Eine Rezension von Ursula Reinhold


Idylle mit Mauerblick

Helga Schütz: Grenze zum gestrigen Tag
Roman.

Aufbau-Verlag, Berlin 2000, 303 S.

 

Helga Schütz hat neben ihren Arbeiten für den Film ein inzwischen umfangreiches Erzählwerk geschaffen (u. a. Vorgeschichte oder schöne Gegend Probstein, 1971; Das Erdbeben bei Sangerhausen, 1972; Jette in Dresden, 1977; Julia oder Erziehung zum Chorgesang, 1980; In Annas Namen, 1986; Vom Glanz der Elbe, 1995). Auch der jetzt vorliegende Roman folgt dem über Jahrzehnte ausgebildeten, bewährten Strukturgesetz, nach dem aus autobiographisch geprägten individuellen und Familienerfahrungen eine im Alltäglichen verankerte Prosa geformt wird, in der symptomatisch Weltzustände aufscheinen. Grenze zum gestrigen Tag ist zuallererst der Roman einer Frau, ihres Lebensmilieus und ihrer Familie, bestehend aus Sohn, behinderter Tochter und Lebenspartner. Das Leben im Haus mit Garten, vielen Kräutern und Blumen, mit Enten, Pferden, Katze und Hund ist beinahe eine Idylle, wäre nicht die Grenze in der Nähe, die durch den Glienicker See verläuft und auf ihrer Uferseite scharf bewacht wird. Beton, Stacheldraht, Wachhunde und Grenzsoldaten gehören ebenso zum Alltag wie die Tatsache, daß nur noch selten Besuch empfangen wird, weil dafür ein Passierschein nötig ist, und wie die trickreiche Beschaffung eines Schweizer Medikaments für die unter Absencen leidende Betty. Vor diesem Hintergrund inszeniert Schütz eine Familienzeit am See mit ihren alltäglichen Pflichten und Lasten, mit der ständigen Sorge um das behinderte Kind, aber auch mit viel Behaglichkeit und Gemächlichkeit, die sich hingebungsvoll den Tieren und Pflanzen widmet. Aus Kindern, Eltern, Mann, Frau, Tier und Garten läßt die Autorin eine Familienzeit entstehen, die ganz in der Privatheit lebt, aus der die Beteiligten das öffentliche Leben weitgehend fernzuhalten entschlossen sind. Es entsteht eine beinahe archaische Lebensoberfläche mit ländlichen Gefühlsgehegen, wie sie wohl nur in intellektuellen Nischen der DDR-Gesellschaft gelebt werden konnte.

Zumindest die Ich-Erzählerin und Protagonistin sucht eine mentale Mauer gegen alle Zwänge und Bedrohungen aufzurichten, führt ein Leben zwischen Überforderung und Glück, zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Diese Mutterfigur bildet das Zentrum des Familienlebens. Sie wird von der Autorin mit unendlicher Hingabe an die Belange der Familie, mit tiefem Vertrauen zum Lebenspartner, mit der schier unbegrenzten Zuversicht ausgestattet ist, daß alles gutgehen möge. Hartnäckig verschließt sie die Augen davor, daß der Lebenspartner längst eigene Wege geht. Mit Energie, Tatkraft und Ignoranz schützt sie sich vor der Einsicht in den wirklichen Zustand der behinderten Tochter. Erst der Tod des Kindes und die Tatsache, daß der Lebensgefährte wegen einer Stellungnahme zur Biermann-Ausbürgerung nicht in die DDR zurückkehren kann und nicht einmal zur Beerdigung des Kindes erscheint, lassen sie vor einem Scherbenhaufen stehen. Das Familienglück ist zerstört, aber die Erzählerin vermittelt unerschütterlich ihren festen Glauben an das Familienglück, obwohl es längst zerstört ist.

Die Autorin läßt so bei der Erzählerin eine Art nachgetragener Unschuld entstehen, die die Spannung zwischen gelebtem Familienalltag und der Anstrengung, die Zumutungen des öffentlichen Lebens zu verdrängen, zum konstitutiven Moment des Erzählens macht. Allerdings bleibt ihre lebensintensive Mutterfigur im Zentrum eine Sympathieträgerin bei der Lektüre, der auch die alltägliche Lebenslüge, mit der sie ihr Dasein bewältigt, keinen Abbruch tut. Schütz handhabt auch hier ein sehr anschauliches, vom konkreten Gegenstand ausgehendes Erzählen, das keine andere Wahrheit als die des jeweiligen Augenblicks gelten läßt. Den Begriff dazu muß sich der Leser selbst bilden. Schon der Romananfang, der den morgendlichen Kampf mit dem Ofen und der Asche schildert, eröffnet solchen Erzählton, der, vom konkreten Detail ausgehend, die innere Welt der Figuren ausleuchtet und dabei assoziationsreich und poetisch nicht nur einen individuellen, sondern stets auch gesellschaftlichen Zustand zur Sprache bringt. Das Erzählen beläßt die Dinge zwischen Ironie und Pathos, spiegelt eine Lebenssituation zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Charakteristisch die kleine Episode, als sich eines Tages der buntgefiederte Erpel über die Grenze davonmacht. „Hiergeblieben, rufe ich leise, und zur Ente sage ich: Siehst du, du Dumme. Das ist deine Schuld. Dann stürze ich zum Telefon. Beschimpfe die Futter- und Kleintierhandlung in Schönwalde. Sie hätte mir einen Flieger angedreht. Er sei unter meinen Augen über die Mauer nach dem Westen abgehauen. Ich habe für meine gute, schüchterne Ente einen seßhaften Erpel anschaffen wollen. Mein Zorn steigt direkt aus meinem gepreßten Herzen. Es drängt sich so vieles zusammen. Bettys Husten. Der ewige Beton. Die Asche jeden Morgen im Keller. Hugos Ignoranz in den vergangenen Wochen. Er kümmert sich nur noch um die Oper und den Krieg in Vietnam. Er hatte nicht einmal Zeit zum Entenfotografieren.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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