Eine Rezension von Karla Kliche


Abenteuer Erzählen

Brigitte Burmeister:
Pollok und die Attentäterin
Roman.
Klett-Cotta, Stuttgart 1999, 306 S.


Die beiden Figuren, die dem neuen, dem dritten Roman von Brigitte Burmeister den Titel geben, sind gerade diejenigen, die in der Handlung nicht unmittelbar agieren. Und doch dreht sich im Buch alles um sie: um Jan Pollok, den Ghostwriter des wirtschaftlich erfolgreichen Karl Innozenz Weiss, und Roswita Sander, die Buchverkäuferin aus dem Kaufhaus- eine Liebesgeschichte. Und eine Kriminalgeschichte zudem, denn Pollok ist spurlos verschwunden, und Roswitas „Attentat“ galt Polloks Auftraggeber.

Die Figur, deren Tagesabläufe vom 1. März bis zum 26. September 1998 der Leser beobachten kann, ist die Ostberlinerin Renate, einst Slawistik-Dozentin, nun, nach einem gescheiterten Aussiedler-Integrations-Projekt, mit dem sie sich dem Evaluierungsgerangel an der Uni entziehen wollte, arbeitslos, nach dem Auszug des Sohnes jetzt mit eigenem „Arbeits“zimmer, einem hinterlassenen PC und einem neuen Schreibprogramm. Was damit beginnen? Durch einen Zufall erhält ihr Alltag „ein zweites Gesicht“: Sie trifft ihre einstige Lieblingsstudentin Ines zufällig wieder, die von der Wissenschaft in die Journalistik gewechselt und die Absicht hat, aus der kurzen Meldung über das Attentat eine mehrteilige Reportage für ein aufstrebendes Wochenblatt zu schreiben. Was sie Renate davon erzählt und die formulierten Passagen und Stichworte aus der „Anfangszeit“ ihrer Arbeit daran - von ihr inzwischen verworfen - entzünden Renates Phantasie, geben Arbeitszimmer und neuem Schreibprogramm ihre Funktion und bestimmen ab jetzt ihren Alltag: Alles dreht sich um die Geschichte von Roswita, Pollok und Weiss, der sich gegenüber dem Schreiber seiner „Autobiographie“ „Leben für mein Land“ zunächst bedeckt hält und als Ernst Karge präsentiert.

Auf verschiedenen Ebenen geht es im Buch um diese drei, was sie für Menschen sind und wie von ihnen zu erzählen ist. Ines verwirft ihren Text, weil sie spürt, daß sie Lücken mit eigenem Erleben füllt; sie will erst lückenlos (!) das Material zusammen haben, bevor sie die Reportage schreibt. - Renate findet Ines' Text gut, obwohl er eher zum Roman tendiert als zur Reportage, bedauert, daß sie aufgegeben hat, lehnt ihren künftigen Text (der allerdings nicht zustande kommen wird!) schon jetzt ab. Der erste Satz zu ihrer Version kommt Renate „wie von selbst“, und sie, die Literaturwissenschaftlerin, ist erstaunt darüber, daß es das gibt: das Eigenleben der Figuren, das sie beim Schreiben annehmen. - Pollok erhält von seinem Auftraggeber das Material stückweise und nicht in der Reihenfolge der Kapitel des Buches, er hat also nicht chronologisch zu erzählen. Neben dem Geld interessieren ihn an dem Auftrag - so Pollok, laut Ines, zu Roswita - seine Einfälle beim Schreiben. Das dann trotz Polloks Flucht doch zum Ende gebrachte Buch wird auf der Buchmesse in Leipzig präsentiert - und ist mit umfangreichen Passagen, die Renate teils dem blinden Sohn ihrer Nachbarin vorliest, Teil des vorliegenden Romans.

Obwohl Brigitte Burmeister immer kenntlich macht, wer „spricht“, ertappte ich mich dabei, daß sich mir diese exakte Zuordnung doch immer wieder beim Lesen verwischte. Zum einen wohl, weil dies - auch - eine spannende Geschichte ist: Warum schießt Roswita Sander auf das Haus von Weiss, weshalb wollte sie ihn „treffen“? Woher hatte sie die Waffe? Ist Weiss ihr ... (nein, das verriete zuviel)? Was war der Grund für Polloks Flucht? Bei welchem Stand der Arbeit an dem Weiss-Buch sein spurloses Verschwinden? Ist Weiss ein Denunziant? Wer ist der Autor der angekündigten Gegendarstellung zu „Leben für mein Land“? - Doch scheint mir andererseits die Autorin durch ihr Verfahren des Ineinanders der Texte eine Wahrnehmungsweise zu provozieren und in Frage zu stellen, bei der gewöhnlich nicht immer genau nachgefragt wird, von wem man was über wen erfahren hat; gestützt wird diese Vermutung in gewisser Weise dadurch, daß die Erzählerin Renate sich nicht selten fragt, woher, aus welchem Buch sie hat, was ihr gerade durch den Kopf geht, oder gesehen in welchem Film. Jorge Luis Borges' Vorstellung extremer Textualität von Wirklichkeit? Sicher kein Zufall, daß er im Roman Erwähnung findet. Und hat er, am Lebensende fast erblindet, vielleicht ein Pendant gefunden in dem erblindeten jungen Bruno mit seinem aufs Hören konzentrierten Hobby, der beim Vorlesen Renates auf Lücken, auf Verschwiegenes in der Darstellung von Weiss' Erleben des 17. Juni stößt?

Überhaupt Weiss' Geschichte. „Nichts Neues“, sagt Renates Mann, Techniker und passionierter Zeitungleser, zu „Ein Leben für mein Land“ nach offensichtlich flüchtigem Durchblättern: „Leben als Exempel“. Für Renate dagegen, die übrigens Zeitungen inzwischen verabscheut, ist er wenig greifbar, ein „vielgestaltiges Ich“, „eine Reihe von Personen“ in verschiedenen politischen Verhältnissen dieses Jahrhunderts. Das ist es wohl, was Brigitte Burmeister interessiert. Mit der Montage der Lebensgeschichte von Weiss wollte sie nicht erneut DDR-Geschichte aufarbeiten oder gar beweisen, daß auch führende Manager des Westens sich als Denunzianten entpuppen. So läse man auf einen Sinn hin, würde ignorieren, daß Brigitte Burmeister ihre schriftstellerische Herkunft im Nouveau Roman hat, der gerade das in Frage stellt. Ihr dagegen, so scheint mir, ist die Geschichte von Weiss Stoff (übrigens zum Teil ausgewiesene Zitate aus den Erinnerungen von Heinz Brandt und Fritz Schenk), um moderner Subjektivität auf die Spur zu kommen, die nichts Statuarisches oder auch Beispielhaftes (wie Weiss in Ines' Interview sein Leben selbst sieht) hat, sondern so, wie Renate ihn sieht: vielgestaltig, Fragen offenlassend, schwer festzulegen. Wie Roswita Sander auch oder Lena, deren schöne Freundin, oder selbst Ines. Diese wiederum wirft Renate vor, daß sie parteiisch für Roswita ist, die doch ganz anders sei!

„Erzählen ist Konstruktion“, dessen müsse man sich bewußt sein, hat Brigitte Burmeister einmal in einem Interview (NDL, 1/1999) gesagt, skeptisch gegenüber der Aufforderung, zum deutsch-deutschen Zusammenwachsen einander die Biographien zu erzählen. Im vorliegenden Roman scheint mir dies pointiert in bezug auf Weiss' Autobiographie, „konstruiert“ von einem Ghostwriter, den „die Wahrheit“ weniger interessiere als seine „Einfälle“. Und als „ihr altes Thema“ nannte sie: „Wirklichkeit als Effekt des Erzählens“, was ja wohl heißt, daß „die Wirklichkeit“ erst durch Sprache produziert werde. In dieser Hinsicht sind Renate und Ines polarisiert. Die eine recherchiert, sammelt Fakten und kommt nicht zum Schreiben, weil ihr „die Wirklichkeit“ dazwischenfährt, die andere macht aus Bruchstücken ihre ganz eigene Geschichte, beendet sie, fühlt sich aber im letzten Gespräch mit Ines „nicht bestätigt, nicht widerlegt, auf die Wirklichkeit gestoßen wie auf eine Mauer“. Es gibt, so scheint mir, in diesem Roman des Wettstreits zwischen Erzählen und Reportage keine Siegerin. Renate, die Ines ausgesaugt hat wie Dracula (so sagt ihr Sohn) oder wie ein Vampir (so Ines selbst), die versucht hat, eine sinnvolle Ordnung in die Beziehungen ihrer Figuren zu bringen und die Geschichte zu beenden, zweifelt an ihrem Schluß. Mit ihrer Methode eines eher traditionellen Erzählens vermag sie das Problem, gegen das sie stößt, „die Mauer des Wirklichen“, nicht zu bewältigen. Ines, bei ihrem letzten Treffen empört darüber, daß sie für ihre ehemalige Dozentin nur als Informantin für ihre Version der Geschichte interessant war, verweigert ihr den letzten Stand der Dinge ...

Auch Leser haben ihr „déjà vu“. An verschiedenen Orten im gleichen Zeitraum las ich je ein anderes Buch: hier der Burmeister-Roman, anderswo Max Frischs Stiller, erstveröffentlicht 1954, in einer Ausgabe des Verlages Volk und Welt von 1976. Zufall. Aber die Parallelen zu diesem Klassiker der Moderne verblüffend: „die Form, die gleichzeitig Handlung, gleichzeitig die Problematik selbst ist“, sagte Dürrenmatt über Stiller; zentral auch hier die Uneindeutigkeit von Subjektivität, eingebettet in eine Kriminalstory.

Wie einen Prolog, der die vor allem lesende Renate an ihrem Ersatzgeburtstag 1. März (1998 war kein Schaltjahr) zeigt, hat der Roman einen Epilog, in dem Brigitte Burmeister den Leser wieder einmal mit einer kniffligen Frage allein läßt. Mit Abstand vom Geschehen im März und April, es ist September, bedenkt Renate das Angebot eines ehemaligen Kollegen, an dem Projekt eines Telefon-Erzähldienstes mitzuwirken, denn, so seine Begründung: „Fast jeder in dieser Gesellschaft braucht ein Mittel, das beruhigt.“ Wird sie, oder wird sie nicht ... Zum Glück habe sie Bedenkzeit, aber „ein tröstliches Zirpen und Summen von Haus zu Haus“ (wie Bodos Insekten-Höraufnahmen) hört Renate schon jetzt. Dies nun kann ich nur als ironische Wertung ihrer Schöpferin lesen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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