Eine Rezension von Christel Berger


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Ein Leben im Versteck

 

Rita Kuczynski: Mauerblume
Ein Leben auf der Grenze.

Claassen Verlag, München 1999, 317 S.

 

 

Kuczynski - nicht allzu viele identifizieren mit diesem Namen eine Schriftstellerin mit Vornamen Rita, denn ihre bisher erschienenen Bücher Nächte mit Hegel (1984), Wenn ich kein Vöglein wär (1991, auch verfilmt) und Staccato (1997) haben wohl kaum Massenpublikum erreicht. Der Name wird vielmehr fast immer mit dem des nicht nur in der DDR legendären Wirtschaftswissenschaftlers Professor Jürgen Kuczynski und dessen Familie in Beziehung gebracht, und wie bei allem Klatsch wird sofort nach dem Verwandtschaftsgrad gefragt. Antwort: Es ist die Schwiegertochter. Aha!

Persönlich kennengelernt habe ich sie, als sie auf der Suche nach einem Verlag für ein Manuskript war, in dem sie - ich fand: märchenhaft, poetisch überhöht - nach der Wende über diese Familie Kuczynski und deren Freunde geschrieben hatte. Mir hatte dieser Text- mit Anklängen modernen lateinamerikanischen Schreibens neben deutscher Nüchternheit - sehr gut gefallen. Einen Verlag hatte Rita Kuczynski damals nicht gefunden.

Mit Mauerblume hat sie einen zweiten Versuch gestartet. Nun erzählt sie ihr Leben scheinbar direkt, und die ersten Verkaufszahlen sind vielversprechend. Wer „Enthüllungsliteratur“ erwartet, wird auf seine Kosten kommen. Aber Rita Kuczynski will und tut mehr, sie hat ihr Leben zum Roman gemacht, und sie fragt anhand ihrer Biographie nach der Möglichkeit von Identität, die in ihrem Falle nur als schizophrene Identität existieren konnte. Also ein poetisch und philosophisch anspruchsvolles Konzept.

Ob ihr Bild von sich stimmt, mögen ihre nahen Bekannten entscheiden. Sie hat auf alle Fälle Dichtung und Wahrheit verwoben, denn die im Klappentext erwähnte „Meisterschülerschaft im Fach Klavier am Konservatorium in Leningrad“ fehlt im Buch ganz, und das mit gutem Grund. Sie beschreibt ein kindliches Ich, das in den fünfziger Jahren „ein Leben auf der Grenze“ führte - dank einer in allen Sektoren verstreuten Verwandtschaft, die sich auch politisch untereinander nicht grün war. Das Mädchen fährt in der S-Bahn Berliner Ring von einem Sektor in den anderen, wechselt, wenn sie zur West-Oma geht, heimlich die Söckchen, probiert es aus, hüben wie drüben unerkannt als irgendwohin zugehörig zu leben. Ihre Rettung aber ist das Klavierspiel, die Musik in ihr. Damit entflieht sie den alltäglichen Querelen, auch dem Zwang, irgendwohin zu gehören. Die Töne - die Melodie in ihr - machen sie immun für das Irdische. Bis sie, die die meiste Zeit bei der gutbürgerlichen West-Oma aufwuchs, im Sommer 1961 während eines Ferienaufenthalts bei den Ost-Eltern eingemauert wird und bleiben muß. Anfangs helfen das Klavierspielen und die Melodie in ihr noch, bis, ja bis sie sich bewußtlos spielt, denn ihre Musik muß immer mehr betäuben, „überspielen“. Sie wacht in einer Klinik auf - und die Musik in ihr ist weg.

Damit beginnt ihr Leben in der DDR, in die sie nie wollte, in der sie nie heimisch wurde, in der sie mehr als 25 Jahre leben wird. Und es endet die poetische Überhöhung des Textes: Was sie in dieser DDR erlebt, wird direkt, wenn auch komprimiert, „unverblümt“ erzählt. Zuerst schlägt sie sich nach dem Klinikaufenthalt mit Nachtschichten im Glühlampenwerk durch, eine Lehre oder eine feste Anstellung mißlingen. Sie heiratet zweimal und landet schließlich bei der Philosophie, die sie erst in Leipzig und dann in Berlin studiert. Kinder von DDR-Prominenz, meist mit Lebensläufen, in denen Emigration oder antifaschistischer Widerstandskampf vorkam, sind ihre Kommilitonen und schließlich Freunde, obwohl sie deren Traum vom besseren Sozialismus und einer reformierten DDR nicht teilt. Sie übt sich - wie in der Kindheit - im Verstecken. Die Nische Philosophie ist ihr erstes Versteck, die Studiengruppe das Versteck im Versteck, die Freundschaft das Versteck im Versteck im Versteck ... Ihre Weltsicht ist fatalistisch: Während die Freunde davon überzeugt sind, daß die Welt (von ihnen) veränderbar ist, glaubt sie nicht daran, irgend etwas am Weltenlauf bewirken zu können, und wird zur Hegel-Spezialistin und nach langem Anlauf zur SED-Genossin. Emanuel - so nennt sie den Sohn Jürgen Kuczynskis - wird ihre große Liebe. Sie heiraten, ohne daß sie weiß, in welche Familie sie geraten ist. Erst das freitägliche Essen offenbart ihr die eigenartige Mischung von weltoffener Bürgerlichkeit, jüdischem Geist und festem Glauben an die DDR. Immerhin 15 Jahre bleibt sie Familienmitglied mit den Privilegien dieser Schicht, und erst die Wende stellt sie, die inzwischen Schriftstellerin geworden ist, vor neue Entscheidungen. Wieder erfährt sie sich als Einzelkämpferin, die nicht mit der Masse oder der Mehrheit ist. Aber die so lange vermißte Melodie stellt sich wieder ein.

Zweifellos ein Lebenslauf der besonderen Art. Als Rezensentin steht es mir nicht zu, an der Wahrhaftigkeit ihrer Darstellung zu zweifeln. Ich kann mir vorstellen, daß manche ihrer früheren Gefährten das Buch als Verrat und die darin enthaltene Wertung als „wendehälsisch“ empfinden. Auf alle Fälle gelingt Rita Kuczynski eine eindringliche Gestaltung, nicht ohne philosophische Finesse. Was das Buch auszeichnet, ist die treffende Beschreibung ihrer Umgebung - etwa der Prominentenkinder und auch die Atmosphäre und Riten in der Familie Kuczynski. Während sie ihre Sympathie für verschiedene Personen dieses Umkreises begründet, fällt dennoch ihr Urteil über die mißliche Rolle der „antifaschistischen Autoritäten“ und auch der Schriftsteller in der DDR kompromißlos aus. Auch wenn ich nicht alle ihre Ansichten teile und manches Zeitgeist-Klischee bei einer solchen Einzel-Denkerin und -Kämpferin bedaure, finde ich die Urteile konsequent und geschliffen-klar formuliert. Mir imponiert, wie sie komprimiert und dennoch detailgenau Zustände beschreibt und bewertet, wie sie „ein Leben auf der Grenze“ auch sprachlich im Grenzbereich zwischen Roman und Bericht, Fiktion und Realität bewältigt, ja, eine solche Sprache erst findet. Die letzte Antwort in der Musik oder aber in Gott gefunden zu haben und damit einen Frieden mit d(ies)er Welt zu machen ist hoffentlich nicht ihr letztes Wort.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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