Eine Rezension von Hans-Rainer John


Reporter im Verfolgungswahn

Gregor Eisenhauer: Der Stein der Weisen
Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 1999, 416 S.


Der Stein der Weisen ist, so sagt man, ein Wunderding, das Unedles edel macht, Blei zu Gold wandelt, Alter zu Schönheit und Tod zu Leben. Gleichgültig, ob Gott ihn Adam bei der Vertreibung aus dem Paradies in einem mitleidigen Moment um den Hals gehängt oder ob er von Ahasver, dem Ewigen Juden, in die Welt gebracht wurde - für jeden, der seine fünf Sinne beisammen hat, ist er nichts als ein Mythos. Da fällt es schwer zu glauben, daß ein führendes deutsches Nachrichtenmagazin, und sei es noch so sehr von Absatzsorgen geplagt, im Jahre 1999 auf Boris, einen charismatischen jungen Mann, hereinfällt, der verspricht, diesen Stein gegen 100 000 DM zu beschaffen, und daß es ihm den Reporter Ricki Claasen hinterherschickt, einen groben, zynischen, heruntergekommenen Pressemann, der seine Glanzzeit bereits hinter sich hat und, träge geworden, die Recherchen nur widerwillig und lustlos aufnimmt.

Ein Gespräch mit Helen Salzmann, Expertin für Esoterik an der Humboldt-Universität, und ein Kurzbesuch in Göttingen, wo eine Frau nach einer Selbstbezichtigung von Boris ermordet worden sein soll (was sich nicht beweisen läßt) - das war's dann auch schon. Folgen 15 Seiten lang die Schilderungen des lebensgefährlichen Gedränges auf dem Bahnhof Zoo und der Flucht vor zwei Russenstrichern, vor denen sich Ricki aus unerfindlichen Gründen verfolgt fühlt. Dann wird 24 Seiten lang die zarte Seele des ordinären Ricki aufgeblättert, der die Trennung von Alina, die sich scheiden ließ, nicht verschmerzt, und der erleben muß, wie sich seine Tochter Martina als Lesbe outet. Und dann verliert Ricki seine aktive Rolle total, er recherchiert kaum mehr, er schreibt nichts für sein Blatt, er wird nur Zeuge oder Gegenstand von erschröcklichen Vorkommnissen, die meist weder logisch und erhellend noch spannend und aufregend sind und die der Leser nur mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen kann, so er denn die Lektüre tatsächlich bis zum Schluß betreibt, was in diesem Falle wirklich schwerfällt.

Eisenhauer (40) - er schrieb bisher, nach seiner Promotion über Arno Schmidt, Märchen, Essays und Features - legt hier seinen ersten Roman vor. Zugegeben: Er kann locker und flüssig schreiben, sein Stil hat sogar Charme und Eleganz, er ist ein guter und anschaulicher Erzähler, aber für die große Form fehlt ihm (noch) der Atem. Er verzettelt und verfranzt sich, ufert aus, führt die Fabel nicht straff und konsequent. Die Figuren sind meist flach und konturlos, sind oft nur Namen, die man schon vergessen hat, wenn sie endlich wieder auftauchen. Daß sie eigentlich auch nicht sehr interessieren, liegt weniger am Gegenstand - Sekten und radikale Randgruppen, Endzeitpropheten, Katastrophisten, religiöse Wirrköpfe und terroristische Attentäter gehören ja zu unserem Alltag, wie man der Tagespresse entnehmen kann - als vielmehr am abstrusen Zuschnitt, in dem sie hier auftreten, an ihrer unwahrscheinlichen Häufung (alles Wahnsinnige und Bekloppte), an ihrer unzureichenden Legitimierung als reale Erscheinungen und an der unzweckmäßigen Organisation des Materials. Die Brücke ins Niemandsland des Aberglaubens, die Eisenhauer geschlagen hat, erweist sich meines Erachtens nicht als tragfähig.

Mittelpunktfigur wird am Ende der Psychiater Dr. Borsig, der einer Endzeitsekte vorsteht, die einen neuen Glauben (welchen erfährt man nicht) begründen will. Den Stein der Weisen sieht er im Heiligen Berg („Ayers Rock“ in Australien, der ältesten Pyramide der Weltgeschichte; das „Amulet der vier Sonnen“ soll die Grabkammer öffnen, die Welt soll zur Jahrtausendwende dort durch ein (vorgetäuschtes) Menschenopfer aufmerksam gemacht werden. Boris - er ist nicht nur charismatisch und unwahrscheinlich schön, er hat auch den Blick der Sphinx und bereits einem Dutzend Hunde und Katzen die Augen ausgestochen (!) - ist natürlich sein Werkzeug. Martina, die Lesbe, wird sofort schwach, sobald er den Blick auf sie wirft; er vermag sie leicht in die psychiatrische Anstalt Borsigs (vormals Kinderpuff der Stasi für Westdiplomaten) zu entführen und sie zu beschlafen. Aber Martina ist auch die natürliche Tochter Borsigs, und so wird ihre Lebensgefährtin Katrin Graf herbeizitiert, das Duo erneut vereint und in den Dienst der Sekte gestellt, und Boris wird nun das Opfer. Helen Salzmann ist nicht nur die Halbschwester des Chefredakteurs von Rickis Nachrichtenmagazin, sondern auch Exehefrau von Borsig und inzwischen ebenfalls Lesbe, und natürlich wird sie wie andere noch in diesem Buch heimtückisch niedergemacht. Ricki Claasen (die Hälfte des Buches über erzählt er in Ich-Form, über Ereignisse, an denen er nicht teilnimmt und von denen er nichts wissen kann, referiert der Autor) kann nur staunend wahrnehmen, was sich da um ihn herum abspielt. Martina ist er los, Alina kehrt nicht zurück, wenn er nicht zum Propagandisten der Sekte wird, droht ihm ein Gerichtsprozeß oder Entmündigung ...

Natürlich will der Autor vor der Verführung, der Macht, den Beziehungen der Sekten warnen. Ein weitergehendes Konzept hat sich mir nicht erschlossen. Nichts Neues also und nicht wirklich überzeugend. Schade auch, daß er so gern gängige Klischees bedient. Wenn eine Frau auftritt, die ein blasses Lächeln hat, dann kann das bei ihm nur „ein Ostmädel“ sein, „wahrscheinlich aus Bitterfeld“. Und wenn eine Kellnerin, wie die Ostmädel es eben tun, das Rauchverbot durchsetzt, dann hat Ricki gleich „Lust, sie auf ihre Stasivergangenheit anzusprechen“. Und wenn „zehn Ossis einen Neger klatschen und Heil Hitler rufen, dann ist mir das echt zu schäbig. Wenn Sie das als die Zukunft der Berliner Republik verkaufen wollen, meinetwegen, aber ohne mich“, meint Ricki. Das ist zwar keineswegs das durchgängige Niveau, aber ein bißchen billig ist es doch, oder nicht?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite