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Fontane und kein Ende

Im Gespräch mit Gotthard Erler

 

Herr Erler, Fontane scheint für den Aufbau-Verlag ein verlegerischer Dauererfolg zu sein. Allein die von Ihnen betreuten und herausgegebenen Taschenbuchausgaben der letzten drei Jahre von Werken Fontanes bilden eine kleine handliche Reisebibliothek. 1998: die jeweils zweite Auflage von „Ich bin nicht für halbe Portionen. Essen und Trinken mit Theodor Fontane“, „Leichte Wolke, sei mein Wagen. Die schönsten Gedichte“ und die Reisebriefe „Jenseits von Havel und Spree“. 1999: die „Plaudereien und kleine Geschichten“ über „Von, vor und nach der Reise“, die „Bilder und Reisebriefe aus Schottland: Jenseits des Tweed“, „Kriegsgefangen. Erlebtes 1870“, in diesem Jahr bisher: „Aus den Tagen der Okkupation. Eine Osterreise durch Nordfrankreich und Elsass-Lothringen 1871“ und „Wie man in Berlin so lebt“, demnächst „Sie hatte nur Liebe und Güte für mich“, die Briefe Fontanes an Mathilde von Rohr. Gerade ausgeliefert die Lebenserinnerungen des Großvaters von Fontanes Frau Emilie. Nebenher schreitet die „Große Brandenburger Ausgabe“ voran. „Stine“ ist hier gerade erschienen und vor zwei Jahren der „Ehebriefwechsel“. Hier die Taschenbücher, dort die „Große Brandenburger Ausgabe“ - eine verlegerische Doppelstrategie, die offensichtlich Erfolg hat. Theodor Fontane das Markenzeichen von Aufbau?

Ja. Äußerlich steht dafür ein Poststempel, den der Verlag 1998 kreiert hat: „Aufbau - der Fontane-Verlag“. Das mag als Werbegag gelten, spiegelt aber treffend unser Verlagsprogramm wider. Aufbau versteht sich - auch aus Tradition - als die Pflegestätte Fontanes. Allein die Liste der Titel der letzten Jahre, die Sie vorgetragen haben, zeigt, daß im Unterschied zu allen anderen, die bisher Fontane herausgegeben haben, der Aufbau-Verlag tatsächlich immer irgend etwas Neues macht. Dies ist natürlich auch ein betriebswirtschaftlicher Zwang, den wir produktiv nutzen. Die teure Große Brandenburger Ausgabe ist nur machbar, wenn es uns einerseits gelingt, mit „Neuem“ - wie dem Ehebriefwechsel - die Interessenten bei Laune zu halten und mit verschiedenen verlegerischen Mitteln neue Leser für Fontane zu gewinnen. Hierzu haben wir zum Glück den Aufbau Taschenbuch Verlag. Taschenbücher sind preiswerter, mit Taschenbüchern kann man sehr schnell operieren, und dieses Konzept hat sich im Grunde ausgezahlt. Nehmen Sie die Lyrik Fontanes. Der dreibändigen Edition seiner Gedichte im Rahmen der Großen Brandenburger Ausgabe steht die als Taschenbuch veranstaltete Sammlung Leichte Wolke, sei mein Wagen - bereits in dritter Auflage - zur „Seite“. Wenn der Fontane-Freund vor der Frage steht, gebe ich 248,- DM für drei Bände Gedichte in der Großen Brandenburger Ausgabe aus, oder habe ich für beispielsweise 19,90 DM in Leichte Wolke, sei mein Wagen die 150 Gedichte, die Erler am schönsten gefunden hat, dann fällt meist die Entscheidung zugunsten des Taschenbuchs. Das Fontane-Taschenbuchprogramm versteht sich jedoch nicht nur als flankierendes, preisgünstiges Angebot zur Wachhaltung des Interesses an Fontane bei den Freunden des Brandenburgers, sondern es will auch den Blick auf Schriften richten, die es traditionell bei Fontane-Lesern schwer haben. Hierzu gehören die Arbeiten über den Krieg von 1870/71, Kriegsgefangen und Aus den Tagen der Okkupation. Für den Leser von damals war Aus den Tagen der Okkupation ein fester Begriff. Daß sich allerdings hinter dem Titel eines der schönsten und bekenntnisfreudigsten Bücher Fontanes verbirgt, weiß man im allgemeinen nicht. Wir haben inzwischen fast alles als Taschenbuch verlegt. Dabei haben wir auch neue Wege der Vermarktung beschritten, zum Beispiel mit der Bündelung der Romane. Es begann mit den Frauenromanen - ein Begriff, den es bei Fontane eigentlich gar nicht gibt. In dieser Kassette sind Effi Briest, Stine, Irrungen, Wirrungen und all die bekannten Sachen enthalten. Und obgleich alle oft verlegte Titel sind, haben wir die Kassette inzwischen 30 000 mal verkauft. Nicht selten hilft der Zufall, und Glück gehört auch dazu. Reich-Ranicki hat damals im „Literarischen Quartett“ Ein weites Feld von Günter Grass - ein Buch, das ich sehr wichtig und gut finde - verrissen und daraus als Empfehlung für den Leser abgeleitet, man sollte lieber Fontane im Original lesen, und gerade da sei im Berliner Aufbau-Verlag eine Kassette mit Berliner Frauenromanen erschienen. Da klingeln sich dann die Telefone heiß, die Bestellungen reißen nicht ab. Ähnliche Erfolge erreichten wir mit den beiden anderen „Bündelungen“, die wir als „Kriminal- und andere Fälle“ und „Adelsromane“ herausgaben.

Bei einer Reihe von Titeln der von Ihnen betreuten Taschenbücher fällt auf - hiervon ausgenommen „Essen und Trinken„ und „Wie man in Berlin so lebt“ -, daß es sich zum großen Teil um Titel handelt, die im Rahmen der „Großen Brandenburger Ausgabe“ offensichtlich noch auf sich warten lassen. Zwar fehlt hier meist der instruktive Anmerkungsapparat, aber ist dies nicht Konkurrenz im eigenen Hause?

Richtig, in gewisser Weise stellen wir uns da auch ein Bein. Nur muß man ja die Konkurrenzsituation auf dem Markt bedenken, wenn jemand anderes Aus den Tagen der Okkupation herausbringt und wir nicht, dann kaufen Interessenten dort, also muß man, solange die „Große“ noch nicht komplett ist, auch solche Kompromisse eingehen, wohl wissend, daß manche, die jetzt gekauft haben, später die teure Ausgabe nicht kaufen werden. Was aber insgesamt zu beobachten ist, wer die teuren Hardcover-Ausgaben haben und kaufen will, läßt sich davon nicht abhalten, auch wenn er das Taschenbuch schon hat. Die Erfahrung zeigt auch, daß beides nebeneinander existieren kann: die teure Hardcover-Ausgabe, die ja dann auch noch mehr bietet, Varianten, Kommentare, Materialien insgesamt, und die relativ einfache, aber solide gemachte Taschenbuchausgabe.

Warum hat es so lange gebraucht, bis der Aufbau-Verlag diese kleine und sehr unterhaltsame Schrift „Von, vor und nach der Reise“ verlegt hat?

Das liegt in der Art des Buches begründet. Wir wußten lange nicht, wo wir das Werk in die Gesamtausgabe einordnen werden. Das Werk ist ein Unikum, im Grunde genommen ein Zwitter. Es neigt einerseits doch sehr zum Erzählerischen - es sind richtige kleine Erzählungen darin enthalten - und andererseits sind in ihm viele Skizzen und Feuilletons enthalten. So wurde dieses Büchlein immer hin und her gestoßen und ist in der Vergangenheit durch alle Verlagsprogrammraster gefallen und daher kaum bekannt. So sind selbst wir als Fontane-Verlag erst sehr spät darauf gekommen, dieses Werk einfach mal ins Rennen zu schicken.

Als „Essen und Trinken mit Fontane„ und auch „Wie man in Berlin so lebt“ erschien, kam mir der unbehagliche Gedanke, jetzt wird der Fontane nach allen Seiten hin vermarktet. Ich erlebte jeweils eine angenehme Enttäuschung. Gibt es hier weitere Überlegungen?

Ja, es gibt noch ein Projekt, das von mir aus bereits abgeschlossen ist, es war immer so eine Art Dreiheit, die mir da vorgeschwebt hat. „Essen und Trinken“, „Berlin“ und „Die Toilettenverhältnisse“. Alle drei Bereiche sind ja nicht irgendwo an den Haaren herbeigezogen, sondern fontanespezifische Themen. Er hat nun mal leidenschaftlich gern gegessen und er konnte auch hungern, daraus ist „Essen und Trinken“ entstanden. „Ich bin nicht für halbe Portionen“ ist für mich wirklich eine Weltanschauungsbekundung. Die „Toilettenverhältnisse“ sind eine unterhaltsame Aneinanderreihung der meist unangenehmen Erlebnisse Fontanes bezüglich der hygienischen Verhältnisse, die er auf seinen Reisen antraf. Alles, was mit Unsauberkeit auf diesem Gebiet zu tun hatte, hat ihn wahnsinnig auf die Palme gebracht. Es war nicht ein märkisches Problem allein, aber in Berlin und der Mark Brandenburg war es halt besonders happig. Deshalb wird also nächstes Jahr auch wieder ein Taschenbüchlein erscheinen mit dem schönen Titel (im Originalton) Der Lokus im Levkojenbeet. Jauche und Levkojen heißt es bei Christine Brückner, auch bezogen auf Fontane. Der Versuch, seine Erlebnisse bei den Reisen in die Sommerfrische und speziell auf den Klos zusammenzuführen, das hat Fontane ein Leben lang beschäftigt. Es hing auch mit seinen fragilen Unterleibszuständen zusammen. Er hatte immer etwas mit dem Darm, und deshalb war das Klo natürlich ein wichtiger Platz in seinem Leben. Sicher, das ist nur eine kleine, neckische Geschichte, die aber, um auf die Anfangsüberlegungen zurückzukommen, so pikant sie sein mag, wieder auf den eigentlichen Fontane zurückführt.

Auffällig bei den Taschenbüchern ist, daß ihnen offensichtlich kein einheitlicher Reihencharakter zu Grunde liegt. Sie betrifft das Format, aber auch den (wenn auch bescheidenen) vorhandenen oder nicht vorhandenen Apparat.

Das hat sich zufällig ergeben. Wir haben ja ursprünglich nicht vorgehabt, eine Taschenbuch-Ausgabe der Werke Fontanes zu machen. Sie erschien als Reaktion auf die Bedürfnisse des Marktes. Nach den ersten Titeln ergab sich, daß diese vom Format her nicht in die Drehständer der Buchhandlungen paßten. Also, sagte der Vertriebschef, wenn wir das verkaufen wollen, müssen wir in die Drehständer, folglich müssen wir das Format ändern. Ein weiteres, vorher nicht bedachtes Problem: die zum Teil umfangreichen Texte Fontanes. Wie bringt man diese in ein Taschenbuch? Hier wurde Abhilfe mit einem höheren Format geschaffen, was ebenfalls einem Reihencharakter nicht dienlich war. Sie haben vollkommen recht, wenn Sie das monieren oder festhalten. Sicher, für den Sammler, der es darauf anlegt, sich das Gesamtwerk mehr und mehr anzuschaffen, ist dies ein Handicap. Aber es hat eben mit der Entwicklung des Verlages in schwierigen Zeiten zu tun. Wir sind ja erst im Fontane-Jahr, wenn auch nicht nur durch Fontane, aus dem Bereich der roten Zahlen herausgekommen und haben uns manchmal auch ein bißchen durchwursteln und durchschlagen müssen.

Es ist Ihnen also gelungen, das Interesse an Fontane wachzuhalten bzw. zu wecken. Dieses steigende Interesse bedienen natürlich auch die Fontane-Gesamtausgaben von Hanser und Nymphenburger. Konkurrenz belebt offensichtlich auch hier das Geschäft. Mit der Fontaneausgabe Aufbau-DDR, der Ausgabe von Hanser und der Ausgabe von Nymphenburger liegen drei umfangreiche Editionen vor. Warum dann trotzdem das Wagnis der „Großen Brandenburger Ausgabe“? Wo würden Sie die wesentlichsten Unterschiede zwischen der Großen Brandenburger Ausgabe und den bisherigen Ausgaben sehen?

Ich habe mich, als wir die Große Brandenburger Ausgabe konzipierten und konstituierten, von folgenden Einsichten leiten lassen: erstens davon, daß alle drei ambitionierten Ausgaben - die es während der Teilung Deutschlands gegeben hat: die von Hanser, die von Nymphenburger und die des Aufbau-Verlages - Torsi geblieben sind. Zweitens, daß zwar jede Ausgabe ihre Meriten hat, von keiner jedoch die mögliche Vollständigkeit erreicht wurde. Hanser hat eine Auswahl-Ausgabe veranstaltet, Nymphenburger hat sich auf bestimmte Werkteile beschränkt - so fehlen hier die Briefe, die Tagebücher sind nur partiell enthalten. Aufbau-DDR hatte sich um eine textkritische Edition bemüht, blieb aber ebenfalls unvollständig. Somit ergab sich drittens, daß eine das vielfältige Werk ordnende und umfassende Fontane-Gesamtausgabe noch aussteht. Aus diesem Anspruch ergibt sich natürlich der „erschreckende“ Umfang von 75 Bänden. Hinzu kommt viertens, daß noch einmal gründlich auf die Quellen zurückzugehen ist. Damit verbunden ist eine umfassende Kommentierung. Beides baut einerseits auf unserem eigenen Forschungsstand, andererseits auf den der Kollegen auf. Der ist sehr umfangreich, denn in den letzten 20 Jahren ist in Sachen Fontane unendlich viel passiert. So ist die Zahl der Dissertationen kaum noch überschaubar, neue Texte von Fontane sind aufgetaucht bzw. tauchen zum Glück (und Leid) des Herausgebers immer noch auf.

Herr Erler, seit rund fünfundvierzig Jahren beschäftigen Sie sich mit dem Leben und Werk Fontanes, betreiben seit über dreißig Jahren die Herausgabe der Schriften des Brandenburgers. Erster Höhepunkt war für Sie die Ende der sechziger Jahre mit herausgegebenen Romane und Erzählungen in acht Bänden und die 1976 begonnene Edition der „Wanderungen“, beides bei Aufbau-DDR, die jüngste Sensation war für die Fontane-Freunde der „Ehebriefwechsel“ in drei Bänden. Dazwischen liegt eine immense Forschungsarbeit, die Sie bis heute offensichtlich im Banne hält. Haben die dabei entdeckten Schätze Ihr anfängliches Fontanebild verändert? Wo ergaben sich Korrekturen?

Ich glaube schon, daß sich da etwas verändert hat. Die offiziöse DDR-Literaturwissenschaft und -Verlagspolitik tat sich lang Zeit schwer mit Fontane. Er galt den Oberen lange Zeit als eine suspekte Figur, Preußenverherrlicher und anderes mehr. Insofern ist es auch nicht zufällig gewesen, daß wir erst 1976 mit der ersten kompletten Ausgabe der Wanderungen beginnen konnten. Es war ein Glücksgefühl für uns, als wir die ersten Bände in der Hand hielten. Ein anderes Glück als Herausgeber widerfuhr mir Jahre zuvor, als ich bei der Bearbeitung der Romane und Erzählungen die Originalfassung von Mathilde Möhring entdeckte. Das Buch galt bis dahin eben als ein leider sehr unfertiges Konvolut, nicht in Kapitel eingeteilt. Hans-Heinrich Reuter, der große Biograph Fontanes, hat in seiner nach wie vor vorzüglichen Biographie lange darüber reflektiert, daß eben die Nichteinteilung in Kapitel doch ein Zeichen des Unvollkommenen ist. Mit der Entdeckung des Manuskriptes - ich fand es nicht weit von unserem Verlagshaus, nämlich in der Staatsbibliothek Unter den Linden - waren diese, damals allgemein geteilten Vorstellungen über das Werk obsolet geworden. Diesen Nachmittag werde ich niemals vergessen, als ich das Original zum ersten Mal in die Hand bekam und alles in der wohlsortierten Ordnung Fontanes vorfand. Jedes Kapitel, von 1 bis 17, war in einem eigenen Umschlag, einschließlich der handschriftlichen Angaben Fontanes darüber, was noch daran zu machen ist. Da hat sich mein Bild von dem angeblich so unkompletten Roman schon verändert, und das war eigentlich für mich auch die Initialzündung dafür, daß man in jedem Falle bei Fontane noch mal auf Quellen zurückgehen, intensiver nach noch nicht entdeckten suchen muß. Natürlich wird man nicht jedesmal so fündig wie bei Mathilde Möhring, aber irgendwas findet man immer. Bei Mathilde Möhring hatte ich das Glück, einen doch ganz anders akzentuierten Nachlaßroman herausgeben zu können, der seither unentwegt auch nachgedruckt wird. Die entscheidendsten Veränderungen am Fontane-Bild, auch an meinem eigenen und sicher an dem vieler Fontane-Freunde, hat sicherlich der Ehebriefwechsel gebracht. Man hat Fontane immer, vor allem den alten Fontane, als weisen und gütigen Mann vor Augen - so wie man ihn von den späten Porträts, auch von Liebermann, her kennt. Daß er aber eben auch ein Mann mit vielen Kanten und unangenehmen Seiten gewesen ist, was ihn ja uns menschlich durchaus näher bringt, das ist durch den Ehebriefwechsel zum ersten Mal schwarz auf weiß dokumentiert worden. Im Grunde kann man nunmehr kaum widersprechen, wenn manche Leute sagen, seiner Frau gegenüber war er eigentlich ein ekelhafter Kerl. Aber auch dieses Bild darf man nicht verabsolutieren. Es ist eine Seite Fontanes. Wahr ist auch, ich habe mich gerade mit seinen Texten zu den italienischen Reisen beschäftigt, daß er sich wie ein liebenswürdiger Ehemann benehmen konnte. Viel wichtiger an diesem Briefwechsel war für mich, daß hier zum ersten Mal von der Frau, die es 50 Jahre mit ihm ausgehalten hat, ein authentisches Bild entsteht, das mit dem bisher in der Fontane-Forschung vorherrschenden Bild aufräumt. Da hat sich in der Öffentlichkeit und auch für mich tatsächlich etwas verändert. Das Kuriose dabei ist, daß die Quellen darüber immer zugänglich waren. So bestand bis zum Erscheinen des Ehebriefwechsels die merkwürdige Situation, daß die Fontane-Forschung die im Fontane-Archiv in Potsdam befindlichen 180 Briefe Emilies an ihren Mann im Grunde genommen nicht zu Kenntnis nahm. Dies betrifft auch die 70 Briefe Fontanes an Emilie, die im Ehebriefwechsel ebenfalls zum ersten Mal veröffentlicht wurden.

War die ungenügende Erschließung bzw. Berücksichtigung der vorhandenen und zugänglichen Quellen schlichtweg Ignoranz seitens Ihrer Kollegen Herausgeber, Bequemlichkeit oder glaubte man nur zu gern den bisher bekannten Zeugnissen Fontanes über seine Frau, weil diese lange Zeit einen bestimmten Geist bedienten?

Letzteres ist wohl der Hauptgrund. Verantwortlich für das bisher vorherrschende Bild ist Fontane selbst. Von ihm stammen einige öffentlich gewordene böse Analysen über seine Frau. Ein Beispiel dafür ist der Brief an Mathilde von Rohr von 1876 - das Jahr, in dem es in der Ehe mächtig geknirscht hat, weil Fontane den Posten des Ersten Sekretärs der Akademie der Künste aufgegeben hatte und Emilie sich um die Existenz der Familie sorgte -, wo er schreibt, daß seine Frau nicht die Neigung habe, ihn in schwierigen Situationen zu unterstützen, sondern ihre Hand nur noch wie einen Stein auf seine Schulter legen würde. Durch solche und ähnliche Bemerkungen in Fontanes Briefen ist die gute Emilie dann wirklich ins Abseits geraten. Sie galt der Welt und Nachwelt als das kleine Dummerchen, das ihn im Grunde nicht verstanden, ihn mehr belastet als unterstützt habe. Ein anderes Bild von Emilie Fontane zeigt sich auch bei aufmerksamer Betrachtung ihrer Biographie: als uneheliches Kind geboren, immer wieder hin und her geschubst, Adoptivkind in Berlin und ohne feste familiäre Bindung. Da schien der dichtende Apotheker Fontane die Sicherheit zu bieten, die sie sich erträumte, die sie gewinnen und erhalten wollte, was man ihr weiß Gott nicht vorwerfen kann. Wenn man aber nur die oben genannten Briefe Fontanes bedenkt und liest, dann sieht das immer ganz anders aus. Mit dem Ehebriefwechsel ergibt sich daher durchaus eine wesentliche oder bemerkenswerte Veränderung im Fontane-Bild.

Wann kamen Ihnen selbst Zweifel an dem lange vorherrschenden Bild von der Ehe der Fontanes?

Ach, das habe ich eigentlich schon lange bezweifelt. Mißtrauisch hatte mich zuerst das Wenige gemacht, was von ihr überhaupt überliefert war. Dann die Kenntnis ihrer Jugend. Irgendwann habe ich dann die autobiographische Aufzeichnung von Emilie in die Hand bekommen, die im Besitz von Herrn Kunisch in München war und seit mehreren Jahren in der Staatsbibliothek in Berlin liegt. Das sind leider nur 15 eng beschriebene Seiten von der Hand Emilies, die allerdings nur bis 1839 reichen, aber ein erschütterndes Dokument sind. Ich habe das oben schon angedeutet. Ich bin dann im Zusammenhang mit dem Ehebriefwechsel anderen Spuren nachgegangen, vor allem den etwa 300 Briefen von Emilie Fontane an die Kinder, an Freunde und an ihre Stiefmutter Bertha Kummer, mit der sie ein gutes Verhältnis entwickelt hat. Hier ist mir klar geworden, was das für eine phantastische Frau gewesen ist, wofür sich viele Spuren und Belege finden lassen. Also ich glaube schon, daß man Emilie, aus welchen Gründen auch immer, sehr Unrecht getan hat. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an einen Vortrag, den ich vor vielen Jahren in Gosen über den Briefwechsel - an dem wir gerade anfingen zu arbeiten - gehalten habe, und ein sehr renommierter Fontane-Forscher hat die ganze Zeit ganz finster dreingeblickt und sich auch jeder Beifallsäußerung am Ende enthalten, so als wollte er mir sagen: „Das tut man eigentlich nicht, über solche Dinge zu reden.“ Inzwischen rechne ich die Arbeit am und die Publikation des Briefwechsels zu meinen Sternstunden als Verleger und Editor, gelang es doch damit, die Biographie Fontanes um einen neuen Tupfer zu bereichern. Daß wir die drei Bände umfassende Ausgabe trotz des hohen Preises gut verkauft haben, freut mich noch mehr.

Mir fällt in diesem Zusammenhang ein, daß Sie in Ihren Bemerkungen zur Ausgabe der Wanderungen von 1976, prononcierter als bei der Edition Anfang der neunziger Jahre, darauf verwiesen, daß Fontane bei seinen Erkundungen für die „Wanderungen“ große Schwierigkeiten bei der Erschließung der Quellen zu überwinden hatte und sich meist als Bettler vor den Toren der Adelssitze fühlte. Nun erweist sich - die bald erscheinenden Briefe Fontanes an Mathilde von Rohr werden davon Zeugnis ablegen -, daß Fontanes Klagen mehr auf ein „Klappern“ - das ja bekanntlich zum Handwerk gehört - deuten und weniger den Tatsachen entsprach. Er hatte zumindest die Stellung und die Unterstützung der Mathilde von Rohr ausgiebig und erfolgreich für sich zu nutzen gewußt, um sich die Türen des Brandenburger Adels zu öffnen. Sind Sie nach der Beschäftigung mit den Briefen an Mathilde von Rohr auch an diesem Beispiel in Ihrer Überzeugung gestärkt worden, daß seinen Selbstdarstellungen mit mehr Mißtrauen zu begegnen ist?

Das ist wahrscheinlich für viele andere Bereiche in Fontanes Biographie auch zutreffend. Er neigte ein bißchen zum Jammern, auch beim Geld. Man muß das sicher sorgfältiger differenzieren, als ich das vielleicht damals gemacht habe. 50-60 % der Adressaten werden ihm wohl problemlos ihre Archive geöffnet und ihm Materialien zur Verfügung gestellt haben. Es war der Rest, dessen Haltung er monierte. Dieser märkische Argwohn: „Was will denn dieser Skribifax? Wegen des Bildes von Tante Amalie im Wohnzimmer kann er ja wohl nicht kommen?“ (Originalton Fontane) Die darin sich spiegelnden Vorbehalte gegen die Darstellung konnten sicher mit Hilfe der Empfehlungen von Mathilde von Rohr bei vielen ausgeräumt werden. Nur hat Fontane, gerade auch in den Briefen an Mathilde von Rohr, immer wieder und wohl mit Recht geklagt, daß er es den Adelsfamilien nicht recht machen konnte. Dabei ging Fontane mit dem erworbenen Insiderwissen stets sehr vorsichtig und sehr diplomatisch, vor allem in sehr schwierigen Fällen, um. Erinnert sei an die Geschichte von dem Herrn Meusebach, der nachweislich verrückt war und im Irrenhaus gestorben ist. Fontane umschreibt diesen Sachverhalt in den Wanderungen mit der Charakteristik, daß Herr Meusebach von exzentrischem Charakter gewesen sei. Diese elegante Lösung brachte die Familie auf die Barrikade und ihm Beschimpfungen ein. Ähnliches erlebte Fontane auch bei der Darstellung der Rohr-Familie, die sich wesentlich auf Materialien der Mathilde von Rohr bezog und liebenswürdig zurechtgebogen war, gleichwohl sind Teile des Kapitels in den Wanderungen nicht auf Gegenliebe bei der Familie Rohr gestoßen. Solche Erlebnisse haben ihn dann wohl zunehmend verdrossen und auch dazu veranlaßt, das letzte große Projekt im Umkreis der Wanderungen, die Geschichte der Bredow-Familie, aufzugeben. Das meiste ist ihm wirklich zugeflossen, weil er es zu seinem und unserem Glück gar nicht mit den Adelsfamilien zu tun gehabt hat, sondern sich mit Hilfe der Pfarrer die Kirchenbücher und anderer Materialien erschließen konnte. Insofern haben Sie recht mit Ihrem Einwand, Fontanes Klagen sind auch in diesem Zusammenhang differenzierter zu bewerten.

In den von Ihnen veröffentlichten eigenen Ansichten über Fontane zieht sich wie ein roter Faden das Bemühen, zum einen gegen Über- bzw. Unterbewertungen des Stellenwertes der Wanderungen im Gesamtwerk Fontanes anzugehen und zum anderen die Entwicklung der Auffassungen Fontanes zum Preußentum gegen eine einseitige konservative Vereinnahmung oder Diffamierung Fontanes schützen zu müssen. Die anhaltenden Bemühungen lassen darauf schließen, daß hier unter den Fontane-Forschern und -Kritikern noch Dissens besteht. Sind die Aussagen Fontanes so unterschiedlich interpretierbar? Haben die neuesten Forschungen und Briefveröffentlichungen hier mehr Klarheit gebracht?

Letzte Klarheit bei Fontane kann man sowieso nicht gewinnen. Er ist fast ein Weltmeister der Ambivalenzen, er sagt es heute so, er sagt es morgen anders, und übermorgen kehrt er wieder zum ersten zurück. Ich halte ihn trotzdem nicht für einen gesinnungslosen Opportuni sten. Er hat schon irgendwo eine gerade Linie in seiner Entwicklung, aber man darf auch bestimmte Höhen und Tiefen oder Wellentäler in seiner geistigen und politischen Entwicklung nicht unter den Tisch kehren. Diese Wanderungen werden begonnen in einer Zeit, als er, was in der Forschung neuerdings eine große Rolle spielt, sich mit relativ konservativen Positionen abfindet. Auf diese Weise sind z. B. diese merkwürdigen unechten Korrespondenzen innerhalb der Schriften der Fontane-Gesellschaft zustande gekommen, wo die Herausgeberin, von mir sonst sehr geschätzt, alles zusammengetragen hat, was von Fontane sein könnte. Ich bin jedoch überzeugt, daß das meiste nicht von Fontane ist, denn dann wäre der Fontane der 60er Jahre doch ein arg konservativer Mann gewesen. Vergleicht man dagegen die echten oder unechten Korrespondenzen mit bestimmten Kapiteln aus den Wanderungen, stimmt dieses Bild nicht. Im Gegenteil, da guckt überall der Fontane der 48er Revolution hervor, mit einer sehr dezidierten Meinung über diesen märkischen Adel und über Preußen insgesamt. Mit Beginn der 70er Jahre - nach seinem Ausscheiden aus der Kreuzzeitungs-Redaktion - zeigt sich vor dem Hintergrund der Entwicklungen im Deutschen Kaiserreich ein immer deutlicher werdender Wandel seiner Gesinnungen, der sich dann in den spät geschriebenen Kapiteln und Nachträgen der Wanderungen nachweisen läßt. Es gilt also, noch behutsamer als bisher, die Entwicklung seiner Anschauungen zu verfolgen. Insofern ist der erwähnte rote Faden sicher da, aber wenn ich es heute schreiben würde, würde ich es im Lichte neuerer Erkenntnisse auch wieder ein bißchen anders darstellen. Und zu Ihrer anderen Frage: In der Rezeptions- und Forschungsgeschichte Fontanes läßt sich ein arges Auf und Ab feststellen. Anfangs waren es eigentlich fast nur die Wanderungen, die mit dem Namen Fontane verbunden waren. Dann entdeckte man die Romane, den Romancier Fontane. Die Lyrik dagegen wurde noch nie richtig zur Kenntnis genommen. Dann wurde der Briefschreiber Fontane entdeckt, während wiederum andere Teile seines Werkes an Aufmerksamkeit verloren, ganz so, als hätten sie miteinander nichts zu tun. Zu Unrecht, wie ich finde und an der Entstehung der Wanderungen, Romane und Erzählungen belegen kann. Die Teile des Werkes bedingen einander, sind mit einander verzahnt. Vor dem Sturm, der erste Roman Fontanes, entsteht fast über zwanzig Jahre parallel zu den ersten „Wanderungs-Bänden“. Kein Wunder, daß der Roman über weite Strecken auch eine Art „Wanderungsbuch“ ist, ja teilweise sind aus den Wanderungen wörtliche Passagen übernommen. Umgekehrt hat Fontane auch in der sogenannten Romanphase ab 1880 bis zu seinem Tod nie aufgehört, sich mit den Wanderungen zu beschäftigen. Der „Spreeland-Band“, der letzte Band, kommt 1882 heraus. Dann der Band Fünf Schlösser. Altes und Neues aus Mark Brandenburg, und in den 90er Jahren plant er noch das Projekt „Breedow-Familie“.

Für diese Wechselwirkungen sprechen ja auch die Korrekturen, Ergänzungen und Veränderungen, die Fontane in den von ihm bearbeiteten Nachauflagen seiner Wanderungen (einschließlich sich ändernder Überzeugungen zu den Fragen der Zeit) vornahm. Ist hier auch eine Anpassung an den Zeitgeist nachzuweisen, oder wurde die Feder nur im Sinne der sachlichen Verbesserung geführt?

Dem Zeitgeist hat er da nicht nachgegeben, aber er hat seine eigenen gewandelten Ansichten eingebracht. Das ist im einzelnen nicht so leicht nachzuweisen, weil auch hier wieder die Ambivalenz eine Rolle spielt. Ein Beispiel dafür die Ausführungen Fontanes über das 24er Regiment und die Niederschlagung des Dresdner Aufstandes, die erst ganz spät in den 70er Jahren von ihm in den Komplex „Neuruppin“ nachträglich eingefügt werden. Konservative Auffassungen zu einer Zeit, wo Fontane längst seine kritischen Äußerungen zum märkischen Adel formuliert hat. Ein anderes Beispiel: der Fall Graf Redern. Von diesem wird er gebeten, über ihn eine Biographie zu schreiben. Zu diesem Zweck wird er in das Redernsche Palais - das schönste Palais in Berlin zu dieser Zeit - gebeten. Emilie Fontane ist wütend über dieses Zitiertwerden. Fontane geht hin, zögert, sagt nicht ja und nicht nein, schreibt aber hinterher sofort: Nein, das macht er nicht. In einem Brief an Mathilde von Rohr befindet sich die berühmte Stelle: „Ich hab in dem Verkehr mit Hof und Hofleuten ein Haar gefunden; sie bezahlen nur mit ,Ehre‘, und da diese ganze Ehre auch noch nicht den Wert einer altbackenen Semmel für mich hat, so wird es mir nicht schwer, darauf zu verzichten.“ Seine gewandelten Ansichten sind auch sehr schön nachzulesen im Schlußwort seines letzten Bandes der Wanderungen und auch in den Briefen an seinen Verleger hierzu. Fontane läßt hier deutlich werden, daß er zwar sehr glücklich und zufrieden mit dem nun abgeschlossenen Projekt der „Wanderungen“ ist, gibt aber auch kund, daß er, wenn er den Band 1 nochmals schriebe, er in vielem ganz anders urteilen würde. Dabei stehen da schon interessante Sachen drin, wie etwa der Vergleich zwischen Schinkel und dem alten Zieten, wonach für Fontane nur Schinkel und nicht der alte Husarengeneral groß ist. Letzterer sei zwar der Vater der Husaren, was auch seinen Wert für die Militärgeschichte Preußens habe, aber die Baukunst, mit der Schinkel zur Umgestaltung Berlins beitrug, ist das Bleibende und Prägende.

Unser Wissen um Fontanes Leben und Werk erhält eine außerordentliche, vor allem originäre Bereicherung durch die von Ihnen herausgegebenen Tagebücher Fontanes. Im Rahmen der „Großen Brandenburger Ausgabe“ sind diese erstmals in einer Edition der Öffentlichkeit zugänglich. Sie bieten einen eindrucksvollen Einblick in die Werkstatt des Schriftstellers Fontane. Überraschend für mich das enorme Arbeitspensum, das Fontane sich aufhalste und durchhielt. Erstaunlich auch, wie intensiv sich Fontane mit der Qualität seiner „privatesten“ Notizen beschäftigte und welchen zeitlichen Aufwand er damit betrieb. Es scheint ganz so, als ob der Erforscher der Mark Brandenburg, der sehr wohl bei seiner historischen Spurensuche um die Bedeutung vorhandener Briefe und Tagebücher wußte, auf die seinigen diesbezüglich nachhaltigen Einfluß nahm. Es entsteht bei mir der Verdacht, hat er seiner Nachwelt eine Orientierung geben, Spuren legen wollen?

Gute Frage, schwer zu beantworten. Fontanes Briefe sind ja in viel höherem Maße literarische Kunstwerke als das Tagebuch. Ich glaube, was das Tagebuch angeht, nicht an das Spurenlegen. Das sind wirklich private Materialspeicher gewesen. Fontane hat eine ganze Reihe von handwerklichen Gewohnheiten gehabt. Zu diesen gehörte, daß man täglich mindesten ein bis zwei Briefe schreiben muß, daß man täglich auch entsprechende Briefe bekommt und auch, wenn möglich, täglich festhält, was so passiert ist. Bedenkt man, daß er vom Schreiben seine Familie ernährt hat, verwundert in der Tat diese Passion für das Tagebuch. Wir besitzen ja leider nicht alle Tagebücher. Einige sind in den Nachkriegszeiten verschwunden, andere noch nicht auffindbar. Aber das, was da ist, zeigt, daß die stichwortartige Selbstverständigung über Begegnungen, über Lektüre, über Eindrücke usw. im Grunde ein literarisches Lebenselement für ihn gewesen ist. Für die Briefe würde ich schon annehmen, daß er vielleicht hin und wieder an deren Veröffentlichung gedacht hat. Aber auch nicht im Sinne von Spurensuche, sondern im Sinne von Dokumentation seines unabhängigen Daseins.

In vielen Selbstdarstellungen, vor allem aber in seinen Briefen und in den Tagebüchern ist von seiner ständigen prekären finanziellen Situation die Rede. Gibt es inzwischen einen genaueren Einblick in seine Einnahmen- und Vermögensverhältnisse?

Das ist auch ein ganz weites Feld, das man für das gesamte Leben nicht mit Sicherheit überschauen kann. Den Fontanes ist es nach der Hochzeit, als die Kinder alle kamen und er keine feste Anstellung hatte, wirklich teilweise ganz dreckig gegangen. Richtig nah ging mir bei der Arbeit am Ehebriefwechsel die dort nachzulesenden ernsthaften Überlegungen, einen Sohn zur Adoption freizugeben - das wäre der Theo gewesen, weil sie einfach nicht wußten, wie sie die Familie über Wasser halten sollten. Auf der anderen Seite gibt es für die spätere Zeit Untersuchungen über Fontanes Vermögensverhältnisse mit Hilfe der Steuerzuordnungen, die den Schluß zulassen, daß Fontane inzwischen zu den oberen Zehntausend gehört. Man müßte mal systematisch die Haushaltsbücher Emilie Fontanes durchforsten und analysieren - wir haben das bisher immer nur punktuell gemacht. Im Ehebriefwechsel gibt es unendlich viele Streitereien um das liebe Geld, aber auch Hinweise in späteren Zeiten auf Jahreseinnahmen in Höhe von 2 500 bis 3 000 Taler. Alles in allem glaube ich, daß es den Fontanes seit den 80er Jahren zunehmend ganz gut gegangen ist, wobei die Sparsamkeit von Emilie sicher eine große Rolle gespielt hat. Gleichwohl hat hier die Fontane-Forschung noch ein weites Feld zu erkunden.

In den Tagebüchern und Briefen Fontanes sind einige Stellen antijüdischen Inhalts zu finden. Den hier und da erhobenen Vorwurf gegenüber Fontane, er habe antisemitische Überzeugungen vertreten, versucht seine Fan-Gemeinde mit solchen Hinweisen zu begegnen, daß es sich bei diesen Formulierungen um Äußerungen handele, die man nicht vom Zeitgeist lösen dürfe und er andererseits solche Vorstellungen nie habe öffentlich werden lassen, sie seien rein privater Natur gewesen. Gleichwohl ist, wie Sie mehrfach aufgezeigt haben, sein ambivalentes Verhältnis zu den Juden nicht aus der Welt. Wäre hier eine gründliche Analyse nicht an der Zeit? Gibt es dafür ein Vorhaben?

Es hat 1998, im Zusammenhang mit dem 100. Todestag, viele, viele Aufgeregtheiten in dieser Frage gegeben. Das, was mir persönlich am heftigsten in Erinnerung geblieben ist, war ein Einwurf anläßlich eines Vortrages, den ich über Fontane in Braunschweig hielt, wo ich auf dieses Problem einging und von einem Zuhörer vorgehalten bekam: „Ich verbiete Ihnen darüber zu reden, das macht man nicht!“ Das ist ein Extrem, das man erleben kann. Andererseits ist auch ein bißchen Einseitigkeit hineingekommen durch ein an sich sehr verdienstvolles Buch von Michael Fleischer mit dem Titel Fontane und die Judenfrage. Das Buch ist nicht zufällig im Selbstverlag erschienen, da wollte offenbar keiner ran, und dem Aufbau-Verlag hat er es nicht angeboten. Eine Zusammenstellung von antijüdischen Passagen besitzt natürlich auch die Gefahr einer einseitigen Sicht. Zweitens, Sie haben es angedeutet, Fontane hat, ich glaube das mit Sicherheit sagen zu können, nie etwas Antijüdisches oder Antisemitisches veröffentlicht. Aber klammheimlich, tagebuch- und briefverborgen, hat Fontane seine Meinung hierzu festgehalten. Da stehen in der Tat ganz schlimme Sachen drin. Zwei Beispiele, etwa aus der gleichen Zeit, sollen genügen. Seinem Tagebuch vertraut er nach einer Theateraufführung an: „Zwei Drittel aller Menschesn im Theater waren Juden; ich habe nichts dagegen und gönn es ihnen; aber es gibt doch zu allerhand ängstlichen Betrachtungen Veranlas sung, die man mit humanistischen Redensarten, sie mögen so schön und so aufrichtig gemeint sein, wie sie wollen, nicht aus der Welt schaffen wird. Staat und Gesetzgebung müssen beizeiten helfen, sonst wird es schlimm.“ Einzusehen im Original im Fontane-Archiv in Potsdam. An Mathilde von Rohr schrieb er: „Ich bin von Kindesbeinen an ein Judenfreund gewesen und habe persönlich nur Gutes von den Juden erfahren - dennoch hab ich so sehr des Gefühl ihrer Schuld, ihres grenzenlosen Übermuts, daß ich ihnen eine ernste Niederlage nicht bloß gönne, sondern wünsche. Und das steht nur fest, wenn sie sie jetzt nicht erleiden und sich auch nicht ändern, so bricht in Zeiten, die wir beide freilich nicht mehr erleben werden, eine schwere Heimsuchung über sie herein.“ Als ich dies bei der Vorbereitung auf die Ausgabe der Briefe von Fontane an Mathilde von Rohr im handschriftlichen Original las, ging mir das ganz schön kühl den Rücken runter. Fast liest sich dies wie eine Vorhersage des Holocaust. Einige der bösartigsten Äußerungen Fontanes gegen die Juden stehen in einem Brief an den Juden Georg Fried-laender. Allerdings darf man diese antijüdischen Aussagen Fontanes nicht im Lichte unserer Erfahrungen, im Lichte von Auschwitz beurteilen. Fontane hat eine merkwürdige Unterscheidung zwischen den jüdischen Mitbürgern gemacht. Ein großer Teil seiner Freunde oder Geschäftspartner, die Juden waren, hat er gar nicht als Juden zur Kenntnis genommen. Wilhelm Hertz, der Verleger der Wanderungen war Jude, Julius Rodenberg, der Herausgeber der Deutschen Rundschau, der sehr viele wichtige Texte Fontanes vorabgedruckt hat, war Jude, Max Liebermann war Jude. Das war für Fontane ohne Bedeutung. Das sind die etablierten assimilierten Juden. Er kannte und schätzte deren Leistungen. Zu einer Aussage des Gymnasialprofessors Adolf Lasson, wonach „die Juden den Deutschen die Kultur besorgen und die Deutschen revanchieren sich mit dem Antisemitismus“ meint Fontane: „Kolossal richtig!“ Wie zu vielen Problemen und Anschauungen seiner Zeit, hatte Fontane auch hierzu eine ambivalente Haltung. Es ist durchaus noch eine zu leistende Aufgabe, dieses Phänomen differenzierter zu untersuchen. Man darf das Thema nicht unter den Tisch kehren, denn es ist ein Teil unseres guten Fontane. Allerdings muß auch festgestellt werden, daß alle öffentlichen Äußerungen Fontanes über die Juden durch die Bank freundlich, freundschaftlich sind.

In Ihrer Einleitung von 1994 zu den Tagebüchern verweisen Sie darauf, daß bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal die Hälfte der einst geschriebenen Fontane-Briefe bekannt sind. Hat sich hieran inzwischen etwas verändert?

Ja, es ist ganz erstaunlich, wie viele Briefe nach 1994, dem 175. Geburtstag Fontanes, aufgetaucht und vom Fontane-Archiv in Potsdam erworben werden konnten bzw. diesem zum Geschenk gemacht wurden, was natürlich die bessere Variante ist. Darunter ein großes Konvolut von Briefen Fontanes an seinen Verlegersohn Friedrich Fontane und ein ganzes Konvolut von Briefen Fontanes an Emilie aus dem Jahre 1877, was mir sehr zupasse kam für den Ehebriefwechsel. Da ist immer noch was im Busche. Ich schätze, daß erst die Hälfte der Briefe, die Fontane verfaßt haben muß, aufgefunden wurde. Natürlich kann vieles unwiderruflich verloren sein. Aber manche Briefe warten noch auf ihre Entdeckung. Allein wenn ich daran denke, wie viele Bekannte von mir Fontane-Briefe besitzen, dann verweist dies darauf, wie viel von diesen noch verstreut existieren. Selbst wenn wir jetzt mit der Briefabteilung der Großen Brandenburger Ausgabe - die wir auf 10 Bände veranschlagt haben - beginnen, würde sich während der Edi-tionsarbeit das Ganze noch wie ein Hefeteig entwickeln.

Wie viele Briefe von Fontane bzw. an Fontane besitzt Gotthard Erler?

Zu meinem größten Bedauern keinen einzigen. Ich hoffe immer noch, daß mir einer zufliegt, den ich aber dann dem Fontane-Archiv zur Verfügung stellen würde.

Herr Erler, die Ergebnisse Ihrer Herausgebertätigkeit der letzten zehn Jahre können sich sehen lassen. Sie haben an der weiteren Aufhellung und Dokumentierung des Preußenbildes von Fontane ebenso mitgewirkt wie am Nachweis der Unzulässigkeit einer Wiedervereinnahmung Fontanes als Heimatschriftsteller und der europäischen Dimension in seinem Werk. Mancher Strich am Bild Fontanes erfuhr so eine Korrektur. Was dürfen wir diesbezüglich von Ihnen noch erwarten?

Was das Preußenbild Fontanes angeht, was den märkischen Adel und sein Verhältnis zu ihm angeht, da gibt es eigentlich nicht so viel Neues. Zu erinnern ist daran, daß die sogenannte Fontane-Renaissance - was immer man darunter versteht - 1954 mit der Herausgabe der Briefe Fontanes an Friedlaender (die Kurt Schreiner besorgt hatte) begann. Damit ist das Bild vom späten Fontane in seiner politischen Substanz im wesentlichen schon gezeichnet worden. In der Folge ist vor allem durch Helmut Nürnberger, aber auch von anderen, das eine oder andere an diesem Bild präzisiert und verfeinert worden. Grundsätzlich Neues haben wir hier nicht mehr leisten können. Interessant ist für mich der Aspekt, der durch die Tagebücher noch einmal richtig ins Bewußtsein gerufen worden ist, auch im Kontext mit der Wiedervereinnahmung Fontanes als Heimatdichter, den europäischen Aspekt im Werk und Wirken Fontanes hervorzuheben. Fontane ist für mich ein Märker von Hause aus, ein, wie er sagt, „in der Wolle gefärbter Preuße“. Aber ein Preuße mit europäischen Denkansätzen, ja vielleicht sogar mit globalen Vorstellungen. Europäisch schon durch seine vielen Reisen in Westeuropa, von Süditalien bis Schottland, und global durch seine weitgefächerten Interessen in Richtung Vereinigte Staaten von Amerika, Kolonialisierung von Afrika und die Entwicklungen in Asien. Das hat Fontane sehr interessiert. Für mich kulminiert das Ganze in jenem schönen Brief an Emilie von 1884: Das Sorgenkind Martha Fontane begleitet eine reiche Amerikanerin auf einer Italien-Tour, und nach der Rückkehr besteht die Gefahr, so sieht es Emilie zumindest voller Sorge, daß das „arme“ Mädchen mit nach Amerika geht, und da schreibt Fontane dann ganz beruhigend, man könne seine Kinder sowieso nicht an der Schürze halten, was flügge ist, müsse fliegen, außerdem gäbe es keine Entfernungen mehr durch die moderne Technik, nach Amerika sei es nur wie dreimal nach London, und man habe keine andere Heimat mehr als die Erde, Greiz, Schleiz, Lobenstein und selbst Mark Brandenburg seien „abgelöst“. Er hat später dann auch wieder etwas anderes gesagt, aber bei dem Wanderer durch die Mark Brandenburg immer nur auf den Heimatschriftsteller zu setzen, das geht nicht an. Das geht von der Konzeption des Gesamtwerkes her nicht. Diese entsteht in England. Es läßt sich auch nicht aus Teilen seines Werkes begründen. Die Wanderungen entstehen im Kontext europäischer Reisen Fontanes, der ja die Kriege von 1864, 1866 und 1870/71 als Beobachter vor Ort beschreibt, in Europa immer unterwegs ist, ganz andere Perspektiven hat und aus dieser kritischen Sicht von draußen die Wanderungen schreibt. Insofern nehme ich gern auf meine Kappe, wo immer es geht, Fontane als den Europäer zu zeigen. Das Wort europäisch kommt ja bei ihm durchaus häufig vor. Er ist ein Preuße, der verwurzelt ist mit diesem Land, sonst hätte er so vieles gar nicht schreiben können. Aber ein Preuße, der immer über den Zaun geguckt hat, und insofern ist Fontane auch ein schönes Beispiel für Toleranz in der Welt. Er mahnt oft: „hinterm Berg wohnen auch Leute“. Im Stechlin kommt zu diesem Satz noch der Zusatz: „und mitunter noch ganz andere“. Also guckt nicht immer auf euren Nabel, seid nicht so borniert, sondern schaut euch um! Das hat mich schon sehr berührt. Damit will ich gleich zur Beantwortung Ihrer Frage überleiten. Mir scheint, daß man editorisch weitermachen muß. Innerhalb der Großen Brandenburger Ausgabe steht zunächst der Band der Reisetagebücher auf dem Programm. Dieser Band wird, was die Lesbarkeit angeht, viel interessanter sein als die bisherigen Tagebücher. Denn hier geht’s weniger um Stichworte, sondern wirklich um ausgeführte Passagen. Vor allem die unveröffentlichten Tagebücher, die Fontane 1870 und 1871 während seiner Reisen auf die französischen Kriegsschauplätze geführt hat, sind ein eindrucksvoller Beleg dafür, daß Fontane eben jenseits aller chauvinistischen preußischen Intentionen gedacht und geschrieben hat. So ist es auch kein Wunder, daß seine privaten Reiseberichte (Kriegsgefangen und Aus den Tagen der Okkupation) bei ihrem ersten Erscheinen wenig erfolgreich waren. Er hat in diesen Büchern nicht das mitgemacht, was man eigentlich von ihm erwartete: Jetzt haben wir den Erbfeind endlich in die Pfanne gehauen, Preußen ist die Vormacht Deutschlands usw. usw. Im Gegenteil, er hat seine Sympathie für die Unterlegenen, für die Besiegten bekundet und deren Leistung und Kultur gewürdigt.

Herr Erler, die „Große Brandenburger Ausgabe“ ist längst noch nicht abgeschlossen. Womit ist in den nächsten Jahren neben den Tagebüchern noch zu rechnen, und wie lange stehen Sie diesem Projekt selbst noch zur Verfügung?

Die letzte Frage kann ich nicht beantworten, die wird nur biologisch entschieden, wobei sich die Biologie speziell auf den Kopf bezieht.Ich möchte meine Kenntnisse und meine Kraft so lange es irgend geht zur Verfügung stellen. Das Ganze ist natürlich auch ein ökonomisches, ein verlegerisches Thema. Aufbau nennt sich zwar Fontane-Verlag bei Aufbau, aber der Verlag kann nicht nur Fontane machen. Wir konzentrieren uns zur Zeit darauf, die Abteilung „Das erzählerische Werk“ (betreut von Christine Hehle) möglichst zügig weiterzuführen, d. h. einen Titel pro Halbjahr. Bis 2005 soll diese Abteilung geschlossen vorliegen.

Der editorische Aufwand ist enorm - ein Qualitätssiegel, das kostet. Rechnet sich die „Große Brandenburger Ausgabe“ und die sie flankierenden Taschenbücher für den Verlag?

Die Große Brandenburger Ausgabe rechnet sich auf keinen Fall. Wie schon oben angedeutet, bedarf sie der finanziellen Hilfestellung durch die Taschenbücher. Allerdings sind die Ergebnisse hier unterschiedlich. Natürlich ist das Fontane-Projekt ein ehrgeiziges Unternehmen, für das der Verlag viel investieren muß. Bei aller Popularität des Autors und bei allen Möglichkeiten, die sich ergeben, neue und alte Leser zu gewinnen - ein Risiko bleibt.

Das Gespräch führte Hans-Jürgen Mende


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
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