Eine Annotation von Alfred Büngen


Kumar, Anant:
Die Inderin
Mit Grafiken von Victor Delfin.

Wiesenburg-Verlag, Schweinfurt 1999, 54 S.

 

Entwicklungswege eines Autoren, seiner Literatur, Erarbeitung eines Standpunktes. Nur zu wenige Autoren lassen uns wie Kumar an ihrem Weg teilnehmen. Gesellschaft, Leser und Verlage verlangen klar erkennbare Konzepte, richtungsweisende Vorgaben - die sich zumeist als inhumane ideologische Hüllen einer Herrschaftskonstruktion erweisen - und nicht das gleichbleibende Lächeln einer Inderin, so wie es uns Kumar in seinem dritten Buch, Die Inderin, anbietet. Verunsicherungen des Lesers sind die Folge dieses Lächelns, verzweifelte Orientierungsversuche, die im Laufe der Lektüre in Erkenntnis umschlagen.

In seinen ersten beiden Werken Fremde Frau - Fremder Mann und Kasseler Texte standen die Auseinandersetzung mit der europäischen Lebens- und Geisteswelt, die Suche und das Finden eines humanen Standpunktes in und aus der Tradition der europäischen und indischen Lebenswelt im Mittelpunkt seiner auch sprachlich beeindruckenden Kurzprosa und vor allem Lyrik. Und nun entwickelt Kumar seine Sicht- und Schreibweisen hin zu einer „weiblichen“ Position, die fernab jeglicher Ein- und Unterordnung in Theoriezwänge die zutiefst humanistische Position menschlichen Daseins für ihn überhaupt darstellen - die leidenschaftlichen Bejahungen des Lebens, seiner eigenen individuell-menschlichen Natur. Sawitri, so der Name der zentralen weiblichen Figur seines Buches, liebt die Raubvögel, wie Kumar sie erzählen läßt. Anders als der aasbesessene Geier, der grübelnde indische Uhu, der rationalphilosophische Adler, handelt der Falke leidenschaftlich natürlich:

„Unbekümmert von all diesem flog ein Falke höher und wilder. Seine Krallen stürmten. Mal schnappte er mit Erfolg einen Fisch. Aber oft stießen seine Krallen schmerzhaft bloß gegen den Felsen. Voller Schmerz flog der Falke noch höher und noch wilder. Und dabei dachte er sich: ,Das ist meine Natur. Das ist meine Fähigkeit. Nichts anderes kann ich ...‘“

Die Geschichten, Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Sagen und Satiren des Buches - Kumar erweitert sein Spektrum erheblich - berichten von der Möglichkeit des humanen Überlebens in einer inhumanen Gesellschaft. Das Lächeln der leidenschaftlichen Menschlichkeit der Inderin karikiert akademische Herrschaftsstrukturen ebenso wie bayerische Provinzialität und männlich-sexuelle Herrschaftsansprüche. Leidenschaftliches Bekenntnis zum anderen Menschen - zugleich ist dies auch immer leidenschaftliches Bekenntnis zur Phantasie und Poesie. Häufiger kommt der Gedanke bei der Lektüre: Ist Menschlichkeit vielleicht die Durchdringung der Wirklichkeit mit leidenschaftlicher Poesie?

Die Bejahung eigener Leidenschaft, damit eigener Menschlichkeit, führt erst zu einem inneren Gleichgewicht individuellen Lebens, ermöglicht die natürliche Leidenschaft zum anderen Menschen, fernab vom Gedanken des Besitzes und des Beherrschens. Anant Kumar schreibt mit dieser Position in den Traditionen des humanen Denkens der indischen und europäischen Philosophie und Literatur. Nicht zufällig erinnert er in einer seiner Geschichten an die Betonung der humanistischen Vernunft bei Lessing, die sich mit Positionen der alten indischen Poesie treffen: „Religion lehrt uns nicht gegenseitige Feindseligkeit.“ Die Grafiken Victor Delfins unterstreichen die Grundposition der Leidenschaftlichkeit von Körper, Geist und Literatur.

Bemerkenswert, wie Anant Kumar es schafft, den Leser im scheinbaren Chaos der Aneinanderreihung verschiedenster Texte zur Auseinandersetzung mit der zentralen Position zu führen. Ein Buch, das wie wenige den mündigen, leidenschaftlichen Leser würdigt und verlangt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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