Eine Rezension von Horst Wagner


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Mehrschichtige Geschichtsschau

 

Günter Benser: DDR - gedenkt ihrer mit Nachsicht

Karl Dietz Verlag Berlin, Berlin 2000, 479 S.

 

 

Neben Wolfgang Englers Die Ostdeutschen - Kunde von einem verlorenen Land (Aufbau-Verlag 1999), gehört das Buch von Günter Benser zum Interessantesten, Ausgewogensten und Stimmigsten, was ich über die DDR, ihre Entwicklung und ihren Niedergang, ihre Politik und das alltägliche Leben in ihr gelesen habe. Konzentriert sich Engler auf ausgewählte Zeitabschnitte und das Verhältnis von Vorgaben von „oben“ und Reaktionen von „unten“, so versucht Benser, zu DDR-Zeiten als Historiker am Institut für Marxismus-Leninismus tätig, einen geschlossenen Überblick über die Entwicklung von Staat, regierender Partei und Gesellschaft dieses Landes vom 7. Oktober 1949 bis zum 3. Oktober 1990 zu geben. Dabei ist es ihm gut gelungen, objektives Geschehen von damals, persönliches Erleben und rückschauende Wertung aus heutiger Sicht zu verknüpfen. Fast in jedem Kapitel folgen in einer Art „Drei-Schicht-Methode“ der Schilderung des historischen Geschehens persönliche Erlebnisse aus diesem Zeitabschnitt, einschließlich Notizen von Versammlungen und Tagungen sowie Briefauszüge, was für mich den besonderen Reiz dieser Geschichtsschau ausmacht. In seiner dritten „Schicht“, sozusagen der Bewertungsebene, geht Benser mit der DDR und seinem eigenen Wirken in ihr durchaus nicht unkritisch um, wendet sich aber auch gegen allgemeine Verdammungsurteile im Sinne „Unrechtsstaat“ oder „verlorene Jahre“.

So erfahren wir zum Beispiel im Kapitel „Der Juniaufstand und seine Folgen“ nach einer Analyse der inneren und äußeren Ursachen für den Arbeiteraufstand vom 17. 6. 1953 und einer detailreichen Schilderung der tatsächlichen Ereignisse, wie der zur Bewachung eines Leipziger Uni-Gebäudes eingeteilte Geschichtsstudent Benser das Gedröhn aus dem nahe gelegenen Gefängnis und das Klirren sowjetischer Panzer erlebte, und lesen schließlich die heutige Sicht des Historikers Benser zu früher von ihm vorgenommenen Wertungen des 17. Juni, besonders zu dem in der DDR verbotenen Roman Stefan Heyms 5 Tage im Juni: „Wir verurteilten parteilich-beckmesserisch. Wir legten nicht die Elle unserer eigenen Erfahrungen aus dem Jahre 1953 an, sondern maßen einen Roman an einem festgeronnenen Geschichtsbild.“ Dem Kapitel über den VIII. SED-Parteitag läßt Benser eine Schilderung folgen, wie er selbst an einer von Hermann Axen geleiteten Arbeitsgruppe beteiligt war, die die von Honecker verkündete „Abgrenzung“ theoretisch begründen sollte, und kommt zu dem Schluß: „Natürlich habe ich mich zu fragen, welche Rolle ich beim Ausargumentieren und Verbreiten der Zwei-Nationen-Theorie spielte, einer Theorie, die keinen Bestand hatte, weil sie einen Versuch darstellte, die Wirklichkeit an die Politik anzupassen.“

Ein ebenso differenziertes wie stimmungs- und faktenreiches Bild gibt Benser über den DDR-Alltag in den 70er und anfänglichen 80er Jahren: die Ernährungs- und Liebesgewohnheiten, das Brigade-, Kultur- und Datschenwesen, die Vorzüge und Probleme gesundheitlicher Betreuung, wobei er auch kritisch vermerkt, daß zu „den unverzeihlichen Defiziten des Gesundheits- und Sozialwesens ... die mangelnde Sorge um die körperlich, mehr noch um die geistig Behinderten“ gehörte. Das habe seine Ursache nicht nur in begrenzten materiellen Möglichkeiten gehabt, „sondern es stand auch eine Ideologie dahinter, wenn diese Pflegebedürftigen lieber der Fürsorge karitativer Einrichtungen der Kirche überantwortet wurden“. Aufschlußreich, was Benser über „die andere DDR“ schreibt. Darüber, wie „die eigentlich bewegenden Probleme dieses Landes vom Rande der Gesellschaft her und gegen die politisch Herrschenden thematisiert wurden“, wobei er vor allem auf das Wirken von Robert Havemann, Stefan Heym und Wolf Biermann eingeht. In diesem Zusammenhang gibt er seine Eindrücke von einer der Auswertung des IX. Parteitages dienenden Konferenz mit Kurt Hager wieder, auf der Hager darauf zu sprechen kam, daß diese Regimekritiker die Machtverhältnisse der DDR in Frage stellen wollten. „Er und wohl alle Konferenzteilnehmer wollten sich nur nicht eingestehen, daß die DDR ohne das Aufgreifen berechtigter Kritiken, ohne nachhaltige Korrekturen und ohne Abbau der Allmacht der SED und ihrer Politbürokratie auf Dauer erst recht in Frage gestellt wurde.“

In den abschließenden Kapiteln erleben wir noch einmal den Niedergang der DDR, die wachsende Hilfs- und schließlich gänzliche Sprachlosigkeit ihrer Führung mit; die Ablösung Honeckers, die „Grenzöffnung per Indiskretion“, die in der DDR-Geschichte einzigartige Protestkundgebung vom 4. November 1989, die Bürgerbewegung, aber auch die wachsende Rebellion in der SED-Basis - bis hinein an das Institut für Marxismus-Leninismus, zu dessen Direktor Professor Dr. Günter Benser am 21. Dezember 1989 gewählt wurde und das sich bald darauf in „Institut zur Geschichte der Arbeiterbewegung“ umbenannte und mit veränderter Zielstellung sowie wesentlich verkleinert bis zu seiner „Abwicklung“ im März 1992 bestand. Sicher kann man dem Autor zustimmen, wenn er hinsichtlich des Beitritts der DDR zur BRD und dessen Folgen für das Leben der Ostdeutschen schreibt: „Zurück in die Vergangenheit der DDR will allenfalls eine verschwindende Minderheit, und auch diese hat sich bereits an viele Annehmlichkeiten des neuen Lebens gewöhnt.“ Jedenfalls seien die neuen Bundesbürger gut beraten, „wenn sie sich nicht wie Kolonialisierte demoralisieren lassen, sondern sich vielmehr bewußtmachen, daß sie ihren westdeutschen Zeitgenossen dreierlei voraus haben“. Nämlich erstens: die „unmittelbare Erfahrung eines demokratischen Umbruchs“. Zweitens: Daß sie „zwei deutsche Gesellschaftssysteme erlebt haben bzw. erleben und zu vergleichen vermögen“. Und daß sie drittens „gezwungen wurden, sich in unerhörtem Tempo in radikal veränderten Verhältnissen zurechtzufinden und eine enorme Lernfähigkeit entwickeln mußten“.

Ein ausführliches Personenverzeichnis sowie ein vor allem für nicht aus der DDR stammende Leser wichtiges Abkürzungsverzeichnis runden dieses gelungene Geschichtsbuch ab, das mit seiner Sichtweise und der populären Art der Darstellung, nicht nur für Historiker, sondern für ein breites Publikum von Interesse sein dürfte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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