Eine Rezension von Bernd Heimberger


Stunde der Seifenblasen?

Thomas Kraft (Hrsg.): aufgerissen
Zur Literatur der 90er.

Piper Verlag, München 2000, 198 S.

 

Niemand zelebriert seine Seifenblasen so feierlich wie das Feuilleton. Ein Versuch, schillerndem Schein dauerhaftes Sein zu verleihen. Was aber bleibt, sobald alle Ahs und Ohs verstummt sind? Die Erinnerung an zerplatzte Seifenblasen? Am Himmel der deutschen Literatur der neunziger Jahre schillerte es schön. Knapp über die vielbeschwatzte Schwelle, wird „die Literatur eines Jahrzehnts auf den Punkt“ gebracht. Ja, ja, immer ordentlich auf den Punkt! Der derart spitz ist, daß sich die meisten Seifenblasen an ihm zu Tode stoßen?

Theo Elm, Herausgeber der Reclam-Publikation Lyrik der neunziger Jahre, hält auf Linie statt auf Punkt und schürt keinen Generationskonflikt. In seiner Auswahl haben die Altgedienten ihren Platz vor den Jungen. Über sämtliche Rangordnungen setzt sich eine Broschüre hinweg, die Neue deutsche Literatur bei Aufbau vorstellt. Dichtung ist nicht das, womit sich der Verlag herumschlägt: „Aufbau“. Auch-Lyriker wie Tanja Dückers und Mario Wirz läßt Elm nicht rein in die Reihen der repräsentativen Lyriker der Neunziger. Wo es wirklich ausgewiesen hart zur Sache geht, in dem von Thomas Kraft herausgebrachten Essayband aufgerissen. Zur Literatur der 90er, taucht keines der auch schon in die Jahre gekommenen Aufbau-Zieh-Kinder auf. Der Kraftakt der von Kraft angeheuerten Publizisten gipfelt darin, Gipfel der deutschsprachigen Literatur der Neunziger zu erklimmen. Übereinstimmung gibt’s auf kleinster Ebene. Auf drei Dichter konnten sich Elm und Kraft einigen. Das sind Marcel Beyer (Original West), Durs Grünbein (Original Ost), Raoul Schrott (Original Österreich). Womit Dauer angedeutet ist?

Hin- und hergerissen zwischen dem hin- und hergerissenen Büchner-Preisträger Grünbein, konstatiert sein Porträtist Hellmut Böttiger, daß des Dichters „Stimme in den Orbit geschossen“ wurde. Und von wem auf die Erde zurückgeholt? Böttiger erläutert, warum und wie die „Aura“ um den Autor zu strahlen begann, zu dem er sich zweifelsfrei bekennt, indem er sagt: „Grünbein hat sich viele Voraussetzungen dafür geschaffen, weiterzusprechen ...“ Böttigers Aufsatz ist ein Grundmuster, dem die anderen Porträts ähnlich sind. Aufnahme fanden in dem Band Autoren, deren Aura in der Literatur vermeintlich soviel Leuchtkraft hat, daß ihr Schein über die Neunziger strahlt. Die Gewißheit ist nicht gering, daß die Stimmen der geweihten Schriftsteller auch künftig kräftige Stimmen sein werden. Ob’s allerdings ostdeutsche Autoren (Brussig, Schulze) leichter haben werden zu erzählen, weil sie unverkrampfter der verschwundenen Mangelwelt wie verschwenderischen Warenwelt gegenüberstehen, ist zu vermuten - aber auch ausgemacht? Nicht vermutet wird, daß Peter Weber (Original Schweiz), Feridum Zaimoglu (Original Türkei), Maxim Biller (Original Tschechien) möglicherweise die unverkrampftesten deutschsprachigen Autoren werden. Eh wir uns auf die Nachrücker wirklich einen Reim machen können, müssen sie wohl noch einige Bücher rüberreichen. Bis wir bemerken, daß der eine oder andere „Mann aber auch nur ein Irrer und ein Angeber“ ist, wie es kühn-keß über Helmut Krausser heißt? Die beiden Damen, Judith Hermann und Felicitas Hoppe, brauchen sich da nicht angesprochen zu fühlen. Mancher wird sicher gern manches zur Literatur der 90er hinzugeben wollen. Der Herausgeber ist so redlich, nicht jetzt schon die Literatur der Neunziger ins Referat zu nehmen. Zu groß die Angst vorm Verlust zu vieler Seifenblasen? Zu groß, zumal wenn man vom Feuilleton kommt, wie die Verfasser des Bandes, die gern mal über den Rand der Feuilletonseiten hinausschreiben?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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