Eine Rezension von Irene Knoll


„... wenn gar nichts mehr geht, trägt die Hoffnung Märchen im Gepäck“

Waldtraut Lewin: Tochter der Lüfte

Ravensburger Buchverlag, Ravensburg 2000, 222 S.

 

Ein utopischer Roman? Das sollte nicht wundern, hat Waldtraud Lewin ihr erzählerisches Talent doch in diversen Genres der Prosa variiert. In ihren großen historischen Romanen über die Sklavenhaltergesellschaft oder in Federico gab sie historischen Persönlichkeiten Fleisch und Blut und stellte sie mit ihren Konflikten und Entscheidungen in verwandtschaftliche Nähe zum Leser. Weit zurückliegende Zeiten und Gestalten offenbaren durch den Blick der Autorin gleichermaßen faszinierend ihre Andersartigkeit wie ihre Ähnlichkeiten mit Heutigem. Sowohl in Federico als auch in Die Ärztin von Lacros bestehen Frauen als Sachwalter von Vernunft und Humanität im Spiel der Großen um Macht, Besitz und Ruhm. In Tochter der Lüfte wird diese weibliche Erzählspur wieder aufgenommen. Waldtraud Lewin erzählt in ihrer Geschichte Gesellschaftliches auf märchenhafte, visionäre Weise. Tochter der Lüfte ist ein so schönes Stück Literatur, daß man sich scheut, mit den Instrumenten der Analyse auf Machart und Inhalte zu gucken, um den Zauber der Erzählung nicht zu zerstören. Dennoch wünscht man sich, dem Leser, welchen Geschlechts und Alters auch immer, Lewins Buch nahezubringen. Vielleicht, daß er im Kreuz der Handlungsfäden, denen die Erzählerin der Geschichte folgt, sich selbst entdeckt.

„... wenn gar nichts mehr geht, trägt die Hoffnung Märchen im Gepäck“, heißt es im siebenten Hauptstück des Buches. Es ist die Stimme der Erzählerin, und das Hauptthema dieses Abschnitts ist „Die Heilung“, die Heilung von einer grassierenden Seuche, die schon unzählige Opfer gefordert hat. Die Heilerin ist Anna Amanda, die „Tochter der Lüfte“. Mit leichtem Gepäck, dem Wissen, das sie einem Jahrhundert weit nach ihrer Zeit entlehnt hat, ist sie zurückgekommen in ihre Stadt.

Das geschieht gegen Schluß des Buches, nachdem die Stadt zwei Jahrzehnte wütender Kriege zwischen den großen Adelsgeschlechtern, der Blume und dem Greif, durchlebt hat und am Ende ihrer Kräfte angekommen ist. Sirmio Cosanza, der Greif, scheint gesiegt zu haben. Er ist in den Palazzo seiner Gegnerin, Mafalda Fiore, eingezogen. Sie wird im Keller ihres Hauses gefangengehalten, verwundet, krank, schwach, denn der Baron zögert mit ihrer Hinrichtung. Er wartet auf den Moment, da er auch Mafaldas Tochter ergreifen kann, Anna Amanda, um sie gemeinsam zu verbrennen, die Hexen.

Die Stadt liegt wohl in der Toskana, und die Zeit, in der sich Waldtraud Lewins Geschichte zuträgt, mag das ausgehende Mittelalter, der Beginn des Handelskapitals in Italien, sein. Vor allem aber bedeutet sie eine Schnittstelle in der Geschichte, von der aus die Autorin die wechselnden Geschicke der Stadt und ihrer Heldin als Gleichnis für die geschichtliche Situation der Menschheit zu s e h e n vermag.

Waldtraud Lewin erzählt ihre Geschichte mit der Sicht auf die Frauen. Als Mafalda Fiore die Herausforderung zum Kampf annimmt, befindet sie sich noch im Bündnis mit den Kräften der Natur, der alten Frauenmacht, wie gesagt wird, mit den Energien des Blitzes, der auch ihre Tochter gezeugt hat. Um sie sind die zauberkräftigen Schwestern Pippina und Concetta sowie ihre Milchschwester Caterina und Amanda, die halbwüchsig entdeckt, daß sie zu fliegen vermag und Kontakte zu fremden Wesen aufnehmen kann. Auf der Gegenseite stehen verbündet die Männer, die sie abgewiesen hat. Die gekränkten Freier kämpfen gegen die Frau, sie kämpfen um die Macht und um die Mehrung ihres Reichtums. Mafalda erscheint als Verfechterin der Gerechtigkeit in der Stadt, als Wahrerin überlieferter Rechte, die die Armen vor Übergriffen des Adels schützen.

Das Augenmerk der Erzählerin liegt auf den Veränderungen, die in den Frauen vor sich gehen. Mit den Entscheidungskonflikten, die die Kriegssituation schafft, differenzieren sich ihre Motive, ihr Denken und Fühlen, ihre Sensibilität für die eigene Verantwortung. Eindringliche Bilder und Situationen gibt die Fabel für ihren Weg der Irrtümer, der Gefahren und der Erkenntnisse. Die Einigkeit der Frauen zerfällt in dem Maße, wie Mafalda die Treuen um sich für ihre Zwecke instrumentalisiert, auch die Tochter, die sie ungeachtet der Gefahren für sie immer wieder ausschickt, in den fremden Welten wirksame neue Waffen gegen den Feind zu erkunden. Die klugen Schwestern erkennen ihre seelischen Deformationen und warnen. Das ursprüngliche Motiv Mafaldas, Frieden schaffen zu wollen, verwandelt sich mehr und mehr in Machtbesessenheit. Auch äußere Zeichen warnen, ein Sinnbild für das zunehmend irrationale Vorgehen Mafalda ist der Verlust ihrer Kraftquelle aus den Blitzen. So erzählt Lewins Fabel spannend und authentisch ein gleichermaßen wundersames wie realistisches Geschehen. Vier Intermezzi, die aus den Annalen der Stadt zitiert werden, simulieren den Charakter einer Chronik. Sie resümiert die Kämpfe und Niederlagen auf beiden Seiten, das Elend und die Wankelmütigkeit des Volks, die Intrigen und Ränke der Kirche gegen die heidnischen Weiber, schließlich Sirmios Sieg über Mafalda und den Ausbruch der Seuche.

Lewin erzählt schön und genau. Sie wird für ihre Kunst, profilierte Gestalten zu schaffen, verehrt. Die Erzählerin steht gewissermaßen an der Seite der Frauen, ist eine der ihren, eingenommen für sie, aber nicht voreingenommen. Der Ton der Erzählerin schafft die Atmosphäre, in der sich Lokales ins Globale weitet, Zeitliches in Dauer. „Die Dauer“ nennt Anna Amanda ihre Ausflugsorte, von denen sie erschöpft und kaum erinnerungsfähig zurückkehrt.

„... wenn gar nichts mehr geht, trägt die Hoffnung Märchen im Gepäck.“ Anna Amanda ist die Hoffnungsträgerin der Erzählerin, ein zartes Wesen, aber klug und bestimmt, die aus den bösen Erfahrungen gelernt hat. Als sie zurückkehrt, hat sie sich ihrer Erinnerungen versichert und ihrer Mittel. Sie ist erwachsen geworden: Sie will, daß der unselige Kreislauf von Kämpfen aufhört, und bewirkt die Versöhnung der alten Rivalen.

Die Logik der Erzählung läßt den friedlichen Schluß nicht zu. Als Anna Amanda erneut unter den Druck der alten Machtideen gerät, verläßt sie mit ihrem Sohn die Stadt, und es sieht so aus, als habe Natur sie in ihren Schutz genommen. Soviel Hoffnung, sowenig Hoffnung auf die Versöhnung des Menschen mit der Erde.

Im Epilog wendet sich die Erzählerin in eigener Person an den Leser. „Noch ist alles offen“, sagt sie. „Noch sind wir entkommen. Noch können wir aufsteigen oder sinken.“ Sie ähnelt ein wenig der Hüterin der Stadt in ihrer Geschichte, die Mafalda zu Wachheit und Selbstbesinnung ermahnt hat.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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