Eine Rezension von Helmut Hirsch


Die Kunst der Verstellung

Umberto Eco: Lüge und Ironie
Vier Lesarten zwischen Klassik und Comic.
Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber.
Carl Hanser, München 1999, 142 S.

1980 veröffentlichte der italienische Sprachwissenschaftler Umberto Eco seinen ersten Roman II nome della rosa (deutsch: Der Name der Rose), der bald zu einem Welterfolg wurde. In diesem Roman verband Eco auf geschickte Weise Momente unterhaltender Spannung - theologisch verbrämte Machtkämpfe, Intrige und Mord - mit wissenschafts- und zeitgeschichtlichen Problemen. Und es war Kunst der Verstellung, daß er Gegenwart ins Mittelalter verschob, die Wissenschaft von den sprachlichen Zeichen artifiziell darin ausspielte. Der Professor für Semiotik an der Universität in Bologna hat neben seinen Romanen ein recht stattliches wissenschaftliches Werk geschrieben. Der Band Lüge und Ironie vereinigt vier „Lesarten“ zu ganz unterschiedlichen Figuren und Autoren. Cagliostro, Hugo Pratt, Manzoni und Achille Campanile, den hierzulande kaum jemand kennen kann, weil dessen zahlreiche Bücher und Theaterstücke bisher nicht ins Deutsche übersetzt worden sind. Er ist, nach Ecos Geständnis, „der erste Autor, den ich gelesen habe“. Campanile (1900-1977) gilt in Italien als vortrefflicher Humorist, als exzellenter Ironiker, der prägnant und pointiert mit der Sprache spielt. Also genau das richtige für den Semiotiker Eco. Ausführlich zitiert er in seinem Campanile-Text dessen Schriften. Die Komik eines Textes wird spielerisch analysiert, es ist teils Wissenschaft, teils schon erzählerische Attitüde, wie hier gearbeitet wird. Eco erspürt die feinen Zusammenhänge, die seine Lesart bestimmen. Groß ist der Genuß, „wenn man von der Komik i m Text zur Komik d e s Textes übergeht. In diesem Fall ist es nicht einmal nötig, daß der Text ein komisches Ereignis darstellt. Der Text kann selber komisch sein, er kann von sich aus zum Lachen reizen.“ Phänomene, die jedem Leser bei fast jeder Lektüre begegnen können. Was aber an Campanile besonders reizte und seltsam nachwirkte, war der Umstand, daß dessen Figuren beim Leser ein Eigenleben bekommen haben. Eco stellt fest, daß die Interpreten Campaniles „oft wie Figuren von Campanile erscheinen“. Eine gute Vorstellung, zugleich ein Stück komischer Vorstellung. Denn der Leser, zumal er noch Deuter und Spurenleser ist, erscheint immer als ein arg Betroffener. Verfangen in den „Schlingen der Sprache“, merkt er es oft gar nicht, daß er nur über sich selbst lacht. Vom Komischen zum Humoristischen, das ist Ecos Spur. Bei Campanile sieht er, wie ein Tintenfisch zur Romanfigur wird; wie Paganini, der Aufforderung einer stocktauben Frau nachkommend, die beständig „Da capo“ ruft, nicht weiß, wie er ihr einen unauflöslichen Zwiespalt erklären soll, der aus den Gegensätzen von Verstehen- und Nicht-Verstehen-Können besteht. In der Zwiespältigkeit des Textes erkenne der Leser somit „unsere eigene Zwiespältigkeit als Benutzer einer Sprache“.

In jeder Zwiesprache steckt der Keim für mindestens zwei Mißverständnisse, ein wunderbares Beispiel für „mangelnde Kooperation“ bietet Eco von Campanile mit diesem Dialog: „Gestatten, ich bin Herr Pericle Fischetti. Und Sie? - Ich nicht.“ Das Humoristische treibt Alltagsbanalisierungen, jeder kennt den Dialog: „Wissen Sie, wie spät es ist? - Ja.“ Campaniles Komik reizt zum Lachen, und Eco sieht in der Komik des Textes „auch eine intersexuelle Komik, in der sich die Texte gegenseitig verulken“.

Das Komische kreist bei Campanile oft um das Problem des Todes. Er kann „aus der Idee des Todes Gelegenheiten zu verstörendem Lächeln gewinnen“, somit die Unerträglichkeit des Seins zu einer erträglichen Sache machen. Einer seiner jugendlichen Helden beantwortet die Frage „Wie geht's?“ nicht mit der erwarteten Formel „Man lebt so dahin“, sondern mit der spitzen aphoristischen Bemerkung „Man stirbt so dahin“.

Neben Campanile untersucht der Semiotiker Eco Allesandro Manzonis Roman Die Verlobten. Hier interessiert ihn besonders die Schwierigkeit verbaler Berichte. Die Personen dieses Romans seien demnach „entweder arme Teufel oder Verfolger von armen Teufeln (nur die Guten haben eine Art von paraphilologischer Intuition), und in der Regel ist die Sprache in seinem Roman das Vehikel von Schall und Rauch, wenn nicht von Lügen“. Alles kann Verstellung sein, Lüge oder Komik, Humor oder Banalität im Alltag. Eco liebt seine Thesen, und gründlich verfolgt er sie in den Texten seiner interpretatorischen Zuneigung. Recht hat er, beim Leser kommt immer alles anders an, jeder Text ist mehr- und vieldeutig, weil jeder Leser seine Denk- und Erfahrungsmuster hat, die beim Lesen nicht vergessen, sondern aktiviert werden. Lese-Welt ist Nebel-Welt, ist „Lüge“. Unvermeidlich die Eco-Frage: „Was lügt, richtig gelesen, nicht? Ich würde sagen: in erster Linie das, was nicht verbal, sondern visuell ist, oder was, wenn es verbal ist, zur Ordnung des Parasprachlichen, Suprasegmentalen, Klanglichen gehört: die Tonfälle, Tempi, Rhythmen und Intensitäten der Stimme.“ Lesen ist Kunst, Verwandlung, Verstellung. Zum Glück bleibt jeder Leser auch sich selbst überlassen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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