf Nebenwegen ist die Fahrt in die Stadt eine freie Fahrt. Im einstigen Grenzstreifen zwischen Stadt und Land, Welt und Welt, blüht es üppig. Dank der von den grünen Freunden gottverdammten Pestizide?! Hinter den Zäunen der südlichen Stadtstraßen defilieren demonstrativ alle Farben des Frühlings. Eine Übertreibung, die überzeugt. Zumal damit schnell Schluß ist, wo die Bäume rarer werden, bevor sie sich in die Illegalität zurückziehen: Marienfelder Damm, Tempelhofer Damm, Mehringdamm. Sinnloser, unfairer Wettstreit sämtlicher Räder. Auf Gedeih und Verderb. Die Straßen überwinden bedeutet immer, sich zu überwinden. Sonntagsruhe am Gründonnerstagnachmittag erst in der südlichen Friedrichstraße. Die mußte nicht die Umnumerierung einer Umnumerierung hinnehmen. Allen Trennungen zum Trotz, wurde die durchgehende Numerierung allzeit durchgehalten. Was wer wußste, der diesseits oder jenseits von Checkpoint Charly stand? Die Leuchttürme des Potsdamer Platzes signalisieren den Standort Stadtmitte. Die Leuchttürme lotsen in den Strudel. Gefahr bekannt, Gefahr gebannt. Weiträumig umfahren, empfiehlt in solchen Ernstfällen der Straßenverkehrsdienst. Also quer durch den Tiergarten. Alle Hasen sind noch nicht im Ostereinsatz. Das Haus der Kulturen der Welt ist im Belagerungszustand. Kaum mehr eine freie Box, um den Drahtesel anzuschnallen. Pedalritter, den Lettern auf den Fersen!

Buchleser sind Leute, die sich in Geduld üben, sind in Geduld Geübte. Buchleser verstehen, verständnisvoll Schlange zu stehen. In der Schlange vor der Kasse kein Leser, der ein Buch liest. Aufregende Zeit, ungenutzte Zeit! Volles Damenprogramm am Stand des Verbandes der Verlage und Buchhandlungen Berlin-Brandenburg. Presse- und Gästebetreuung. Eine Kartenabholstation, deren Verteilersystem auch spontan entschiedene und erscheinende Gäste und Presseleute nicht ins Wanken bringen. Gekennzeichnete Presse- und Gästesitze werden vom Publikum gemieden wie geschützte Reservate. Ein Überangebot an Plätzen. Ein Unterangebot an bekannten Presse- und Gäste-Gesichtern. 19 Uhr. Vier Fünftel der Sitze im großen Saal des Hadekudewe sind besetzt. Kaum Jacken und Mäntel auf den Knien. Oberhalb beider Presse-Gäste-Reihen reichlich Bücher fest im Griff der Besucher. 10 Uhr 02. Aufmarsch medialer Jäger und Sammler. Mehr Fotografen als Kameraleute. Die Riege steht Schulter an Schulter. Jeder bereit, seinen eigenen Elfmeter zu schießen. Einer hält's gelassen - auch gelangweilt? - aus: Dietrich Simon. Chef des Verlages Volk und Welt und mehr als ein Verwalter des Buches. Wer hat je Unruhe in den ausdrucksvollen Augen des weißhaarigen Rollstuhlfahrers gesehen? Simon nah, verflachen die Wellen der Aufregung. Keine Kamera klickt oder surrt für den moderaten Mann, der den Moderator des Abends macht. Der Saal hält still. Alles auf Erwartung. 19 Uhr 09. Geräuschvolle Bewegung. Beifall des Publikums. Der Troß der Podiumsbesetzer kommt von rechts. Neben Simon plazierten sich: Domröse, Lessing, Sichtermann. Die medialen Maschinengewehre rattern. Minutenlang wird dem Publikum die Sicht gestohlen. Doris Lessing wird, wie Marlene Dietrich von sich sagte, „zu Tode fotografiert“. Das gedulderprobte Publikum duldet stoisch. Als die Attacke aufs Porträt und die Sichtsperre aufgehoben sind, klatscht das Auditorium. Applaus für die Applaudierenden.

Doris Lessing rückt ein Stück vor. Stützt die Unterarme auf den Tisch. Eine bevorzugte Haltung an diesem Abend des vorgezogenen „Welttags des Buches“. Seit mehr als einem Jahrzehnt nahe dem Nobelpreis angesiedelt, ist die Prosaistin die Vorzeigedame des Tages. Nicht der Stadt. Von wegen Eintrag ins „Goldene Buch“ am „Welttag des Buches“. Neben der mittelgroßen Angelika Domröse (Schauspielerin), der großen Barbara Sichtermann (Autorin) wirkt Doris Lessing sehr klein. Kleiner, als sie ist. Als sie leichte, schwarze Gewänder machen. Kleidung, die kaschiert. Keine Korpulenz. Bei Gott, keine Korpulenz! Doch diese bäurische Breite. Stämmigkeit, Rustikalität könnte man auch sagen. Gedanken an die ostpreußische Großmutter. Das widerborstig-wellige, weiße Haar, das einmal dunkel war und das noch andeutet, streng geglättet, soweit möglich, ist im Dutt zusammengehalten. Der unauffällige, auffällige Kopf, scheint's, ist bekannt. Das Gefühl ist, Doris Lessing wiederzusehen. Wer der Anwesenden hat Doris Lessing gesehen? Wo denn? Wann denn? Wie denn? 31 Jahre hat die Schriftstellerin in Deutschland nicht gelesen. Berichteten die Damen vom Verband. Die wissen auch, daß die Leser von Hamburg bis Stuttgart angerast sind. Und noch stecken, wo Anraser stecken müssen an einem Gründonnerstag: im Stau. Ein bißchen Lessing, bißchen Ostern, bißchen Berlin - das tut gut! Am liebsten möchte man die Kleine zu Kaffee und Kuchen einladen. Was die Gysis getan haben? Schließlich haben sie Tante Doris nicht jeden Tag in der Gegend. Gysi und Lessing im „Borchardt“ würden gesehen werden. Und ein Rätseln wäre. Der Besuch der alten Dame? Gysi ist nicht nur Darsteller. Er ist auch Regisseur. Statist ist er nicht. Hier hat er keine Rolle. Trotz der altersschmalen Lippen hat Doris Lessing kein verhärtetes, verhärmtes Gesicht. Die Augen, diese dunklen Augen, widersprechen der Zurückhaltung, der Stille, der Ruhe. Die Frau ist lebhaft. Auf den ersten Blick ist das ausgemacht. Im Augenblick des ersten Auftretens.

Simon, der Büchermacher, macht nicht auch noch den Experten in Sachen Lessing. Er stellt fest, was er festgestellt wissen will: „Das Buch lebt!“ Wer will widersprechen? Die Gemeinde schnuppert Weihrauch. Die Nullkommasoundsoviel Prozent verbriefter Berliner, plus die angekommenen Auswärtigen, brauchen das Ritual. Das bringt den Rhythmus in Schwung, den die Begegnung mit dem Buch braucht. Sichtermann übernimmt von Simon die Stafette. Frau stolpert auf Frau zu. Die Kollegin und Kritikerin droht mit vorbereiteten Fragen. Nach der Lesung. Miss Doris, verheiratet gewesen mit einem emigrierten deutschen Juden, liest englisch. Sie liest. Sie deklamiert nicht. Sie deklariert nichts. Gutwillig gesagt: Lessing liest zügig. Verhalten gesagt: Lessing liest, wie Schriftsteller lesen, die ihre Texte lieber schreiben und das Lesen lieber den Lesern überlassen. Kritisch gesagt: Lessing liest eben. Vorgerückt, wie erwähnt, die Ellenbogen auf dem Tisch. So das Buch in den Händen stabilisiert. So, ja so, ist die Lesung der Lessing am treffendsten beurteilt: Eine stabile Lesung. Beifall. In jedem Bericht, in dem Vokabeln wie aufbrausender, berauschender Beifall auftauchen, sind es die falschesten. Berichte? Na wo denn? Neunzig Sekunden Spätabendschauzeit. Die Darstellerin Domröse spielt den deutschsprachigen Part der Lesung. Sie gibt ihrer Stimme den Schwung, der die Stimmungen des Textes schwingen läßt. Domröse konzentriert sich und sichert sich die Konzentration der Zuhörer. Die Leser rücken auf und so dichter ran an ihre Doris Lessing. Beifall. Demonstrativ. Dauernd. Lächelnd streichelt Lessing über den Oberarm von Domröse. Gelesen wurde aus „Ben in der Welt“. Jüngste Veröffentlichung in Deutschland. Eine Beziehungsgeschichte einer Älteren und eines Jungen. Denken an „Harold und Maude“. Wer daran denken kann und mag. Nach den Lesungen führt Sichtermann Regie. Der ostdeutsche Teil des Podiums, Domröse und Simon, stülpt die Kopfhörer über. Wie eine Schülerin stottert Sichtermann ihre vorbereiteten Fragen. Im Englisch, versteht sich. Lessing antwortet auf die Fragen. In Englisch, versteht sich. Lessing weiß, daß es ihr in Deutschland so gut geht wie dem Patron des Tages. Deutsche Leser, gute Leser! Dankbare Leser. In der deutschen Literaturwelt angenommen zu sein bedeutet, die Welt zu haben. Siehe Shakespeare! Da darf deutsches Herz höher schlagen. Einschließlich das der starken Fraktion der Lesben, der Doris Lessing, geradezu kämpferisch gesonnen, Wasser auf die Gebetsmühlen gibt, als sie sagt: „Ich habe mir meine Rechte genommen!“ Was das bedeutet? Im Leben einer Frau ist das Leben einer freien Frau zu führen! Das Schreiben läßt Frau Lessing am besten sein, was und wie sie ist. Schreiben für wen? Für Lessing? Für Frauen? Für die Leser? Am „Welttag des Buches“ hat die englische Autorin eine Botschaft an und für die Welt. Propagierte Simon den Abend vor dem Abend optimistisch „Das Buch lebt!“, macht Lessing Propaganda fürs Lesenlernen der Leser von morgen. Das Buch ist tot - sagt Lessing nicht so kraß, aber unmißverständlich -, wenn Kinder nicht das Bücherlesen lernen. Die Botschafterin des Buches will nicht die Mahnerin machen. Schon gar nicht die Schwarzseherin. Gern ist die Unterhalterin die Ernsthafte. Wissend, wer die Leser unterhält, hält die Leser. Was Sichtermann nicht beherzigt. Wider besseres Wissen. Ihr mühsames Mühen löst eine Lawine aus. Der Saal ist halb leer, bevor das Lessing-Spiel abgepfiffen ist. Die Abgewanderten haben Stellung bezogen in der Schlange vor dem Buchstand, um Glied der Signier-Schlange zu werden. Die erneuert sich ständig und wird doch durch Lessing gebändigt, die jedes gekaufte und mitgebrachte Buch mit Signatur versieht.

Wer geht, jetzt, weg? Robert Gernhardt ist angekündigt. Der „Welttag des Buches“ zieht um. Kein Stuhl bleibt leer. Stehen muß niemand. Fürs kollektive Gernhardt-Erlebnis ist der kleine Saal im Haus der Kulturen der Welt besser geeignet. Oh, là là, oje, Gernhardt! Ihn zu sehen heißt, den zu sehen und zu hören, der seit seinem Sechzigsten als der „bedeutendste lebende Dichter seiner Generation“ gefeiert wird. So das Urteil eines Feuilletonisten der Turnschuh- und Fast-Food-Generation. Die hört ihm gern zu. Die gibt Gernhardt das Gelächter, das er bereit ist, ihr zu geben. Der Geist gackert. Die Verse werden verstanden. Stück um Stück. Gernhardt frisiert auf Glatzen. Ein Zauberkünstler, der Illusionen desillusioniert und Desillusionen illusioniert. Robert Gernhardt gibt keinen Unterhalter. Er ist Unterhalter. Er ist ein Poet des Polierens. Worte putzt er wie Kupfermünzen. Er ist ein Poet des Plättens. Jede Philosophie der Welt bügelt er gernhardtglatt. Glück gehabt, wer merkt, daß das Gesagte auch das Gemeinte ist. Immer berücksichtigt, daß eventuell mehr gesagt als gemeint ist. Und umgekehrt! So sprachgeschwind durch „Zeit und Raum“ gestürmt wird, Gernhardt will nicht der sein, der den Zuhörern die Zeit stiehlt, die sie mitbrachten und er in Anspruch nimmt. Oder ist es so, daß die Zuhörer die Zeit des Robert Gernhardt in Anspruch nehmen, die er mitbrachte? Wer will so was so genau? Wer soll wen beklatschen? Jeder beklatscht auch sich, als der Dichter aus der Schule des Schülers Gernhardt plaudert: „Ich war klein, laut und dumm!“ Die Solidarisierung mit dem Schreiber ist auf dem Siedepunkt. Höher geht's nimmer. Schnellsprecher Robert legt Pegasus keine Zügel an, da sowieso alle poetischen Pferde immer mit ihm durchgehen. Na dann, Gute Nacht! Die ist für Tim Staffel reserviert. Der übernimmt vor Mitternacht. Den Rest der Zuhörer. Den Rest dieses einen Welttages. Treibt den über die Tagesgrenze in den Kreuzigungstag. Den Anfang der Ostertrilogie macht der Abschluß der Buch-Tag-Trilogie Berlin 2000. Was bleibt haften? Der Gekreuzte. Der pakistanisch-indisch aussehende Fotograf mit dem schulterlangen Haar. Mit gekreuzten Beinen saß er zwei Stunden zu Füßen der Doris Lessing.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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