Eine Rezension von Volker Strebel


Huhu? Nadinka!

Ossip Mandelstam: Du bist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David
Herausgegeben und aus dem Russischen übertragen von Ralph Dutli.

Ammann Verlag, Zürich 1999, 491 S.

 

Ist bereits die vorbildliche Herausgabe des Gesamtwerkes von Ossip Mandelstam lobenswert, so gerät die vorliegende Ausgabe der gesammelten Briefe von 1907-1938 zum editorischen Ereignis. Ossip Mandelstam ist eines der bekanntesten und zugleich geheimnisumwittertsten Opfer stalinistischer Verfolgung. Seine Witwe Nadeschda Mandelstam hatte mit der Veröffentlichung ihrer Memoiren Das Jahrhundert der Wölfe im Jahr 1970 entscheidend dazu beigetragen, daß das Interesse an Ossip Mandelstams literarischem Werk weltweit wieder wachgerufen wurde.

Doch zuvor wechselten sich Höhen und Tiefen ab, womöglich getreu nach Stalins Befehl „Isolieren, aber erhalten“. 1927 diktiert Ossip seiner Frau Nadja einen Brief an seinen Vater Alexander: „Eben haben wir die Moskauer Tage aufleben lassen, als ob wir nie weggefahren wären. Wir haben alle unsere kauzigen Bekannten gesehen. Sind begeistert Autobus und Taxi gefahren. Haben vom Papier weg Kaviar in einer Mietskutsche gegessen und die ,Hochstapler‘ nachgeahmt. Wir bitten Dich inständig, antworte unverzüglich. Falls Du Dich nicht hast einleben können oder gesundheitliche Probleme hast, schick alles zum Teufel und komm zu uns nach Detskoje. Wir haben dort ein solides Haus mit Badewanne, Dienstmädchen und Telephon.“

Ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht! Die meiste Zeit geht es um Geld, das irgendwo aufgetrieben werden muß, um nicht ausbezahlte Vorschüsse und Brennholz, und vor allem um die Sehnsucht der Eheleute, einander wiedersehen zu können. Es handelt sich bei den Briefen von Ossip an Nadeschda um die wohl ungewöhnlichsten und eindringlichsten Liebesbriefe der Weltliteratur. Die Anredeformen wechseln bunt, und sich selbst bezeichnet Ossip Mandelstam unter anderem als „Njanja“ (Kindermädchen): „Deine Njanja fährt schon zu Dir. Ich küsse Dein armes kleines Photo. Huhu? Nadik!“ Ein Leben am Rande des Kraters. Unter widrigsten Umständen entstanden, dokumentieren sie Bedingungen stalinistischer Bedrängung. Schritt für Schritt, Jahr um Jahr wird hier einer zur Unperson getrieben, und es ist eine Frage der Folgerichtigkeit, daß solch eine Figur verschwindet. Ossip Mandelstams Leben endete am 27. Dezember 1938 in einem Durchgangslager in der Nähe bei Wladiwostok im 47sten Lebensjahr. Die genaueren Umstände wurden in der „Iswestija“-Ausgabe vom 29. Mai 1992 bekanntgegeben!

Mandelstam stand bei all den Ismen, welche Russland zu Beginn dieses Jahrhunderts hervorbrachte und zugleich bedrängten, den Akmeisten nahe. Modernistisch war Mandelstams Dichtung insofern, als er mit seiner Rezeption der Klassik souverän verfuhr. Nicht als Programm, wohl aber als Material wußte er dafür Verwendung. Mandelstam gebraucht in seinen theoretischen Schriften den Begriff der „synthetischen Dichtung“, womit er den platten Futurismen mit ihren mechanischen Provokationen eine Absage erteilt. Geschichte ist nicht als ein lediglicher horizontaler Prozeß zu verstehen, sondern als eine archäologische Schichtung, welche der Dichter wie ein Pflüger mit seinem Wortinstrument in immer tiefere Schichten aufbricht. Nikolai Gumilov zitiert zustimmend Mandelstam in seinen Briefen zur russischen Literatur (1923): „Keine Übertreibungen, keine breiten Kommentare, kein himmelhohes Begreifen - ich wollte das alles nicht benutzen, und die Welt hat dadurch ihre schöne Kompliziertheit gerade eben nicht verloren und ist auch nicht oberflächlich geworden.“

In seiner Jugend genoß Mandelstam seine Studienaufenthalte in Paris und Heidelberg. Ein intensiver gedanklicher Austausch mit der französischen Literatur war nie abgerissen und prägte sein Schaffen in einer Weise, welche die Konstanzer Slawistin Renate Lachmann von einer „Kultursumme“ sprechen ließ.

Es muß sonderbar für einen derart gebildeten Menschen gewesen sein, den allgemeinen Niedergang seiner Heimat mit ansehen zu müssen. Mandelstams unbekümmerte Zuversicht scheint dem Zutrauen zur russischen Sprache zu entwachsen, den Urgründen, welche diese Sprache schafft und hervorbringt. Seine Verbannung nach Woronesch, in die „Rabenstadt“, kommt einem Exil in die eigene Sprache gleich. Einer, der auf sich selbst zurückgeworfen ist. Und doch wird Mandelstams Dichtung durch diese Mischung gekennzeichnet: In der endlosen Weite des russischen Landmeers beruft sich einer auf die Ahnen der abendländischen Klassik und bewegt sich gleichzeitig im Schutze hellenistischer Propheten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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