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Karl Eh

„Dies ist das Niederdrückendste“

Theodor Fontane - Moritz Lazarus
Eine tragisch endende Freundschaft

 

Ein notwendiges Vorwort

Der Leser wird sich wahrscheinlich fragen, so wie sich der Autor auch: Ist es angebracht und opportun im Sinne der „political correctness“, dieses Thema zu behandeln, ein Thema, das nicht ohne „gefährliche Klippen“ und „Fallstricke“ ist? Da ist vor allem die Tatsache, daß Moritz Lazarus ein Jude war, der als Mitbegründer der Wissenschaft von der Völkerpsychologie hohes wissenschaftliches Ansehen genoß und der in der Jüdischen Gemeinde Berlin und in Europa an hervorragender Stelle tätig war.

Die Tatsachen sind der Grund für dieses Vorwort. Der Autor will darlegen, und er hofft, die Arbeit selbst wird es auch zeigen, was deutlich gemacht werden soll:

- eine mehr als vier Jahrzehnte währende Freundschaft, die zwei nicht unbedeutende Männer in gegenseitiger Achtung verbindet

- das Scheitern des Freundes Lazarus als Verwalter von Vermögen, die ihm von Freunden anvertraut wurden, und als Unternehmer risikoreicher Investitionen

- den durch d i e s e s V e r h a l t e n verursachten Bruch der Freundschaft und

- den bedrückenden „Nachhall“ in den „Erinnerungen“ des Moritz Lazarus.

Moritz Lazarus - ursprünglich Moses - wurde am 15. September 1824 in Filehne, einer Kleinstadt in Posten, geboren.1

Er stammte aus einer angesehenen Kaufmannsfamilie. Der Vater unterrichtete den Sohn in der Bibel und im Talmud; er wird ihm als Redner zum Vorbild. Als 16jähriger tritt Moritz in ein Kolonialwarengeschäft einer befreundeten Familie ein. Mit 19 Jahren erhält er ein Stipendium, das es ihm ermöglicht, seine Gymnasialausbildung in Braunschweig nachzuholen. Seit dem Winter 1847 studiert Lazarus in Berlin. Moritz wird von der Familie Lebenheim aus Filehne unterstützt. Die fünf Jahre ältere Tochter Sara(h) dieser Familie wird er am 13. Mai 1850 heiraten. Zuvor hatte er an der philosophischen Fakultät der Universität Halle ein Doktordiplom erworben.2

Im Jahr 1851 veröffentlichte Lazarus seine Abhandlung „Über den Begriff und die Möglichkeiten einer Völkerpsychologie“.3 Zu dieser Zeit lehrte in Berlin der Sprachwissenschaftler Carl Ludwig Heyse. Der brachte Lazarus mit Heymann Steinthal zusammen. Gemeinsam gründeten sie die „Zeitschrift für Völkerpsychologie“.4 Die beiden Freunde gelten in der Wissenschaft als die Begründer der Völkerpsychologie.

Paul Heyse berichtet von den Aufenthalten der beiden jungen Wissenschaftler im Hause seiner Eltern.5

Lazarus schreibt später, er sei nie als Privatdozent tätig gewesen.6 Aber durch seine wissenschaftlichen Arbeiten wurde er weiten Kreisen bekannt. Deswegen beschloß man 1859 in Bern, ihm eine Professur für Völkerpsychologie anzutragen. Lazarus nahm das Angebot an. So lehrte er denn vom Wintersemester 1859 bis 1862 als Honorarprofessor, von 1862 bis 1866 als Ordinarius für Psychologie und Völkerpsychologie. Er war Dekan der philosophischen Fakultät, 1864 gleichzeitig Rektor der Universität Bern. Seine Vorlesungen hatten großen Erfolg bei Hörern aus fast allen Fakultäten, aus der Regierung und den Gesandtschaften. Der württembergische Gesandte in Bern, Carl Friedrich von Spitzemberg, und seine Gattin Hildegard gehörten zu seinen treuesten Hörern, auch noch 10 Jahre später in Berlin.7 Hildegard von Spitzemberg, die vertraute Freundin Bismarcks, berichtet davon in ihrem berühmt gewordenen Tagebuch. Sie schildert auch, welch begeisternder Redner Lazarus war.

Als Frau Lazarus ein nicht unbeträchtliches Vermögen geerbt hatte, beschloß das Ehepaar 1866, Bern zu verlassen. Später sollte Lazarus sich erinnern: „Die Berner Zeit war doch der Lichtpunkt meines Lebens.“8 Denn in Deutschland hat der jüdische Gelehrte keine Professur übertragen bekommen. Ungewöhlich war es dann, daß er als Dozent an die Kriegsakademie in Berlin berufen wurde.9 Dort las er von 1868 bis 1872, auch wieder mit außergewöhnlichem Erfolg.10 1872 setzte der reaktionäre „christlich-germanische“ General von Ollech das Fach Philosophie vom Lehrplan der Kriegsakademie ab.11 Das von Lazarus angestrebte Ziel, eine ordentliche Universitätsprofessur zu erhalten, erreichte er nie.

In Berlin, wie vordem in Bern, führte Lazarus ein großes Haus. So gab dort Clara Schumann einmal ein Klavierkonzert. Als Gäste seiner Gesellschaften werden genannt hohe Offiziere, Kollegen und Studenten der Kriegsakademie, Gesandte, Professoren, Dichter und Kritiker genannt. Über die Zusammensetzung der Gäste berichtet Hildegard von Spitzemberg stets sehr ausführlich, teilweise nicht ganz unkritisch in ihrem bereits erwähnten Tagebuch.

Am 23. Oktober 1870 richtet Lazarus einen Brief an den Bundespräsidenten der Schweiz, Dubs. Er trägt diesem die Bitte vor, Schreiben an den französischen Justizminister Crémieux weiterzuleiten, in denen er den ihm bekannten Politiker bittet, sich für die Freilassung des gefangenen Fontane einzusetzen.12 „Herr Theodor Fontane von hier, als lyrischer Dichter vorzugsweise durch seine Schottischen Balladen bekannt, steht mir seit 18 Jahren als Mitglied unseres literarischen Wochenkränzchens (das den edlen Namen ,Rütli‘ trägt) sehr nahe. Wenn ich meinen sechsjährigen Aufenthalt in der Schweiz abrechne, habe ich ihn - mit wenigen Ausnahmen - 12 Jahre lang jede Woche einmal gesehen ...“13 Daraus ergibt sich, daß Lazarus im Jahr 1852 mit Fontane bekannt geworden ist, dem Jahr, in dem das „Rütli“ gegründet wurde. Mitglied des „Tunnels über der Spree“ wurde Lazarus aber erst 1857. Getroffen haben sich beide am häufigsten in den Sitzungen dieser Vereinigungen. Dankbar spricht Fontane in einem Brief an Lazarus vom 14. 9. 1894 von dessen „... Eintreten für mich in meinen Gefangenschaftstagen oder Ihr mich so vielfach förderndes Wort in beinahe 1000 Rütlisitzungen ...“14

Aber nicht nur persönlich trafen sich die beiden „Rütlionen“. Immerhin sind auch 69 Briefe Fontanes an Lazarus bekannt. Davon sind 21 in der Hanser-Ausgabe veröffentlicht. Sie umfassen den Zeitraum von März 1865 bis Januar 1897. Joachim Krüger hat bereits 1984 und 1986 37 Briefe an Lazarus aus dem Zeitraum 1874 bis 1894 veröffentlicht.

Der Briefwechsel und damit die Verbindung zwischen beiden überdauerte das „Rütli“. Viele der Briefe enthalten nur Mitteilungen über Tagungstermine und -orte sowie Entschuldigungen wegen verhinderter Teilnahme. Aber zu Fragen der Kunst, der Dichtung, der Philosophie äußert sich der Dichter in diesen Mitteilungen auch.

Lazarus war an der Gründung der Deutschen Schiller-Stiftung beteiligt gewesen. Für die Arbeit in der Berliner Zweigstelle - sie wurde in Fontanes Wohnung gegründet - konnte Lazarus auch Freunde aus dem „Rütli“ gewinnen. Deswegen wurden oft auch Gesuche bedürftiger Schriftsteller mitgeteilt, die dann gelegentlich in einer „Rütli“-Sitzung behandelt wurden.15

Die Briefe illustrieren den freundschaftlichen Verkehr und die Tatsache, daß auch die beiden Ehefrauen daran teilhatten. So dankt Fontane am 7. Januar 1892 brieflich „für die überaus gütigen Zeilen von Frau Gemahlin, die mich gerührt hatten“.16

Das Wohlergehen der Familienmitglieder wird behandelt, und teilnahmsvoll meldet sich Fontane, als er in der „Vossischen Zeitung“ am 28. Oktober las, daß Lazarus einen Unfall erlitten hatte.

In „Rütli“-Sitzungen diskutierte Probleme klangen in Fontane nach, und öfter schreibt er dann an Lazarus die Ergebnisse weiteren Nachdenkens. Offen äußert sich Fontane auch über den Mißerfolg, den der gemeinsame Freund Paul Heyse mit seinem Stück „Weltuntergang“ am Berliner Hoftheater hatte. In dem kritischen Urteil heißt es:

„Ein totaler Mißerfolg. Aber wie kann man auch! Das kommt davon, wenn man mit 18 fertig ist und kein Wort der Kritik ertragen kann.“17

Bemerkenswert, weil hier nicht nur der Freund und Theaterkritiker spricht, sondern auch der Dichter, dessen Lebenswerk, im Gegensatz zu Heyses Frühreife, „die Geschichte einer Verspätung“ war.

Genauso offen im Ton, aber viel schärfer ist ein Brief vom 21. Februar 1889 an Lazarus gehalten. Fontane verteidigt die Schauspielerin und Bühnenautorin Elise Schmidt, die, wie Fontane schreibt, „eine Berliner Berühmtheit“ war. Er erregt sich über Stellungnahmen zum Unterstützungsgesuch:

„... und nun kommen diese Urphilister und reiten den höheren Sittlichkeitsgaul. Wenn ich sowas lese, möchte ich immer gleich nach Sodom ziehn.“18

Um Rat bittend, wendet sich Fontane vertrauensvoll an Lazarus. Bei der Druckkorrektur seines autobiographischen Romans Meine Kinderjahre ist er nicht sicher, ob die Aufforderung, mit der ihn der Direktor des Gymnasiums empfängt, mit „nun mi filli laß uns sehn“ korrekt wiedergegeben sei. Deswegen fragt er bei Lazarus an:

„Ist das die richtige Vokativbildung? Bin ich so zu sagen der richtige Vokativus? Über Mi habe ich mich beruhigt, aber fili macht mir noch Sorge ... Bitte schicken Sie mir eine Karte mit der richtigen Anrede ...“19

Offen bekennt sich Fontane zu seiner Unsicherheit im Lateinischen. Damit begründet er, wie es im Kommentar zu diesem Brief heißt, „auch seine Absage an Erich Schmidt, der ihn 1896 zur Einweihungsfeier des Goethe-Schiller-Archiv nach Weimar eingeladen hatte“.20

„Con el corazon en la mano“, mit dem Herzen auf der Hand, bezeichnen die Spanier eine solch vertrauensvolle, redliche und offene Art, in der sich Fontane an Lazarus gewandt hatte. Wir werden noch sehen, daß es besser gewesen wäre, er hätte das nicht getan.

Lazarus hat als Wissenschaftler und Völkerpsychologe auf Fontane einen gewissen Ein fluß ausgeübt. Die aus den Diskussionen im Freundeskreis gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse und Einblicke dürften dazu beigetragen haben, daß dieser leichtfertige und vorschnelle Urteile über andere Völker zu vermeiden bemüht war.21

Die Baronin von Spitzemberg zählt in ihrem Tagebuch „die interressanten Leute“ auf, denen sie in der Gesellschaft immer begegnete. Fontane findet man darunter nicht.

Unter dem 18. Mai erwähnt sie, daß bei Lazarus „auch Paul Heyse mit seiner schönen jungen Frau“ zugegen war. Und wieder kein Wort von Fontane! Aber dessen Tagebuch ist zu entnehmen, daß er mit seiner Gattin auch da war. Er vermerkt: „Wir sahen das junge Paar zuerst bei Hertz, dann bei uns, dann bei Lazarus.“22 Von einer anderen Gesellschaft bei Lazarus notiert Fontane im Tagebuch unter dem 23. März 1881: „Sehr angenehmer Abend.“23

Das Zusammensein mit Lazarus schätzte also Fontane sehr. Als er einer Einladung zu einem „Heyse-Diner“ nicht Folge leisten kann, schreibt er bedauernd: „Wenn ich der wäre, der ich sein müßte, so hätte mir nichts Lieberes passieren können, als ein Tischgeplauder mit Ihnen u. unserem Lieben Freunde.“24

Wie Fontane Moritz Lazarus schätzt - bei der Zurückhaltung Fontanes in solchem Punkt zögert man zu sagen: verehrt -, zeigt er in dem an seine Frau gerichteten Brief vom 12.Juni 1878. Er vergleicht sich mit einigen unter den Freunden: „Du weißt recht gut, daß ich mit alleiniger Ausnahme von Lazarus (und gerade über den habe ich mich nie zu beschweren) den andern an Wissen, Esprit und Gedanken überlegen bin ...“25 Gleichsam als Bekenntnis zu Lazarus kann man den Brief betrachten. Er erkennt an, daß Lazarus ihm wohl „über“ sei. Mit weiteren Zitaten aus Briefen soll noch aufgezeigt werden, wie Fontane zu Lazarus stand. Sie belegen auch die Achtung, die er diesem bezeugte, und die freundschaftliche Verbundenheit. Am 20. April 1881 schreibt der „vorsichtige Fontane“ an Bernhard von Lepel:

„Die Rütli-Debatte unterblieb, ich darf jetzt hinzusetzen: glücklicherweise. Ich hätte natürlich die Kastanien aus dem Feuer holen müssen - andre Finger geben sich dazu nicht her- und hätte mich gründlich verbrannt und meine freundschaftlichen Beziehungen zu Lazarus, die mir lieb und werth sind, in Frage gestellt. Haben wir einen christlichen Staat, so habe ich Recht, haben wir blos einen ,Staat‘, so hat Lazarus Recht.“26

In einem an Karl Frenzel gerichteten Brief vom 5. Januar 1890 ist zu lesen:

„Sie, Wichert, Goßler - ,die Woche fängt gut an‘, so gingen meine Gedanken, und der Abend hat mich auch nicht voll widerlegt. Aber freilich, die Episoden Lazarus und Heyden waren bitter für mich, denn ich liebe beide und bin beiden zu vielem Dank verpflichtet.“27

Hier soll aber Inge Belkes - sie ist die Verfasserin des Werkes Moritz Lazarus und Heymann Steinthal die Begründer der Völkerpsychologie in ihren Briefen - Urteil angeführt werden. Nach ihrer Auffassung war die Beziehung zwischen Lazarus und Fontane von Anfang an „etwas ambivalent“.28

Ambivalent könnte Fontanes Verhalten gewesen sein, als er Paul Heyse über Lazarus mitteilt: „Er hat in östreich: Papieren ziemlich bedeutend verloren.“29

Durch die Lebensart seines Vaters und seines Onkel August war Fontane durch leidvolle Erfahrungen in jungen Jahren in Gelddingen überaus sensibilisiert. Daß das an Onkel Augusts Biographie gemahnende Ungeordnete den „zum Verantwortungsbewußtsein Gereiften“ auch bei der Abfassung seiner Lebensläufe beeindruckt hat, darauf weist Christa Schultze in der Einleitung zu dem von ihr herausgegebenen Briefwechsel Fontane/Wolfsohn hin.30 Fontane wird selbst viele Jahre später noch von seiner „grenzenlosen Verachtung solcher elenden Wirtschaft“ sprechen.31

Zu seinen besten damals in Berlin verlebten Stunden zählt Fontane die im Kuglerschen Hause, von dem er einen Spötter sagen läßt, man beurteile dort „die Menschen lediglich im Hinblick darauf, ob sie schon einen Band Gedichte herausgegeben hätten, oder nicht“.32

Zu dieser „Kugler-Gruppe“, die sich unabhängig vom „Tunnel über der Spree“ und dem „Rütli“ zusammenfand, gehörte Lazarus wohl nicht.33 Er suchte aber den Kontakt zu Franz Kugler nicht nur im „Rütli“. Nicht ohne Absicht fragte er Paul Heyse: „Ob es Dir bekannt ist, daß ich jetzt öfters mit ihm zusammen komme?“34 Folgt man hier Belke, so ist deutlich erkennbar „Lazarus’ Bedürfnis nach Freundschaft, nach vielseitiger Inanspruchnahme und Anerkennung“.

Die Bekanntschaft aus dem „Rütli“ und die Freundschaft mit Paul Heyse waren für dessen Mutter Julie wohl der Grund dafür, daß sie mit ihrem Testament vom 9. Mai 1864 Moritz Lazarus zum Vormund ihres der Hilfe bedürftigen Sohnes Ernst Hermann benannte.35 Auch für den geliebten Freund Paul wurde Lazarus tätig. Nach dem Tode von dessen erster Frau Margarete (30. 8. 1862) und der Auflösung des Haushaltes der verstorbenen Mutter (27. 10. 1864) wurde er sein juristischer Berater und Vermögensverwalter.36 Vertrauensvoll überließ Heyse ihm unbefristet Gelder und die Verwaltung seines nicht unbedeutenden Vermögens. Das hatte sich schon Jahre zuvor angebahnt, denn im Dezember 1856 hatte Lazarus ihm geschrieben: „Soll ich Dich um Verzeihung bitten, daß mein Rath den Anschein erweckt, als ob ich Dir nicht volle Geschäftsweisheit zutraue? Aber bist Du nicht der Dichter?“37

Aus der Benachteiligung in seiner wissenschaftlichen Karriere zog Lazarus die Konsequenz, auf dem Grundstücksmarkt tätig zu werden. Er tat auch dies sehr intensiv und hatte zunächst Erfolg, so daß er den Aufbau eines beachtlichen Grundvermögens in Leipzig erreichte.38 Das wurde nicht unkritisch verfolgt. Bruno Hildebrand (Professor der National-Ökonomie und Vater des berühmten Bildhauers) - er verhandelte seinerzeit mit Lazarus über die Berufung nach Bern - äußerte sich gegenüber seinem Sohn, als dieser ablehnte, von Lazarus einen Auftrag anzunehmen: „Daß Du den reichen Wohnungsverleiher Lazarus hast ablaufen lassen, hat mich gefreut. Ohnedies macht sich das Capital-Parvenüthum mit seinem Börsenschwindel so breit ...“39

Die Grundstücksgeschäfte und riskante „Geldmanipulationen“ führten zur Entfremdung zwischen Paul Heyse und Moritz Lazarus. Belke führt dazu aus: „Die Ursache der Entfremdung, die nur vage angedeutet wurde, soll hier erstmals offen dargelegt werden.“40

Wenn wir kurz den Vorgang darstellen, dann geschieht es in erster Linie, um die spätere Reaktion Fontanes verständlich zu machen.

Heyse hatte, wie er sagt, Lazarus „die Geschäfte“ überlassen. Er gestand, „er verstehe gerade das Einmaleins“, und er hatte stets gemeint, daß sein Geld und seine Wertpapiere bei einer Bank lägen. Er hatte nicht begriffen, daß „Lazarus das gesamte beträchtliche Vermögen für seine eigenen Hauskäufe nutzte und infolge eines ständigen Mangels an Betriebskapital bis an die Grenze der Legalität gegangen war“.41 Wie sollte er aber auch zweifeln, hatte ihm doch Lazarus im Januar 1867 geschrieben: „... Dein Capital so anzulegen, daß es einen noch besseren Nutzen trägt, selbstverständlich nicht im Sinne irgendeiner Spekulation, denn die Sicherheit des Bestandes bleibt die Sorge allererster Rücksicht.“42

Gustav Getz, ein Jugendfreund Heyses, der Rechtsanwalt in Frankfurt war, wurde nach einem Gespräch über ein Wertpapiergeschäft mißtrauisch. Nachforschungen ergaben, daß Lazarus, hoffend auf die Krisenfestigkeit und mögliche Wertsteigerungen, seinen großen Grundbesitz in Leipzig „mit dem nicht geringen Vermögen von Paul Heyse, mit dem kleinen Kapital, das die Witwe des Schriftstellers Hermann Kurz dem befreundeten Paul Heyse übergeben hatte, mit Mündelgeldern, wahrscheinlich auch mit dem Vermögen des Jugendfreundes Eduard Rese“ vergrößerte.43 Getz klärte Heyse über die Vorgänge auf. Er zog in dem an ihn gerichteten Brief vom 18. Nov. 1884 sein Resümee mit dem Urteil: „Das nenne ich speculiren und sehr riskirt speculiren.“44

Die Rechtsanwälte Heyses machten Lazarus sogar den Vorwurf kriminellen Handelns, worauf dieser erwiderte, er habe sämtliche Effekten zur freien Verfügung gehabt und bona fide gehandelt.45 Wie sehr aber hatte sich Lazarus von dem entfernt, was er Heyse am 2. Jan. 1867 geschrieben hatte: „Ich werde an dem gegenwärtigen Zustand nichts ändern, ohne vorher Deine Zustimmung einzuholen, denn plein pouvoir zu besitzen ist zwar sehr schön, aber keinen Gebrauch davon zu machen ist noch viel schöner.“46

Heyse hatte seine Rechtsanwälte beauftragt, von dem Vermögen „so viel zu retten, wie noch eben möglich war, ohne daß Lazarus der Gefahr ausgesetzt würde, strafrechtlich verfolgt zu werden“.47

Das alles beobachtet Fontane. Doch er hielt still. Er handelte zunächst wohl ähnlich wie im Fall des Paul Lindau, dem Herausgeber der GEGENWART, der ein „Starkritiker“ (Roland Berbig) war. „Fontane“, so Berbig, „zeigte wenig Lust und Neigung, sich am Kesseltreiben zu beteiligen, das 1890 gegen Lindau begann.“48 Vorsichtig und zurückhaltend war Fontane in solchen Fällen mit seinem Urteil, auch wenn für seine Tätigkeit als Kritiker genauso wie für seine ganze Lebenshaltung sein Wort galt: „Schlecht ist schlecht, und es muß gesagt werden.“49 Die anfängliche Haltung Fontanes skizziert Belke wie folgt: „... der alte Skeptiker schenkte zwar Heyse sein Vertrauen, war aber doch wohl nicht ganz unbeeinflußt geblieben von der beschönigenden Darstellung, die Lazarus in Berliner Kreisen über diesen Konflikt verbreitete.“50

So dauerte es bin in den Juli 1896, neun Jahre nachdem Heyse mit Lazarus gebrochen hatte, bis auch in Fontane der Entschluß zum Abbruch der Beziehungen reifte. Wie wir aus seinem Brief vom 7. Juli 1896 an Heyse wissen, erhielt Fontane Informationen von Oberst Eduard Rese. Der war seit der gemeinsamen Gymnasiasten- und Studentenzeit Lazarus’ enger Freund. Das für ihn reservierte „Resestübchen“ war ihm oft Wohnung in Schönefeld.51

Fontane machte Heyse gegenüber aber nur eine vorsichtige Andeutung. Man kann jedoch auf zwei Tatsachen schließen:

- daß Rese früher einmal Fontane nicht glauben wollte, als dieser „für Heyse war“, d. h. wohl, als Fontane Rese gegenüber die Version Heyses über die Verfehlungen von Lazarus vertrat. Fontane berichtet Reses Worte: „Ich muß etwas gut machen. Sie waren damals für Heyse, was mir mißfiel; sie haben aber Recht gehabt.“52

- daß auch Rese von Lazarus geschädigt wurde.

Die Schädigung Reses wird deutlich aus dem Brief Fontanes an Georg Friedländer vom 8.April 1897, also fast ein Jahr nach dem genannten Brief an Heyse.

„... was ich seit der Heyse Affaire, von der ich Ihnen wohl erzählt, immer gefürchtet habe, das hat sich nun grausam bestätigt und zwar durch Mittheilungen des alten Obersten Rese, der durch 50 Jahre hin Lazarus intimster Freund gewesen ist. (Reeses Mittheilungen beziehen sich aber nicht auf Heyse, sondern auf viel Grauslicheres, was er selber mit Lazarus erlebt hat).“53

Hier wird Fontane nun konkreter als im Brief an Heyse. Unter dem „Grauslichen“, das er erfuhr, ist die Schädigung Reses zu verstehen. Diese Erkenntnis wird für den „vorsichtigen Fontane“ nun das auslösende Moment. Erst als die Mitteilung Reses ihm das ganze Ausmaß der Affäre zeigte und Fontane erkannte, daß nicht nur der wohlhabende Heyse geschädigt worden war, erst dann war die Freundschaft mit Lazarus für ihn zerbrochen.

In dem Brief an Friedländer äußert sich Fontane in bösen Worten zunächst über jüdische Bekannte und in einem unnachsichtigen, ja bösartigen Ton über Lazarus selbst. Aber unmittelbar davor ist über den auch zu lesen: „Sie wissen, wie sehr ich an diesem gehangen, wie große Stücke ich von ihm gehalten habe. Das ist nun alles hin ...“

Wie hätte der Dichter bei aller Ambivalenz und Kritik sein Verhältnis zu Lazarus besser zeichnen können? Er sagt, er habe „an diesem gehangen“. Der Meister des Wortes wußte doch sehr wohl, was er damit ausdrückte. Jemandem anhängen, das will doch heißen, daß man eine besonders starke, eine innige, gefühlsbetonte Beziehung zu dieser Person hat.

Fontane war 77 Jahre alt, 45 Jahre kannte er Lazarus, als er am 5. Jan. 1897 den letzten Brief an diesen schrieb, einen Dank für erhaltene Glückwünsche zum Geburtstag.54 Vergegenwärtigt man sich diese Daten, so wird deutlich, wie tief die Unredlichkeit des Freundes und sein Verhalten den alten Fontane getroffen haben muß. Trauer und Schmerz Fontanes sprechen aus dem Schluß seines Briefes vom 7. Juli an Paul Heyse: „Es ist merkwürdig, was alles in unserem kl. Kreise vorgekommen ist! Dies ist das Niederdrückendste.“55

Nach den bereits erwähnten Jugenderfahrungen erlebte Fontane nun im hohen Alter und nach langen Jahren der Freundschaft, daß einer, dem er „angehangen hatte“, das Vertrauen eines anderen Freundes und anderer nicht sehr Begüterter mißbrauchte, um selbst auf großem Fuße leben und sich einen großen Grundbesitz schaffen zu können. Auch diese Erfahrungen führten zu dem bitterbösen, heftigen Ton im bereits genannten Brief an Friedländer. Fontane behauptete nichts Falsches mit den Worten „... das alles paßt auf Lazarus“. Daß er es aber mit dem Judentum von Lazarus in Verbindung brachte, verallgemeinernd „die Juden“ schrieb, das gab dem Ganzen einen bedenklichen antisemitischen Ton. Wir sollten aber Fontane die Situation, aus der heraus er schrieb, zugute halten und ihn nicht auf Grund einer derart stimmungsgeladenen Schreibhaltung als Judendfeind deklarieren, zumal der Brief an einen jüdischen Altersfreund gerichtet war.

Michael Fleischer gesteht ihm diese Entschuldigung jedoch nicht zu: „Er zieht 1897 die Summe seiner Lebenserfahrung und ist nicht etwa von momentaner Verärgerung über diesen oder jenen Zug menschlicher Schwäche bei seinen jüdischen Bekannten beeinflußt. So fällt er ein pauschales Urteil über einen der ältesten Bekannten und Vertrauten, Moritz Lazarus, den er schon seit den 50er Jahren kennt.“56 Ein pauschales Urteil „fällte“ Fontane keineswegs, denn er beobachtete lang, und er machte sich - wie gezeigt wurde - die Lösung des Freundschaftsverhältnisses nicht leicht! Aber man wird Hans-Heinrich Reuter zustimmen müssen, wenn er feststellt: „Fontane ist an der Judenfrage gescheitert.“57 Freilich, man möchte in der Verehrung des Dichters gern Kenneth Attwood beipflichten, der urteilt: „Wie Dubslav von Stechlin hat Fontane durchaus einen philosemitischen Zug“, aber genauso wie sein Held gehört er „zu denen, die sich immer den Einzelfall ansehen“.58

Hier soll auch noch auf Marcel Reich-Ranicki verwiesen werden, der keinesfalls bereit ist „wegzuschauen“. Das zeigt sein Hinweis: „... in seinen späten Briefen finden sich auch böse, ja gehässige Worte gegen die Juden.“ Abwägend kommt er dann zu dem Schluß: „Aber er war weder Philosemit noch Antisemit. Jede einseitige Betrachtung ist hier falsch, schädlich.“59 In einem Bericht über die Ehrenpromotion der Humboldt-Universität Berlin für Günther de Bruyn ist zu lesen, dieser habe in seiner Rede „Altersbetrachtungen über den alten Fontane“ ausgeführt, „daß die Freude über den späten Fontane nicht mehr ganz so ungeteilt sei wie in früheren Zeiten“.60 Schwingt hier nicht auch Enttäuschung über den Fontane mit, aus dem die Fontane-Forschung und wir alle, seine Verehrer, so wie seinerzeit zu seinem 70. Geburtstag das moderne Berlin, „einen Götzen“ machten, wie er es am 23.Jan. 1890 an Heinrich Jacobi schreibt?61

Und wenn heute das Pendel der Meinungen in die andere Richtung auszuschlagen droht: Ein Judenfeind, ein Judenhasser war Fontane nicht! Das sage ich auch im Hinblick auf Michael Fleischers im Selbstverlag erschienenes Buch Kommen Sie, Cohn.62

Es ist merkwürdig: Am 26. April 1879 schreibt Fontane an Lazarus, daß er ihn am Abend nicht treffen könne, „... denn ich muß einmal wieder ins Theater. ,Constanze‘ von Nahida Remy. Die Dichterin selbst nennt es ,ein Schmerzenskind‘, was mich aber nicht rührt.“63 Der letzte Halbsatz läßt Schlimmes ahnen. Aber die Kritik Fontanes der am 28. April 1879 im Residenztheater erfolgten Aufführung ist durchaus wohlwollend.64

Nahida Remy, später verheiratet mit Lazarus, gab mit Alfred Leicht 1906 nach dem Tode ihres Gatten den Band Moritz Lazarus’ Lebenserinnerungen heraus.65 Nach dem von Alfred Leicht verfaßten Vorwort begann Nahida Remy-Lazarus, Lazarus’ Schülerin, die Lebenserinnerungen niederzuschreiben. Sie habe alles gesammelt und bearbeitet, „was sie aus Gesprächen mit ihrem Lehrer erfuhr, erfragte“. Lazarus hat das von Nahida geordnete Material gekannt, wie es im Vorwort heißt. Er war schließlich einverstanden, „daß das Werk geschaffen werde“.

Zur Arbeit von Nahida und Alfred Leicht formuliert Belke folgende Kritik: „Die beiden Herausgeber, Lazarus’ zweite Frau Nahida Lazarus und Alfred Leicht, ein Schüler von Lazarus, lassen sich sehr von ihrer überschwenglichen Verehrung für den Lehrer leiten und von einer apologetischen Absicht gegenüber jenen, die Lazarus kritisieren.“66 Das sollte ganz besonders, wie wir noch sehen werden, für Fontane gelten.

Besonders kritisieren muß man das Kapitel „Paul Heyse“. Die Autorin gibt eine einseitige, bestimmt auch eine unaufrichtige und unvollständige Darstellung der Affäre. Das von Nahida verfaßte Schlußwort dieses Kapitels wirkt sentimental gestaltet. „Nahida Lazarus hatte über den Abbruch der langjährigen Freundschaft zwischen Heyse und Lazarus den Schleier der Beschönigung und der Selbstbemitleidung gelegt.“ Nahezu vernichtend aber ist der dann von Belke geäußerte Verdacht: „Wahrscheinlich hatte sie (d. i. Nahida, K. Eh) - oder vorher schon Lazarus - entscheidende Briefe an Paul Heyse verbrannt, möglicherweise auch Briefe von Gustav Getz und J. R. Fuld und damals noch vorhandene Bilanzen.“

In der Literatur werden zur Freundschaft Fontane/Lazarus und zu deren Ende nur allgemeine Hinweise auf die Heyse-Affäre und auf die Lebenserinnerungen von Lazarus gemacht. Zu dem dort gezeichneten Bild des ehemaligen Freundes aber wird nichts gesagt. Zu den wenigen, die sich dazu geäußert haben, gehören Hans-Heinrich Reuter und Kurt Schreinert. Reuters Urteil lautet: „Massiver ging Moritz Lazarus in den 1906 erschienenen ,Lebenserinnerungen‘ zu Werke; seine Rache für die ostentative Distanzierung von ihm äußerte sich in menschlichen Verdächtigungen und Schmähung.“67 An anderer Stelle schreibt er: „Lazarus rächte sich dafür in seinen ,Lebenserinnerungen‘ auf unfeine Art an Fontane.“

In einer Anmerkung Kurt Schreinerts zu den von ihm herausgegebenen Briefen an Georg Friedländer ist zu lesen, daß sich Lazarus „in seinen Lebenserinnerungen“ an Fontane „hämisch rächte“, weil dieser sich seit den Eröffnungen Reses von Lazarus zurückgezogen hatte.68

Fleischer geht an zwei Stellen seines genannten Buches auf die Heyse-Affäre ein. Er beschönigt, wie Nahida Lazarus, das Geschehen und kritisiert einseitig Fontanes Verhalten als die „Summe seines Lebensverhalten(s)“, läßt es, wie schon gesagt, „nicht etwa als von momentaner Verärgerung“ beeinflußt gelten.69

Wie mit Fontane in Moritz Lazarus’ Lebenserinnerungen umgegangen wird, soll an einigen Beispielen gezeigt werden. Das zwanzigste Kapitel trägt die Überschrift „Fontane kriegsgefangen“. Sicher dürfte sein, daß es von Nahida Lazarus verfaßt ist, denn einleitend weist sie „auf ein kleines Paket Briefe und Depeschen in meines Mannes Nachlaß“ hin.70 Diese Dokumente zeigen, wie in wirklich umfassender und nachdrücklicher Weise sich Lazarus für den gefangenen Fontane eingesetzt hat. Er nutzte intensiv seine Verbindungen. Von diesen Bemühungen erhielt Fontane Kenntnis, und er hoffte sehr auf ihren Erfolg. Das zeigt die Nachschrift zum Brief an seine Frau vom 1. Nov. 1870 aus Lyon: „Ich wünsche brennend, daß Prof. Lazarus und der Präsident der Schweizer Eidgenossenschaft ihre Bemühungen um meine Freilassung bei Crémieux fortsetzen.“71

Bekanntlich waren das aber nicht die einzigen Interventionen.72 Entscheidend war die Initiative Bismarcks. Ein Brief von Emilie Fontane an Rudolf von Decker vom 1. 11. 1870 zeigt, daß sie von Bismarcks Aktivitäten Kenntnis erhielt.73

Freilich, nicht einmal Fontane sah ganz klar, denn in „Kritische Jahre - Kritiker-Jahre“ gibt er seine Zweifel wieder: „(Wer hatte mich befreit? Die Katholische Partei oder die Judenpartei oder die Regierungspartei?)“74

In „Lazarus’ Erinnerungen“ jedoch wird ein anderer Eindruck erweckt. Wir finden heftige Vorwürfe, weil Fontane den Namen des Freundes, „der sich verbürgt hatte, der sich nicht genug tun konnte in eindringlicher, umsichtiger Weise ihm die Freiheit zu verschaffen“, in seinem Bericht „Kriegsgefangen“ nicht nannte. Dazu habe er in dem nahezu 300 Seiten umfassenden Buche keinen Platz gefunden, und es schließt sich die Frage an: „Wie nahe hätte es gelegen, Lazarus das Buch zu widmen?“ Darauf aber folgt der noch größere Vorwurf: „Das Gefühl der Freundschaft und Dankbarkeit war eben Fontanes Stärke nicht.“75

Ganz sicher wird hier Fontane in mehrfacher Hinsicht Unrecht getan. Er wußte ja, daß von verschiedenen Seiten für seine Freilassung gearbeitet wurde, war sich aber nicht sicher, welche den entscheidenden Erfolg erzielt hatte. Konnte er unter diesen Umständen eine Person durch die Widmung bevorzugen, ja schlimmer, andere dadurch verletzen? Er handelte doch geschickt und richtig dadurch, daß er dem Buch die Widmung gab: „Meinen Freunden dankbar gewidmet“.

Vollends unverständlich wird aber der Vorwurf, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Fontanes zu Lazarus’ Geburtstag am 14. Sept. 1894 geschriebener Brief auf der Feier verlesen wurde, einem großen Kreis also schon lange bekannt war, daß Fontane „Ihr Eintreten für mich in meinen Gefangenschaftstagen“ besonders hervorgehoben hatte. Der Brief wird auch in den „Erinnerungen von Lazarus“ auszugweise abgedruckt. Zuvor aber wird der an Fontane gerichtete Vorwurf wiederholt und er dafür verantwortlich gemacht, daß zum 70.Geburtstag von Lazarus, wie es heißt, „etwas Rütli-Kollektives geplant, aber gescheitert war“.76 Dem Briefauszug folgt dann die völlig überflüssige Bemerkung: „Durch Veröffentlichung des Dankeswortes sei hier ein Teil des von Fontane versäumten nachgeholt.“77

Daß Fontane das Gefühl für Dankbarkeit und Freundschaft nicht gefehlt hat, läßt sich an der großen Zahl derer messen, denen er bis zu ihrem Tode die Freundschaft bewahrte oder die bis zu seinem Ende zu ihm gehalten haben. Und gedankt, das wissen wir aus seinen Briefen, hat er stets formvollendet und in überreichem Maße.

Im Kapitel „Schönefeld“ erfährt man auch von Besuchen des Ehepaares Fontane: „Einige Male. Wenn auch nur für kürzere Zeit, meist auf der Durchreise durch Leipzig machte Theodor Fontane mit seiner Frau einen Abstecher nach dem Tusculum des gelehrten Freundes.“ Aus einem Tagebucheintrag Fontanes läßt sich schließen, daß das Ehepaar Fontane auf der Fahrt nach Kissingen am 16. 6. 1890 eine Unterbrechung der Bahnfahrt zu einem Besuch in Schönefeld nutzte.78 Zwei Tage danach schreibt Fontane dem „Hochverehrten Paar“ seinen „Dank für die schönen Schönefelder Stunden“.79

Im Lazarusbuch aber lesen wir den Vorwurf: „Der Dichter mit jenem von seinen Verehrern und Verwöhnern wenig bemerkten, kaum beachteten, nie kritisierten Goetheschen ,schönen Egoismus‘ schien sehr empfänglich für schrankenlose Gastfreundschaft.“80

Es dürfte nicht stimmen, daß Fontane „einige Male“ in Schönefeld war. Der Dankesbrief vom 18. Juni 1890 zeigt, wie Fontane den Freund erlebt hat:

„In wie vielen Gestalten, theuerster Leibniz, habe ich Sie nun schon gesehen, immer ein anderer, wie der Seruger in Rückerts Makamen, wenn mich eine dunkle Reminiszenz an unter Philipp Wackernagel auswendig gelernte Gedichte nicht täuscht. Philosoph, Redner, Arzt, und nun auch Landwirt und Gärtner.“81

Bemerkenswert muß uns heute erscheinen, daß in der Gewerbeschule Rückerts Gedicht sieben Jahre nach seinem Erscheinen behandelt wurde82, genauso wie die Erinnerung Fontanes daran nach so langer Zeit. In Moritz Lazarus’ Lebenserinnerungen bringt Fontanes Hinweis ihm nur die sarkastische Bemerkung ein: „Naiv ist sein unwillkürliches Bekenntnis, daß er Rückerts Makamen nicht aus eigener Lektüre kennt.“83 Damit aber nicht genug! In einer Fußnote zu dieser Passage heißt es dann noch: „Ein Pendant dazu ist die eines Tages durch Postkarte an Lazarus gerichtete Anfrage, ob der Vocativus ,mi fili‘ richtig sei!“84 Neben einem großen Maß an Taktlosigkeit und Bosheit muß man in diesen Bemerkungen wohl auch einen Mißbrauch des Vertrauens sehen, in dem Fontane sich ratsuchend an Lazarus gewandt hatte. Man fragt sich unwillkürlich, wie hätte der verletzliche und so verletzte Dichter reagiert, hätte man ihn zu Lebzeiten so traktiert?85

Aufschlußreich sind die beiden Kapitel „Tunnel und Ellora“ und „Das Rütli“. Besonders über das „Rütli“ und seine Mitglieder ist viel und Interessantes zu erfahren. Frederick Betz und Jörg Thunecke äußern, daß die dort gezeichneten Porträts sehr aufschlußreich seien.86 Aufschlußreich in welcher Hinsicht? Auf die Bearbeiter und Herausgeber oder im Hinblick auf die Porträtierten?

Noch einmal kommt Nahida Lazarus auf den 70. Geburtstag von Lazarus in diesen Kapiteln zurück. Sie fragt: „Konnte Fontane kein Gedichtchen machen, Menzel kein Bildchen malen, das Rütli keine Statuette, kein Album oder dergleichen stiften? Was tat man denn? Man nöhlte.“ Und wieder haben wir unter dem versteckten Hinweis auf „Nöhl“, den Spitznamen Fontanes, die Sotisse gegen diesen. Dachte Nahida daran, wie ganz anders der 70.Geburtstag Fontanes gefeiert wurde? Sie durfte aber doch nicht übersehen, daß das „Rütli“, wie Fontane später schrieb, praktisch schon „eingeschlafen“ war.

Kann man das Ende des „Rütli“ als ein „Einschlafen“ bezeichnen, wie es Fontane in seinem letzten Brief an Lazarus tat? Ist nicht eher partiell auch von einem gewissen Zerfall zu sprechen, der sich als Konsequenz aus der Heyse-Affäre ergab?

In einem Brief vom 18. September 1894 an Karl Zöllner bezieht sich Fontane auf einen Bericht „aus der guten Vossin“, der offenbar die Geburtstagsfeier für Lazarus betrifft. Fontane hatte den Ablauf vorausgeahnt, denn er schreibt Zöllner: „Mit Lazarus glaube ich recht gehabt zu haben, wenn ich neulich sagte: es wird viele Huldigungen geben, und doch als letztes Enttäuschungen und Bitternisse ...“ Den inzwischen in der gesellschaftlichen Stellung von Lazarus eingetretenen Wandel verdeutlicht Fontane dann mit einer Erinnerung an eine Szene aus dessen Gelehrtenleben:

„Vor 30 Jahren, als er als Vertreter Berns in Wien erschien, umarmte ihn der Rektor der Universität, Prof. Hirth, und küßte ihn vor versammeltem Volk. Dieser Kuß fehlte heute.“87

In den „Lebenserinnerungen“ geht es dann wie folgt weiter: „Lübke, der in seinen Erinnerungen schwärmerisch Fontanes Lob singt, nennt ihn in einem Brief den ,fröhlichen Bösewicht‘, ein Scherzwort, das diesem so gefiel, daß er es selbst zitierte. Die Überlegenheit, mit der er auch die eigenen Schwächen in heiterer Selbsterkenntnis preisgab, zeigt, wie ihm eigentlich alles ,schnuppe‘ war, um fontanisch zu reden.“ Wie sehr heißt das doch, den Fontane zu verkennen, von dem zum Beispiel G. Radbruch sagte:

„Er wird von Gott und göttlichen Dingen
lieber als in großen und heiligen Worten
als im herkömmlichen Bibel- und Kanzelton
in sachlicher Alltagssprache reden,
manchmal sogar in bewußt saloppem Konversationston
nicht aus Mangel an Ehrfurcht,
vielmehr aus Keuschheit der Seele.“88

Und Hans-Heinrich Reuter hat richtig gewarnt: „Man lasse sich nicht täuschen durch den saloppen, ungezwungenen Plauderton dieses Meisters der Unterhaltung.“89

„Sprich menschlich!“ - dieses auch von Fontane mehrfach zitierte Wort aus Shakespeares „König Heinrich IV.“ hat der Fontane-Biograph einem Auswahlband mit Fontanebriefen als Motto vorangestellt.

„Schnuppe“ war Fontane noch lange nichts!

Man muß zu dem Schluß kommen: Eine gerechte Würdigung Fontanes und seiner langjährigen Freundschaft mit Lazarus - nur um die geht es hier - findet man in Moritz Lazarus Lebenserinnerungen nicht. Daran sollte man denken, wenn von dieser Freundschaft gesprochen und auf Moritz Lazarus’ Lebenserinnerungen verwiesen wird.

Anmerkungen

Abkürzungen:
HF = Walter Keitel, Helmut Nürnberger (Hg.), Theodor Fontane, Werke, Schriften und Briefe, München 1976
HF III = Erinnerungen, Ausgewählte Schriften und Kritiken
HF III/4 = Autobiographisches
HF IV /... = Briefe
IB = Ingrid Belke (Hg), Moritz Lazarus und Heymann Steinthal, die Begründer der Völkerpsychologie in ihren Briefen, Tübingen 1971-1986 Band I, Band II (zwei Teilbände)
FBL = Fontane Blätter

1 In seinem Roman Unwiederbringlich wird Fontane eine der Hauptpersonen Ebba Rosenberg von Filehne nennen.

2 Der Autor folgt im wesentlichen Ingrid Belke, im übrigen auch Otto Drude. Fontane und sein Berlin, Insel 1998

3 In der von Robert Preutz neubegründeten Zeitschrift „Deutsches Museum“. Dazu und zu den wissenschaftlichen Publikationen von Lazarus, siehe Drude

4 Drude, S. 197

5 IB I S. 47

6 IB I S. XXCI

7 IB I S. XXIX

8 IB I S. XXII

9 IB I S. XXXVIII

10 Unter seinen Hörern war auch der Kronprinz, der spätere Kaiser Friedrich III., Drude, S. 197

11 IB I S. XXXIX

12 Lazarus war im Jahr 1869 Präsident der israelitischen Synode. Im Winter darauf lernte er in Berlin den Gründer der „Alliance israélite universelle“, Adolphe Crémieux, kennen. Der wurde später in Frankreich Justizminister, Drude, S. 197

13 Nahida Lazarus und Alfred Leicht (Hg.), Moritz Lazarus’ Lebenserinnerungen, Berlin 1906, S. 539

14 HF IV/Nr. 386. Zu 1000 Sitzungen: Berücksichtigt man, daß Lazarus 6 Jahre in der Schweiz lebte, Fontane sich vor der Gefangennahme etwa 3,5 Jahre in England aufhielt und daß auch Urlaubszeiten und sonstige Verhinderungen Besuche unmöglich machten, so dürfte für den Zeitraum 1852-1885, also für 33 Jahre, sich ein Nettozeitraum von etwa 22 Jahren ergeben, in dem sowohl Lazarus als auch Fontane die Teilnahme an „Rütli“-Sitzungen möglich war. Das bedeutet auch, daß in den frühen Jahren die Sitzungs- und Besuchsfrequenz ziemlich regelmäßig und wöchentlich gewesen sein muß. Sowohl Fontane als auch Lazarus dürften dabei - sofern sie im Lande waren - relativ zuverlässige Besucher gewesen sein.

15 Drude, S. 197

16 FB1 42, S. 376

17 HF IV/3 Nr. 648

18 HF IV/3 Nr. 649

19 HF IV/4 Nr. 308

20 HF IV/5/II S. 834

21 Gerhard Friedrich, Fontanes preußische Welt, Herford 1988, S. 168

22 Gotthard Erler (Hg.), Theodor Fontane Tagebücher und Reisetagebücher, Berlin 1995 (TB1-1852, 1855-1858; TB2-1866-1882), TB2 S. 33

23 TB2 S. 103

24 HF IV/3 Nr. 275

25 HF IV/2 Nr. 475

26 HF IV/3 Nr. 124

27 HF IV/4 Nr. 2. Verbundenheit und das Gefühl, den beiden Freunden zu Dank verpflichtet zu sein, werden hier deutlich - aber auch Enttäuschung. Der Brief beginnt: „Eben habe ich einen Brief an Heyden geschrieben (denn die Absolvierung des Unangenehmen ist immer erstes Gebot).“ Das bezieht sich wohl auf von der Heydens Versuch, die Federzeichnungen für die von ihm gestalteten Tischkarten der Geburtstagstafel zu erklären, womit er im Gesellschaftstrubel aber nicht durchdringen konnte (HF IV/5/I S. 695). Warum Lazarus erwähnt wird, kann nicht festgestellt werden.

28 JB I S. XXXIV FN 81. Charlotte Jolles schreibt: „Das Wort ,Ambivalenz‘ ist fast zum Stichwort in der Fontane-Forschung geworden.“ Charlotte Jolles, Theodor Fontane, Stuttgart MCMLXXII

29 HF IV/1 Nr. 324. Der Brief ist vom Mai 1859, also aus der Zeit vor der Übersiedlung des Ehepaares Lazarus nach Bern. Hier schon zeigt sich eine Seite in der Persönlichkeit von Lazarus, die so gar nicht zu dem Gelehrten, dem Wissenschaftler paßt; schränken wir ein: zumindest nach den seinerzeit gültigen Wertmaßstäben.

30 Christa Schultze (Hg.), Theodor Fontanes Briefwechsel mit Wilhelm Wolfsohn, Berlin und Weimar 1988

31 HF III/4 S. 188. Zum frühen Verhältnis Fontanes zu seinem Vater siehe: Fontanes Brief an Bernhard von Lepel (HFIV/1 Nr. 38); Peter Goldammer, Fontanes Autobiographien (FB1 50 S. 120 ff.); Paul Irving Anderson, Der Ibykuskomplex Fontanes Verhältnis zu seinem Vater (FBL 50, S. 120)

32 Hans-Heinrich Reuter (Hg.), Theodor Fontane - Von Dreißig bis Achtzig, sein Leben in Briefen, München o. D., S. 50

33 IB II/2 S. 577

34 IB II/2 S. 577 FN 6

35 IB II/2 S. 590

36 IB II/2 S. 590

37 IB II/2 S. 585

38 IB II/2 Anhang

39 IB II/2 S. 639 FN 3. Lazarus wollte dem Künstler einen Auftrag für eine Plastik erteilen, die in seinem Häuserviertel in Leipzig aufgestellt werden sollte.

40 IB II/2 S. 566

41 IB II/2 S. 694

42 IB II/2 S. 601

43 IB II/1 S. XLVIII

44 IB II/2 S. 699

45 IB II/2 S. 708

46 IB II/2 S. 601

47 IB II/2 S. 708

48 FB1 38, S. 570 ff. Dazu paßt, daß Fritz Mauthner einmal von Fontane als dem „vorsichtigen Fontane“ spricht (FB1 39, S. 52)

49 HF III/4 S. 1037

50 IB II/2 S. 715

51 IB II/2 S. 791. Fontane schreibt statt Schönefeld immer „Schönfeld“.

52 HF IV/4 Nr. 630

53 HF IV/4 Nr. 722

54 HF IV/4 Nr. 697. Im Kommentarband heißt es zu dem Brief an Paul Heyse vom 7. Juli 1896: „Daraufhin s c h e i n t (Sperrung durch K. Eh) auch Fontane sich von Lazarus zurückgezogen zu haben.“ Auch, wenn der letzte Brief von Fontane an Lazarus, den er am 5. Januar 1897 geschrieben hat, wie es im Kommentar lautet: „... im Ton kein Zeichen der Abkühlung verrät“, so ist das nur ein Beweis für die Höflich- und Verbindlichkeit Fontanes. Der Brief an Friedländer ist doch ein ausreichender Beweis für die Endgültigkeit im Verhalten Fontanes.

55 Mit dem „kl. Kreis“ meinte Fontane die Freundeskreise „Rütli“ und „Ellora“, in denen sich zuerst neun und später bis zu siebzehn Freunde zusammenfanden. Ihre Namen und Lebensdaten sind zu finden in HF III/4 S. 1351.

56 M. Fleischer, Kommen Sie, Cohn. Fontane und die „Judenfrage“, Berlin, S. 179

57 Hans-Heinrich Reuter, Fontane, München 1968, Band 2, S. 749. Reuters Auseinandersetzung mit Fontanes Haltung zu diesem Punkt ist wohltuend von einer nicht einseitigen Behandlung des Themas gezeichnet, von dem Bemühen, dem Menschen und Künstler Fontane gerecht zu werden. Merkwürdig muß berühren, wenn Fleischer feststellt: „Wie sehr gerade Wolzogen sich auf der antisemitischen Linie Fontanes befand.“ (Fleischer, S. 291) Dem steht entgegen - Fleischer weist nicht daraufhin -, was Hans-Heinrich Reuter über Ernst v. Wolzogen schreibt: „Der zum bornierten Fanatiker gewordene Ernst von Wolzogen verhehlte kurz danach in seinen ,Erinnerungen‘ von 1922 nicht sein Befremden über Fontanes Indulgenz in der Rassenfrage.“ (Reuter, Fontane, S. 743)

58 Kenneth Attwood, Fontane und das Preußentum, Berlin MCMLXX, S. 223.

59 Vom 13. 9. bis 17. 9. 1998 fand in Potsdam das Internationale Symposium „Theodor Fontane - Am Ende des Jahrhunderts“ statt. Die Sektion V (es gab XV Sektionen bei 64 Referenten!) trug den Arbeitstitel „Fontane Politisch, Juden und Andere Deutsche“. Zu den Vorträgen kann hier im einzelnen nichts gesagt werden. Dem Autor, der am Symposium teilnahm und sich gegen die Einstufung Fontanes als Antisemiten wandte, fiel folgender Vorgang auf: Am Samstag, dem 19. September, es war das auf das Ende des Symposiums folgende Wochenende, erschien in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ in der Reihe „Frankfurter Anthologie“ eine von Marcel Reich-Ranicki verfaßte Interpretation des Fontane-Gedichtes „An meinem Fünfundsiebzigsten“. Wohltuend nahm man nach manchen Referaten zur Kenntnis: „In der Aufforderung ,Kommen Sie Cohn‘ vernehmen wir in knapper Formulierung seinen Dank, vielleicht seine Rührung.“ Die Interpretation ist ein Versuch, in abgewogener Weise dem Menschen in seiner Widersprüchlichkeit und dem Schrift steller gerecht zu werden. In der Fernsehsendung „Das Literarische Quartett“ am 30. Oktober 1998 nahm gegen deren Ende M. Reich-Ranicki auch Stellung zu dem aus Fontanes Briefen hergeleiteten Vorwurf des „Antisemitismus“. Er vertrat die Auffassung, daß man aus ihnen - es gäbe darin fürchterliche antisemitische Stellen - in dieser Hinsicht alles beweisen könne, wenn man nur die Passagen sich heraussuche, mit denen der „Antisemitismus“ bewiesen werden solle, wie es in den letzten Wochen geschehen sei. Welchen Vorgang Reich-Ranicki damit meinte, das hat er nicht präzisiert.

Übersehen aber werden soll nicht Peter Parets Aufsatz „Diskretion und noble Nüchternheit“, der in der FAZ am 24. Oktober 1998 veröffentlicht wurde. Sein Urteil über Fontane, „Denn er war sowohl ein Philosemit als auch ein Antisemit“, ist wohl als eine Entgegnung auf Reich-Ranickis Gedichtinterpretation anzusehen. Parets Urteil kann als Meinung zu Fontanes bekannter „ambivalenter Haltung“ betrachtet werden. Entscheidend sollte aber auch die Frage sein, wo, wann, wie, warum und wem gegenüber Fontane seine Haltung jeweils deutlich gemacht hat. Der Versuch einer solchen Differenzierung muß erlaubt sein.

60 Mitteilungen der Theodor Fontane Gesellschaft Nr. 15, Dezember 1998, S. 2/3. Über die Rede des Geehrten wird berichtet: „In schöner Eindringlichkeit plädierte er für aufmerksame Unterscheidung zwischen dem ,privaten‘ Fontane, der in seinen Briefen einmal dies, einmal das verriß oder feierte und steter Anlaß zu Irritation für Wissenschaft und Liebhaber wurde, und dem ,öffentlichen‘ Fontane, dessen Erzählwerk über all diesem Wechselspiel von Meinungen stehe. Er gestehe, so de Bruyn, daß die Freude über den späten Fontane nicht mehr ganz so ungeteilt sei wie in früheren Zeiten.“

61 HF IV/4 Nr. 16

62 Michael Fleischer, Kommen Sie, Cohn. Fontane und die Judenfrage, Berlin 1998. Die Einleitung des Buches zeichnet sich zwar durch einen kritischen Ton aus, ist aber von Objektivität geprägt. Das kann aber m. E. von vielen Stellen des Buches nicht gesagt werden. Allzuoft zieht der Verfasser Schlüsse, konstruiert er Zusammenhänge, für die er keine Beweise erbringt, sondern Vermutungen anstellt. Man kann nahezu den Eindruck gewinnen, mit einem fast inquisitorischen Bestreben solle Fontane als ein lebenslanger Antisemit gezeichnet werden.

In den Mitteilungen der Theodor Fontane Gesellschaft Nr. 15, Dez. 1998, S. 35/36, ist eine kurze Besprechung des Buches publiziert. „Die Studie k a n n (Sperrung von K. Eh) einen wichtigen Beitrag dazu leisten, ein heikles Thema der Fontane-Rezeption s a c h l i c h (Sperrung von K. Eh) zu beleuchten und Fontanes Umgang mit antisemitischen Mustern und Sterotypen vor dem politischen und kulturellen Hintergrund des 19. Jahrhunderts angemessener zu verstehen.“

63 HF IV/3 Nr. 16

64 Die in der „Vossischen Zeitung“ vom 29. April 1879 erschienene Rezension ist abgedruckt in Band XXII/Teilband 2, S. 689 der Nymphenburger Ausgabe (1964).

65 Nahida Lazarus, geb. Sturmhöfel (1849-1927, lt. Ingrid Belke, nach einem von Tänzer angefertigten Stammbaum ist das Todesjahr 1928, so auch Drude a. a. O., S. 197) war in erster Ehe mit dem Theaterkritiker Dr. Max Remy verheiratet. (Der war als Kollege Fontanes bei der „Vossin“ für die privaten Bühnen zuständig. Er ist 1881 gestorben.) Im Jahr 1895 schloß sie mit Moritz Lazarus als dessen zweite Frau die Ehe, nachdem sie zur jüdischen Religion übergetreten war. Sie war als Journalistin und Schriftstellerin tätig. Neben den „Erinnerungen“ wurden auf ihre Initiative und unter ihrer Mitarbeit auch Werke von Lazarus im Nachlaß herausgegeben. Nahida schrieb Dramen, Romane und Erzählungen, auch eine Autobiographie, „Ich suchte Dich“ (1898).

66 IB I S. 29 FN 29

67 Reuter, Fontane Bd. 2, S. 761

68 Kurt Schreinert (Hg.), Theodor Fontane, Briefe an Gg. Friedländer, Heidelberg o. D., S.389

69 Fleischer a. a. O., S. 156/157 und S. 179. Er erwähnt, bei Fontane hätten sich wegen der Brüskierung, die dieser durch Hehn erfahren mußte, Vorbehalte „herausgebildet“, „weil Lazarus a n g e b l i c h (Sperrung durch K. Eh) in ehrenrührige Geldgeschäfte verstrickt war. So soll er Geld verspekuliert haben, das ihm von P. Heyse anvertraut worden war.“ Diese Formulierungen lassen den Vorgang als nicht geklärt erscheinen bzw. legen nahe, daß Lazarus gar nicht schuldhaft gehandelt habe. Zwanzig Seiten weiter kommt Fleischer noch einmal auf die Angelegenheit zurück, und wieder stellt er sie nicht exakt dar. Eine Investition, die Lazarus mit ihm anvertrauten Geldern finanzierte, habe sich „unglücklich entwickelt“. Weiter heißt es: „Paul Heyse war mit einem bedeutenden Betrag engagiert und mußte um sein Geld fürchten.“ Es wurde schon aufgezeigt, daß das Ganze nach den Worten von Gustav Getz eine überaus gewagte Spekulation war. Paul Heyse war nicht „engagiert“, sondern Lazarus hatte, wie dargelegt, ohne Heyses Wissen die Gelder so risikoreich angelegt. Lazarus ließ den ahnungslosen Heyse Wertpapiere indossieren, ohne ihn über den Sinn der Transaktion und die Investition aufzuklären. Eindeutig ist, daß Lazarus das ihm durch Gewährung eines „plein pouvoir“ bewiesene Vertrauen mißbraucht hat. Wahrscheinlich ist, daß Lazarus das Vermögen seines Freundes Oberst Rese nicht nur, wie Fleischer bemerkt, „in Gefahr gebracht hat“, sondern daß das Vermögen verlorengegangen ist. Gar nicht erwähnt Fleischer, daß Lazarus auch das kleine Vermögen der Witwe Kurz verspekuliert hat, ebenso wie Mündelgelder. Dieses Ausmaß der Affäre muß man kennen, um Fontanes Verhalten zu verstehen.

70 Lazarus, Erinnerungen, S. 536

71 HF IV/2 Nr. 267

72 Die Bemerkungen in der Hanser-Ausgabe zu Fontanes Brief vom 1. Nov. 1870 zeigen, wie vielfältig diese waren.

73 HF IV/5/II S. 346. Emilie schreibt an Rudolf von Decker: „Ich habe sofort davon Anzeige gemacht und erfahre, daß unser großer Bismarck selbst sowie General v. Werder (durch Ihre Güte) sich persönlich für die Befreiung meines Mannes verwandt hätten.“

74 HF III/4 S. 554

75 Lazarus, Erinnerungen, S. 554

76 Lazarus, Erinnerungen, S. 555/556

77 Lazarus, Erinnerungen, S. 384

78 Fontane, Tagebücher Bd. 2, S. 251

79 HF IV/4 Nr. 51

80 Lazarus, Erinnerungen, S. 384. Dazu siehe auch: Luise Berg-Ehlers und Gotthard Erler, Ich bin nicht für halbe Portionen. Sicher, „Fontane war ein Gourmet und ein Gourmand, beides, scheint es, aus Passion“. Fontane suchte gewiß nicht gezielt „schrankenlose Gastfreundschaft“. Bei den Erkundungsfahrten für die Wanderungen durch die Mark Brandenburg mußte er sie in Adelssitzen, in Pfarrhäusern und in Lehrerwohnungen in Anspruch nehmen, „im Interesse der Sache“. Oft wurde ihm das sauer genug. Er wurde auch häufig zu Gesellschaften geladen, wo er immer ein gerngesehner Gast war, durch den - er schrieb es einmal so an seine Frau - „Leben in die Bude kommt“.

81 HF IV/4 Nr. 51

82 HF IV/4 NR. 51 Philipp Wackernagel, Germanist und Mineraloge, war einer von Fontanes Lehrern in der Berliner Gewerbeschule, die dieser vom Herbst 1833 bis Ostern 1836 besuchte, siehe dazu: Sabine Schilfert, Fontane als Zögling der Berliner Gewerbeschule, FB1 42, S. 415 ff. Bei dem Gedicht Rückerts handelt es sich um die 1862 erschienenen „Verwandlungen des Abu Said oder die Makamen des Heriri“.

83 Lazarus, Erinnerungen, S. 384

84 Lazarus, Erinnerungen, S. 384 FN

85 Peter Goldammer, Fontanes Autobiographien, FB1 32, S. 674 ff.

86 Frederick Betz und Jörg Thunecke (Hg.), Die Briefe Theodor Fontanes an Fritz Mauthner, Fb1 38, S. 507 ff. und FB1 39, S. 47 ff.

87 HF IV/4 Nr. 388. Vom Kaiser wurde Lazarus zu seinem 70. Geburtstag zum „Geheimen Regierungsrat“ ernannt. Sowohl die Universität Bern als auch das Hebrew Union College in Cincinnati verliehen ihm die Ehrendoktorwürde, Drude a. a. O., S. 198

88 G. Radbruch, Gedanken und Gestalten, neue Auflage 1954, S. 160

89 Hans-Heinrich Reuter, Von Dreißig bis Achtzig, S. 10 und S. 7


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
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