Eine Annotation von Licita Geppert


Keys, David:
Als die Sonne erlosch
535 n. Chr.: Eine Naturkatastrophe verändert die Welt.
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.

Karl Blessing Verlag, München 1999, 416 S.

 

Dieses Buch wird unsere bisherige Weltsicht gehörig verändern. Es macht betroffen oder besser: besorgt, was die Zukunft der Menschheit anbelangt in einer Zeit verstärkter Naturkatastrophen, die auch, aber nicht ausschließlich als Folge menschlicher Eingriffe in die Natur auftreten. Nach der Lektüre dieser Abhandlung wird klar, daß der Begriff „finsteres Mittelalter“ keine Metapher ist, für die wir ihn heute halten. Das Mittelalter war finster im wortwörtlichen Sinne: Um das Jahr 535 n. Chr. wurde die Sonne durch eine Naturkatastrophe globalen Ausmaßes für einen Zeitraum von etwa anderthalb Jahren verdunkelt. Die Erde wurde durch einen dicken Staubschleier von dem für sie Leben spendenden Sonnenlicht abgeschirmt. Dies hatte verheerende Auswirkungen auf das Leben an sich, aber auch und vor allem auf die menschliche Zivilisation. Wer die Sonnenfinsternis des vergangenen Jahres partiell oder total erlebt hat, weiß um die freudlose Stimmung, die dadurch entstand, jenseits jeder Bedrohung für Leib und Gesundheit. Unvorstellbar ist eine Existenz, die eher einem Dahinvegetieren glich, über einen Zeitraum von 18 Monaten. Auch Jahrzehnte später noch wechselten Kälte- und Dürreperioden einander ab, begleitet von unaufhörlichen Regengüssen und Sturmfluten. Sie brachten in ihrem Gefolge jahrelange Hungersnöte und Epidemien, die ganze Landstriche entvölkerten fast bis zur Ausrottung der Menschheit.

Die Völkerwanderung war eine Folge dieser Naturkatastrophe, über deren Ursprung auch der akribisch recherchierende Autor nur Vermutungen anstellen kann. Am wahrscheinlichsten ist die Theorie eines gigantischen Vulkanausbruchs, dessen Asche den Himmel verdunkelte. Wir wissen heute, daß in dieser Zeit die Grundlagen für unsere heutige Zivilisation gelegt wurden. Es erwies sich, daß die hochentwickelten Zivilisationen auf Katastrophen dieser Art nicht vorbereitet waren und auch heute nicht sind. Das führte zu einer weltweiten Veränderung der politischen Landkarte. Die blühenden Reiche Afrikas und Europas verfielen. Die scheinbar in der Entwicklung zurückgebliebenen Völker hatten auf Grund fehlender Getreidewirtschaft erstaunlicherweise die größeren Überlebenschancen, denn sie verfügten über die größere Mobilität, da sie nicht an Grund und Boden gebunden waren, und sie entgingen gleichzeitig der Pest, die von Ratten übertragen wird. Sie überrannten die großen Reiche förmlich, was uns heute als Völkerwanderung geläufig ist.

Durch die klimatischen Veränderungen wurden die natürlichen Feinde der Ratten dezimiert, was zu einer Überpopulation und gleichzeitigem Nahrungsmangel führte. Der Erregerhort der Pest befand sich im Goldland Punt, dem heutigen Äthiopien, das in regem Handelsverkehr mit der zivilisierten Welt stand. Durch die starke Vermehrung der Ratten wichen diese auch auf Schiffe aus und kamen so nach Europa. Am Verlauf der Pestausbreitung lassen sich die Handelswege und die politischen Beziehungen jener Zeit genau nachvollziehen. Völker, die isolierter lebten, blieben größtenteils von Epidemien verschont.

Es ist ein Verdienst des erfahrenen Archäologie-Korrespondenten des Independent, genaueste historische Kenntnisse mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen abzugleichen und daraus ein globales Panorama zu entwerfen, das die Ursprünge unserer heutigen modernen Gesellschaft ebenso erhellt wie den Untergang großer Reiche. Die heutigen wissenschaftlichen Methoden der Daten- und Faktensicherung wie Eiskern-Bohrungen und Dendrochronologie geben dem Spezialisten Werkzeuge in die Hand, die Ausmaße und den Zeitpunkt der damaligen Klimakatastrophe auch dort genau zu bestimmen, wo keine schriftlichen Zeugnisse vorliegen. Sie geben überdies Hinweise auf viele Naturunbilden geringeren Ausmaßes, von denen auch wir jederzeit wieder betroffen sein können und werden. Das Buch faßt die mit großem Aufwand und Sachverstand gesammelten Beweise zusammen und verbindet sie zu einem weltumspannenden Geschichtswerk. Dem historisch Interessierten werden Aha-Effekte ermöglicht, durch die sich viele Widersprüchlichkeiten und scheinbare Ungereimtheiten der bisherigen Geschichtsbetrachtung auflösen und das „dunkle Zeitalter“ zumindest mit einer Taschenlampe erhellen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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